Politik verkörpern statt Stellung beziehen
Das Beispiel feministischer Sozialistinnen im 19. Jahrhundert
Die politische Ideengeschichte ist fast ausschließlich von Männern bevölkert. In einem Standardwerk des Faches, dem fünfbändigen »Handbuch der politischen Ideen«1,sind von den rund 5000 im Index aufgeführten Personen nur rund 100 Frauen, also gerade mal zwei Prozent. Diese frappierende Abwesenheit lässt sich nicht einfach mit dem herkömmlichen wissenschaftlichen Androzentrismus erklären, denn sie übertrifft diejenige in anderen akademischen Fächern und Teilbereichen der Politikwissenschaft (etwa »internationale Beziehungen« oder »politische Institutionen«) bei weitem. Sie lässt sich auch nicht als politisches Desinteresse deuten, denn Frauen waren immer politisch aktiv, jedenfalls betrug ihr Anteil an sozialen Bewegungen und politischen Gruppen (sofern sie nicht an einer Teilnahme gehindert wurden) zu jeder Zeit weit mehr als zwei Prozent, was Dank der historischen Frauenforschung inzwischen gut dokumentiert ist. Die Abwesenheit der weiblichen Differenz betrifft also nicht einfach die Politik als solche, sondern speziell die Geschichte der politischen Ideen.
Durch diese politische Ideengeschichte zieht sich wie ein roter Faden ein Konflikt, nämlich der »Konflikt der Söhne mit den Vätern, die sich in Todesgefahr begeben, um die Beute der Wahrheit einzufangen«, wie es die italienische Philosophin Wanda Tommasi formuliert.2Auf Parmenides folgt Platon, auf Platon Aristoteles und so weiter bis heute, wobei jede »Aufhebung« der alten Ideen gleichzeitig die Konservierung des väterlichen Andenkens bedeutete. Tommasi und andere Autorinnen der weiblichen philosophischen Gemeinschaft Diotima entdecken darin ein männliches Bedürfnis nach Sichtbarkeit und Eindeutigkeit.3Sie sind deshalb der Ansicht, dass es beim Nachdenken über die Abwesenheit der Frauen aus der politischen Ideengeschichte nicht einfach um die Frage nach ihrem Ausschluss (und entsprechend als Gegenbewegung: um ihren Einschluss) geht. Sie stellen vielmehr eine neue Relativität, eine neue Art der Beziehung fest zwischen einer »Politik der Frauen« und dem, was in männlicher Kultur »Politik« heißt – eine Relativität, »die die Abwesenheit in ein Anderswo-Sein verwandelt hat, und die Distanz vom Zentrum in eine Nähe zu etwas Anderem.«4Anders gefragt: Wenn die Frauen einerseits politisch aktiv und interessiert waren, andererseits aber in dem männlichen ideengeschichtlichen Diskurs so auffällig fehlen – was taten sie stattdessen? An welchen Orten hielten sie sich auf, wenn nicht dort, wo über richtig und falsch einer politischen Strategie gestritten wurde? Und: Ist es dort, wo sie sind, nicht vielleicht interessanter?
