Politik verkörpern statt Stellung beziehen
Das Beispiel feministischer Sozialistinnen im 19. Jahrhundert
Etta Federn, eine österreichische Anarchistin, schrieb 1938 ein Buch, in dem sie revolutionäre Frauen porträtiert. In der Einleitung schreibt sie:
»Frauen der Revolutionen. Um zu verstehen, was damit gemeint ist, müssen wir uns erst darüber klar werden, was eine Revolution eigentlich ist. Es ist ein Irrtum zu glauben, dass Revolutionen nur durch Kämpfe und Straßenschlachten, durch blutige Zusammenstöße, terroristische Tätigkeiten und alle Arten von Gewalt zustande kämen. Revolutionen vollziehen sich ebenso auf geistigem und seelischem Gebiet« .
Was Etta Federn hier thematisiert ist die weibliche Differenz in Bezug auf politisches Handeln. Italienische Philosophinnen haben für solche »Revolutionen auf geistigem und seelischem Gebiet« den Begriff »Arbeit an einer neuen symbolischen Ordnung« geprägt. Ich würde zusammen mit ihnen sogar noch einen Schritt weiter gehen als Etta Federn und sagen: Revolutionen vollziehen sich vor allem auf geistigem und seelischem Gebiet. Und zwar deshalb, weil politisches Handeln in erster Linie Vermittlung ist. Es findet im »Dazwischen« statt, in den Beziehungen zwischen Menschen. Und das, was in diesem »Dazwischen« geschieht, ist immer geistiger und seelischer Natur Dies habe ich gelernt in meiner Auseinandersetzung mit dem Engagement feministischer Sozialistinnen im 19. Jahrhundert.
Machen wir einen Sprung zurück ins Jahr 1848, zur zweiten Französischen Revolution. In diesem Jahr stellte sich die Pariser Sozialistin Jeanne Deroin als Kandidatin für die Parlamentswahlen auf. Sie begründete die Bedeutung der weiblichen Differenz für das politische Handeln folgendermaßen: »Gerade deshalb, weil die Frau dem Mann zwar gleich ist, aber doch nicht mit ihm identisch, sollte sie sich an der Arbeit für soziale Reformen beteiligen und darin die notwendigen Elemente verkörpern, die dem Mann fehlen, damit das Werk vollständig sein kann.«
Was unmittelbar ins Auge fällt ist, dass diese Begründung für eine Einbeziehung der weiblichen Differenz in die Politik, in diesem Fall konkret für die Forderung nach dem Frauenwahlrecht, sich sehr von der Argumentation unterscheidet, die einige Jahrzehnte später die Frauenrechtlerinnen ins Feld führten: Jeanne Deroin forderte die Beteiligung von Frauen an der Politik nicht im Interesse der Frauen selbst, sondern im Interesse der Gesellschaft. Ihr Anspruch, wählen zu dürfen, gründet sich nicht auf die Gleichheit der Geschlechter, sondern gerade darauf, dass sie nicht identisch sind. Das Wahlrecht für Frauen ist notwendig, weil ansonsten der Gesellschaft wichtige Kompetenzen verloren gehen, die nur die Frauen einbringen können.
Damit berief sich Jeanne Deroin auf die Tradition des Frühsozialismus (der zwanziger und dreißiger Jahre des 19 Jahrhunderts). Das große Versprechen der Französischen Revolution von »Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit« hatte sich in zweierlei