Ich möchte dies am Beispiel der sozialen Bewegungen in der Mitte des 19. Jahrhunderts erläutern, genauer am Beispiel der Ersten Internationale , dem legendären Dachverband der europäischen Arbeiterbewegung in den Jahren 1864 bis 1872.5Die Quellenlage zur Internationale ist außergewöhnlich gut, fast alle ihre Protokolle und Beschlüsse sind editiert, und es gibt eine riesige Fülle von Sekundärliteratur. Auch Aktivitäten von Frauen sind also relativ gut belegt, es finden sich in den Quellen zahlreiche Spuren von Frauen, die in der Internationaleaktiv waren: Da ist zum Beispiel Virginie Barbet in Lyon, die eine sozialdemokratische Frauengruppe gründete, Artikel für sozialistische Zeitungen schrieb und im Briefwechsel mit führenden Anarchisten stand. Oder die junge Russin Elisabeth Dmitrieff, die in Genf eine Sektion der Internationale gründete, die nach London reiste, um Karl Marx kennen zu lernen, und die in der legendären Pariser Kommune (1871) einen großen Frauenverband gründete. Ebenfalls ein führendes Mitglied der Kommune war die französische Schriftstellerin und Feministin André Léo, die mit ihrem Eintritt in die Internationale für Aufsehen und Verwunderung sorgte. Und da ist Victoria Woodhull, eine US-amerikanische Feministin und erste weibliche Präsidentschaftskandidatin, die in New York Sektionen der Internationale gründete und die schließlich wegen inhaltlicher Differenzen mit Marx aus der Internationale ausgeschlossen wurde.6
Wer waren diese Frauen? Welche politischen Ideen vertraten sie? Was ist ihr Beitrag zur Ideengeschichte des Sozialismus? Üblicherweise werden sie – soweit die Forschung überhaupt auf sie eingeht – einer der üblichen »Schulen« zugeordnet. Virginie Barbet sei eine Anarchistin, heißt es, weil sie Mitglied in einer von Michael Bakunin gegründeten anarchistischen Gruppe war. Elisabeth Dmitrieff sei Marxistin, weil sie Kontakt mit Karl Marx suchte und gegen die Anarchisten polemisierte. André Léo und Victoria Woodhull wiederum seien gar keine »richtigen« Sozialistinnen, weil sie zu oft gemeinsame Sache mit den Bürgerlichen, mit der »Bourgeoisie« machten. Diese Interpretationen stellen also die Frage nach der politischen Identität, nach Gleichheit und Ungleichheit, nach Zugehörigkeit und Ausschluss: X vertritt die gleichen Thesen wie Y, ist in derselben Gruppe aktiv wie Z. Es werden »Schulen« gebildet: X ist Anhängerin von Y, und Gegnerin von Z. Wenn Dmitrieff Marxistin ist, kann sie keine Anarchistin sein. Wenn Woodhull an der Börse spekuliert, dann kann sie keine Sozialistin sein, und so weiter. Auch Frauenforscherinnen folgten häufig diesem Schema. Sie meinten zum Beispiel, die Sozialistinnen ließen sich keine dieser Strömungen zuordnen, sondern bildeten eine eigene »Frauenfraktion«. Allerdings: Wenn André Léo nicht das Frauenwahlrecht zum Thema macht, kann sie auch keine »richtige« Feministin sein, und so weiter.
Im Fall der Ersten Internationalen scheint diese Herangehensweise sogar recht plausibel. In ermüdender Breite und Ausführlichkeit diskutierten die Sektionen, Ausschüsse und Kongresse nämlich genau solche Fragen: über einzelne Formulierungen in einzelnen Statuten, über die Frage, wer dazu gehört und wer nicht. Allein die Zulassung der Delegierten zum Beispiel nahm bei den in der Regel fünftägigen internationalen Kongressen oft zwei bis drei Tage (!) in Anspruch. Bei diesen Kongressen waren allerdings niemals Frauen anwesend. Auch mir, der Forscherin, gelang es bei der Lektüre der viele hundert Seiten langen Protokolle (die ich in der Hoffnung durcharbeitete, irgendwo könnte eine Frau erwähnt werden) nur mit größter Mühe, anwesend zu bleiben. Ob meine innere Abwesenheit von dem, was ich da las, etwas mit der realen Abwesenheit der Frauen, über die ich forschte, zu tun hatte? Anders gefragt: Gab es einen Zusammenhang zwischen der Abwesenheit der Frauen und dem Umstand, dass dort nichts Interessantes geschah?
Diese Quellen-Lektüre, die ich so mühsam fand, hat jedenfalls meine männlichen Forscherkollegen keineswegs gelangweilt: Mit ebensolcher Sorgfalt wie die Delegierten vor 140 Jahren ihre Tagesordnung abarbeiteten, editierten sie später deren Protokolle und produzierten eine enorme Menge von Sekundärliteratur, deren Sinn mir einfach nicht plausibel wurde. Zumal es durchaus interessante Themen gegeben hätte, für die sich jedoch weder die Akteure von damals noch ihre späteren Interpreten zu interessieren schienen. Zum Beispiel die ganz außerordentlichen Statuten einer anarchistischen Internationale-Sektion, die bereits 1869 »die Gleichmachung der Geschlechter und der Klassen« forderten – eine ganz und gar außergewöhnliche Formulierung, denn selbst die emanzipiertesten Frauenrechtlerinnen gingen im 19. Jahrhundert von einer ontologisch feststehenden Geschlechterdifferenz aus. Doch die Frage, was es denn nun mit der »Gleichmachung der Geschlechter« auf sich hatte, die interessierte offenbar nur mich.7
Und vielleicht die Frauen, über die ich forschte? Ich weiß es nicht. Jedenfalls ließen sie nicht viel von sich hören. Weder zu dieser Frage, noch zu den »großen Themen« in der Internationale. Ob es um die Gründung von Arbeiterparteien, das Gemeinschaftseigentum an Grund und Boden, das Privateigentum an Produktionsmitteln, das Erbrecht oder die Haltung zur »Polenfrage« ging – von wenigen Ausnahmen abgesehen8blieben die Positionen der Sozialistinnen merkwürdig blass. Auch wenn mir das zunächst schwer fiel, musste ich doch zugeben, dass ihre Texte eher dürftig waren. Ihre Aktionen erschienen wankelmütig, ihre Beiträge zur Debatte waren oft widersprüchlich oder gleich gar nicht vorhanden. Gemessen an den wortgewaltigen Manifesten und Pamphleten der Männer jedenfalls machten sie eine schlechte Figur. Die feministischen Sozialistinnen gelten deshalb auch im allgemeinen als unbedeutend. Die Sozialismus-Forscher halten sie für unbedeutend, weil sie keine wichtige Rolle in den zentralen politisch-theoretischen Kontroversen spielten, die die verschiedenen Lager (hier vor allem: Marxismus und Anarchismus) miteinander ausfochten. Und die Frauenforscherinnen halten sie für unbedeutend, weil sie keine klassischen frauenrechtlerischen Forderungen vertraten, wie zum Beispiel die nach dem Wahlrecht, und insofern nichts Wesentliches zur Geschichte des Feminismus beigetragen hätten.
An diesem Punkt meiner Forschungen war ich ziemlich ratlos. Ich hatte diese Frauen ausgesucht, weil ich etwas über den Beitrag der Frauen zur Ideengeschichte des Sozialismus herausfinden wollte, aber das Ergebnis war mager. Das einzig Interessante an ihnen schien die Tatsache als solche gewesen zu sein: dass sie als Feministinnen überhaupt in die Internationale eingetreten waren. Doch dann kam mir der Gedanke, dass vielleicht genau das die Antwort sein könnte. Dass die »Idee«, die hinter dem politischen Handeln dieser Frauen stand, nicht diese oder jene theoretische Überzeugung wäre, sondern die Tat als solche. Denn wieso eigentlich traten sie als Feministinnen überhaupt einem Männerverein mit antifeministischen Strömungen bei, wie es die Internationale schließlich war?
Selbstverständlich oder auch nur nahe liegend, so wurde mir jetzt erst klar, war so ein Entschluss nämlich keineswegs: Virginie Barbet zum Beispiel hatte 1868 an einem Kongress der »Friedens- und Freiheitsliga« in Bern teilgenommen, der dezidiert frauenfreundliche Beschlüsse fasste. Trotzdem verließ sie zusammen mit Bakunin und anderen die Friedensliga, um sich der Internationale anzuschließen. Warum? Elisabeth Dmitrieff kam aus dem russischen Nihilismus, einer Bewegung junger Männer und Frauen, die mit konventionellen Geschlechterrollen gebrochen hatten und mit freieren Lebensweisen experimentierten. Warum hat sie diese fortschrittlichen und innovativen Kreise verlassen, um sich einem drögen Altmännerverein anzuschließen? André Léo war schon lange eine führende Persönlichkeit der französischen Frauenbewegung. Warum setzte sie ihre Reputation aufs Spiel, um sich der Internationale anzuschließen – einer verbotenen und zudem in Frankreich noch besonders antifeministischen Gruppierung? Und Victoria Woodhull schließlich, ein Star der amerikanischen Frauenbewegung: Was wollte sie in einer Organisation, die in Amerika völlig unbedeutend war und nur eine Handvoll Mitglieder zählte? Mit ihrem Beitritt zur Internationale riskierten die Sozialistinnen den Vorwurf des Verrats an den Interessen der Frauen, denn die Mehrzahl der zeitgenössischen Feministinnen stand der organisierten Arbeiterbewegung äußerst kritisch gegenüber. Ihr Schritt führte bei allen vieren zu einem Konflikt mit ihren früheren Mitstreiterinnen, der vielfach dokumentiert ist. Es war offenbar ein symbolischer Akt, aber worin bestand seine Relevanz?
Um dies zu verstehen ist es nötig, einen Blick auf die zeitgenössischen Entwicklungen zu werfen. Noch in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts arbeiteten beide sozialen Bewegungen, die Arbeiter- und die Frauenbewegung, Hand in Hand. Die frühsozialistischen Bewegungen vertraten insgesamt einen breiten kulturellen Anspruch, ihre Forderungen und Experimente galten neuen Lebens- und Wirtschaftsformen, die Familie, Geschlechterbeziehungen und Produktionsverhältnisse gleichermaßen betrafen. Doch in der Mitte des Jahrhunderts drifteten beide Bewegungen auseinander. Die Frauenbewegung fokussierte ihre Anliegen zunehmend auf nur noch zwei Themen: die Schaffung besserer Erwerbsarbeitsmöglichkeiten und damit verbunden besserer Bildungschancen auf der einen, und formale Gleichberechtigung und politische Partizipation, darunter das Wahlrecht, auf der anderen Seite. Andere Anliegen traten in den Hintergrund, wie etwa die Frage der innerfamiliären Rollenaufteilung der Geschlechter, die Aufmerksamkeit für die von Frauen geleistete Haus- und Erziehungsarbeit, grundsätzliche Diskussionen über das Verhältnis der Geschlechter, die Frage weiblicher Sexualität, das Nachdenken über die Bedeutung von Freiheit und das Verhältnis von Individuum und Kollektiv oder die Entwicklung nicht-bürgerlicher Kultur und Lebensweisen. Eine ähnliche Entwicklung durchlief die Arbeiterbewegung: Auch hier ging es zunehmend um die Frage der politischen Mitbestimmung (Suche nach politischen Allianzen, Gründung von Arbeiterparteien) sowie um konkrete Gesetzesvorhaben zum Schutz der Arbeiter (zum Beispiel auch vor der Konkurrenz durch Frauenerwerbsarbeit).
Eine Feministin, die Mitglied in einem männerdominierten Arbeiterverband wie der Internationale wird, löst sich also aus einem unfruchtbaren Patt, in das die Arbeiterbewegung und die Frauenbewegung mit ihren Positionen geraten sind, und die sie nun wie Feinde aussehen lässt, obwohl sie doch eigentlich beide für eine bessere, gerechtere Gesellschaft eintreten sollten. Eine Feministin, die in die Internationale eintritt, äußert ihre Kritik an diesem unfruchtbaren Patt aber nicht, indem sie eine dritte Partei gründet, einen weiteren theoretischen Text schreibt, in dem sie darlegt, wie schädlich diese Frontstellung ist, sondern sie überwindet sie konkret. Sie geht hin zum vermeintlichen Gegner. Sie verlässt die Politik der Positionierungen und Standpunkte und tritt ein in eine Politik der Beziehungen. Indem sie so handelt, bringt sie ihre persönliche Differenz ins Spiel, und das führt unweigerlich zu Diskussionen: Was willst du hier? Wollen wir dich überhaupt bei uns haben? Und wenn, dürfen deine Lebensumstände und Erfahrungen (zum Beispiel als Frau) hier eine Rolle spielen? Der körperliche Akt als solcher, das Eintreten einer Frau aus Fleisch und Blut in die Organisation der »anderen«, schafft die Notwendigkeit einer Vermittlung, die anders niemals zustande kommen wäre. Und das zeigte Erfolge. Besonders deutlich wird das in Frankreich, wo die Internationale anfangs die Aufnahme von Frauen explizit verbot. Dagegen haben die französischen Sozialistinnen nicht theoretisch argumentiert, sondern sie haben mitgearbeitet, Verbündete gesucht, bis schließlich dieses Verbot von selbst obsolet geworden war. Insgesamt hat sich die Internationale nach einigen Jahren tendenziell von ihrer früheren, antifeministischen Position gelöst, gleichzeitig ist ein deutlicher Anstieg weiblicher Unterstützung für sozialistische Anliegen zu beobachten.
Unter dieser Perspektive gewinnen die Aktionen und Schriften der Sozialistinnen, die auf der Folie der theoretischen Positionierungen der klassischen Internationale-Fraktionen so unzusammenhängend und wankelmütig erscheinen, durchaus einen Sinn. Dass zum Beispiel Virginie Barbet die Forderung einer »Liga für Frauenemanzipation« nach höheren Löhnen für Textilarbeiterinnen scharf kritisiert, während sie noch kurz zuvor die Forderung streikender Textilarbeiterinnen nach Lohnerhöhung unterstützt hat: Aber was sich aus dem Mund bürgerlicher Feministinnen wie ein Arrangement mit dem kapitalistischen System anhört (denn es geht Barbet um eine grundlegende Neuorganisation der Arbeit, nicht um ein bisschen mehr Geld), kann im Rahmen eines Streiks durchaus sinnvoll sein. Ihr Handeln erscheint nur widersprüchlich, wenn man darin nach Positionen sucht, die sich in politische Kategorien einordnen lassen – will sie denn nun Lohnerhöhung oder nicht? Aber es gewinnt Sinn, wenn der Kontext in den Blick genommen wird, die Beziehungen, die sich hinter einer solchen Forderung verbergen: Im ersten Fall distanziert sie sich von einer abstrakten Forderung einer bürgerlichen Frauengruppe. Im zweiten Fall aber will sie die Arbeiterinnen, die sich im Streik befinden, unterstützen. Nicht der Gegenstand der Forderung selbst ist es, der zählt, sondern die Haltung in der konkreten Situation, den konkreten Menschen gegenüber, die dabei eine Rolle spielen. Ähnliche Beispiele lassen sich auch bei den anderen Sozialistinnen finden: André Léo etwa ist einmal gegen eine Beteiligung von Frauen am bewaffneten Kampf (in einer Situation, als dies aus militärischer Sicht keinen Sinn hat), dann ist sie wieder dafür (als die Pariser Kommune akut bedroht ist). Auch ihr geht es offenbar nicht um eine bestimmte Position, nicht ums Prinzip, sondern um die Frage, wie in einer gegeben Situation zu handeln ist.
Eine solche Politik erfordert die Abkehr von Prinzipien zugunsten einer Wertschätzung des Kontextes, zu einem Handeln in Beziehungen. Entsprechend konterkarierten die Sozialistinnen auch einen Topos ihrer Zeit, wonach Politik zunehmend als Streit zwischen Parteien verstanden wurde. Immer weniger ging es im politischen Diskurs nämlich um das allgemeine Gute, sondern man ging dazu über, gesellschaftliche Interessensgegensätze zu betonen (Männer gegen Frauen, Kapital gegen Arbeit). Auch viele Frauenrechtlerinnen dieser Jahre sahen die Ursache für das Übel der Frauen zunehmend in der Böswilligkeit der Männer. Die amerikanische Feministin Elisabeth Cady-Stanton etwa sprach von einem Kampf »male versus female«9, französische Feministinnen interpretierten den bürgerlichen Antifeminismus als feindlichen Akt von Männern gegen Frauen.10Dass die Sozialistinnen diese Sichtweise kritisierten, hat sie dem (von Zeitgenossinnen wie später von Forscherinnen vorgebrachten) Verdacht ausgesetzt, sie fürchteten eine konsequente Konfrontation mit dem männlichen Patriarchalismus, sie seien nicht wirklich »radikal« – ein merkwürdiger Vorwurf bei Frauen, die wie André Léo und Elisabeth Dmitrieff im politischen Kampf ihr Leben riskierten, die wie Virginie Barbet ins Exil gezwungen wurden oder wie Victoria Woodhull im Gefängnis landeten.
Nicht fehlende Radikalität war der Grund, warum sich die Sozialistinnen dem verführerischen Schema »Männer gegen Frauen« widersetzten, sondern vielmehr die Treue zu den Wurzeln der sozialen Bewegungen, die für das allgemeine Gute eingetreten waren. Denn eine ganz ähnliche Kontroverse hatten sie in der Arbeiterbewegung zu führen. Auch hier lief der Trend nämlich hin zur Betonung von Interessensgegensätzen, nur eben denen von Arbeit und Kapital, von Proletariat und Bourgeoisie. So war der einzige Punkt, an dem sich Marx und Bakunin, die größten Widersacher in der Internationale, einig waren, der, dass jede Zusammenarbeit mit republikanischen und liberalen Kräften strikt abzulehnen sei. In diesem Licht gewinnen dann auch die sozialistischen Vorwürfe gegen die »bürgerlichen« Verbindungen von André Léo und Victoria Woodhull neue Bedeutung: Wo die Feministinnen ihnen Männerbündelei vorwerfen, mokieren sich die Internationalisten über ihre Kooperationsversuche mit der Bourgeoisie.
Dies übersieht, dass die Sozialistinnen eine andere Weise des politischen Handelns entdeckten. Sie hatten verstanden, dass sich das Problem der Zersplitterung der sozialen Bewegungen nicht auf theoretische Weise lösen ließ.11Denn die antagonistischen Interessen von Männern und Frauen, Arbeitern und Unternehmern waren schließlich eine Tatsache, die Konflikte hatten ja einen realen Hintergrund. Die entsprechen Analysen der Sozialisten und Frauenrechtlerinnen waren ja keineswegs aus der Luft gegriffen: Viele männliche Arbeiter dieser Jahre übernahmen bürgerliche Antifeminismen, viele Frauenrechtlerinnen trugen zum Lohndumping bei, indem sie zu Streikbrecherinnen wurden oder bei Unternehmern mit niedrigeren Frauenlöhnen für Frauenarbeitsplätze warben. Sowenig sich in feministischen Kreisen die »soziale Frage« platzieren ließ, so schlecht ließ sich im sozialistischen Milieu die »Frauenfrage« integrieren. Die sozialistischen Feministinnen standen gewissermaßen mit je einem Bein auf auseinanderdriftenden Eisschollen: Einerseits die Arbeiterbewegung, andererseits die Frauenbewegung. Gegen diesen Trend vertraten die feministischen Sozialistinnen aber die Auffassung, dass die Grundlage von Politik nicht der kompromisshafte Ausgleich von Interessenskonflikten ist (für die Arbeiterbewegung: Gründung sozialdemokratischer Parteien, betriebliche Mitbestimmung, für die Frauenbewegung: Wahlrecht, Quoten und Förderprogramme), aber auch nicht der revolutionäre Kampf der beiden Lager (kommunistische Revolution, Krieg von Frauen gegen Männer) ist, sondern im Gegenteil: Die Geltendmachung der gemeinsamen Interessen aller Menschen.
Statt theoretische Positionen auszuarbeiten, verkörperten sie eine Politik der persönlichen Vermittlungsarbeit: Hingehen und mit den anderen reden. Beziehungen aufbauen, in Kontakt bleiben statt abstrakte Forderungen zu erheben und Grenzen zwischen Freund und Feind zu markieren. So wie Virginie Barbet bei einem großen Streik in Le Creuzot, wo sie die Frauen der streikenden Männer anführte: Ihr Vorgehen war es, mit den Soldaten zu reden, die den Streik niederschlagen sollten, und ihnen klar zu machen: Was ihr macht, ist falsch. Wir sind eure Nachbarinnen, eure Mütter, und dies sind eure Brüder, wir haben keine gegensätzlichen Interessen. Genau dieses politische Handeln – hingehen und mit den anderen reden – ermöglichte auch das erste realsozialistische Experiment Europas, die Pariser Kommune: Als am 18. März 1871 französische Soldaten die Waffen aus der Stadt abtransportieren sollten, um sie den preußischen Belagerern auszuhändigen, gingen die Frauen hin und redeten mit ihnen. Sagten ihnen, dass sie die Waffen brauchten, um sich gegen die Angreifer zu verteidigen und luden die jungen Männer ein, bei diesem Experiment, eine Stadt nach sozialistischen Prinzipien zu gestalten, mitzumachen. Mit Erfolg: viele Soldaten ließen sich überzeugen.
Ich glaube, dass die feministischen Sozialistinnen hier eine Praxis verfolgten, die sich als eine »Politik der Frauen« beschreiben lässt. Denn es gehört zur Lebenserfahrung von Frauen, dass die eigene Existenz weniger auf irgend einer »Identität« gründet, angefangen beim eigenen Namen, den Frauen mit jeder Heirat ändern, über die Berufstätigkeit, die sie flexibel den jeweiligen familiären Notwendigkeiten anpassen, bis hin zur Zugehörigkeit zu einer politischen Partei. Die Existenz einer Frau hängt nicht von ihrer »Identität« ab, sondern von den Beziehungen, die sie führt, und alle Namen, die sie dafür findet, alle Inszenierungen, die sie wählt, um sich in dieser Welt zu zeigen, haben nicht den Sinn, irgend eine Identität zu definieren, sondern Vermittlungen zu finden zwischen dem, was eine ist und dem, was die/der andere ist. Sie haben den Sinn, zu verhandeln über die eigenen Wünsche und die Wünsche der anderen, und zwar nicht abstrakt und theoretisch, sondern konkret, im hier und jetzt. Eine solche Politik haben sie vertreten, auch gegenüber ihren eigenen Geschlechtsgenossinnen aus der Frauenrechtsbewegung, die sich dem politischen Diskurs der Männer anpassten, weil sie glaubten, so effektiver und relevanter zu sein.
Zum Handeln und Verhandeln braucht man Worte, Zeichen, Symbole. Sprachliche Zeichen wie Begriffe, aber auch äußerliche Zeichen wie Kleidung, Namen und Parteizugehörigkeit haben den Zweck, mit anderen zu kommunizieren, mich mit ihnen in eine Beziehung zu setzen. Wie wir sprechen, wie wir uns bezeichnen, wie wir uns kleiden, welches Parteiabzeichen wir tragen, das alles ist Teil einer Inszenierung, es sind Aussagen. Sie haben nicht die Bedeutung von Definitionen. Sie legen nicht fest, was ich bin, sondern im Gegenteil: Ich bin es, die sie mit Leben und Bedeutung füllt. Das ist keineswegs nur Taktik, sondern das Wesen des Politischen. Jede Identität definiert sich über die Grenze zum Anderen, jede Gleichheit über den Ausschluss dessen, was ungleich ist. Und damit ist nicht nur die Grenze nach außen, zu den anderen, den Ungläubigen, den Häretikern, den Ausländern, gemeint, sondern notwendig auch eine Grenze nach innen. Egal was ich als meine Identität benenne, immer wird es auch Teile an mir selbst geben, die der Definition nicht entsprechen.
Dieses Wissen brachten die Sozialistinnen in der Mitte des 19. Jahrhunderts in einen zeitgenössischen politischen Diskurs ein, der gerade von einem gegensätzlichem Trend geprägt war: dem Entstehen eines modernen Parteiensystems. Es ist kein Zufall, dass eines der Themen, an denen die Internationale schließlich zerbrochen ist, die Frage nach der Gründung politischer Arbeiterparteien war (was die Marxisten befürworteten, die Anarchisten ablehnten). In dem Bemühen, sich in diesen politischen Trend ihrer Zeit einzuordnen, interpretierten auch viele Frauenrechtlerinnen den Feminismus nicht mehr als Bewegung zum Wohl der Allgemeinheit, sondern als Interessensverband von Frauen, der »parteiisch« ihre Anliegen gegen die »anderen«, die Männer in diesem Fall, vertreten sollte. Im Diskurs über politische Ideen aber – egal, ob er in Form von Petitionen, Parteiprogrammen und politischen Theorien geführt wird oder in Form einer politikwissenschaftlichen Forschung über diese Ideen – geraten die Personen, die ihn führen, und die Beziehungen, die sie untereinander verbinden, in den Hintergrund. Sie werden reduziert auf eine psychologische Deutung der beteiligten Individuen oder die soziologischen Umstände ihres Entstehens, werden also lediglich als Mittel herangezogen, um die politischen Texte selbst zu verstehen.
Die politische Praxis von Frauen lehrt jedoch – und die Sozialistinnen des 19. Jahrhunderts sind dafür nur ein Beispiel – dass es genau anders herum ist: Dass die konkreten Beziehungen zwischen politischen Akteuren und Akteurinnen das Zentrale der Politik sind, und nicht die Standpunkte, die sie jeweils vertreten. Weil es im Politischen nicht um die Ideen selbst geht, sondern um die Vermittlungsarbeit im Bezug auf Ideen. Es sind immer Beziehungen, in denen über das Politische verhandelt wird, wofür Texte, Positionen und Standpunkte zwar hilfreich sein können, aber nicht entscheidend. Die weibliche Praxis des Politischen lehrt, dass es darum geht, Politik zu verkörpern und nicht darum, Stellung zu beziehen.
In: Ina Praetorius (Hg): SIch in Beziehung setzen. Zur Weltsicht der Freiheit in Bezogenheit, Ulrike Helmer-Verlag, Königstein 2005.
Vgl. auch: Antje Schrupp: Frauen in der Ersten Internationale
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Hrsg. von Iring Fetscher und Herfried Münkler, München/Zürich 1985-1993. ↩
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Wanda Tommasi: «Di madre in figlia”, in: Diotima: Approfittare dell’Assenza, Napoli 2002, S. 7. Tommasi bezieht sich auf die Philosophie insgesamt, speziell die politische Ideengeschichte trifft ihre Analyse aber noch weitaus besser. ↩
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Diotima: Approfittare dell’Assenza, Napoli 2002. ↩
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Wanda Tommasi, a.a.O., S. 28. ↩
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Vgl. Antje Schrupp: Nicht Marxistin und auch nicht Anarchistin. Frauen in der Ersten Internationale, Königstein 1999. ↩
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Zu Victoria Woodhull vgl. auch: Schrupp, Antje: Das Aufsehen erregende Leben der Victoria Woodhull, Königstein 2002. ↩
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Vgl. Schrupp, Antje: Nicht Marxistin und auch nicht Anarchistin, a.a. O., S. 57ff. ↩
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Eine Ausnahme ist Virginie Barbets theoretischer Beitrag zur »Erbrechtsfrage«: Ein Streitpunkt zwischen Marxisten und Anarchisten war die Frage, ob eine sozialistische Gesellschaft durch die Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln (Marx) oder durch die Abschaffung des Erbrechts (Bakunin) zu erreichen wäre. Barbet war an diesem Punkt eine der führenden Theoretikerinnen, die für die »Erbrechtslösung« plädierte. Sie argumentierte unter anderem, dass eine Abschaffung des Erbrechts nicht nur wirtschaftliche, sondern auch kulturelle Aspekte hätte, weil es patriarchale Familienstrukturen relativieren würde, vgl. Schrupp: Nicht Marxistin und auch nicht Anarchistin, a.a. O. S. 80ff. ↩
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Zit. nach DuBois, Ellen C.: Feminism and Suffrage, Ithaca 1978, S. 175. ↩
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Vgl. insb. D’Héricourt, Jenny: La femme affranchie, Brüssel 1860, sowie Audouard, Olympe: Guerre aux hommes, Paris 1866. ↩
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Victoria Woodhull allerdings verfasste eine Artikelserie zum Verhältnis von »Kapital und Arbeit«, in der sie mehrfach betont, es sei »eine falsche Meinung, dass die Interessen von Arbeit und Kapital sich antagonistisch gegenüberstehen«, Victoria Woodhull: The Origin, Tendencies and Principles of Government, New York 1871, S. 128. ↩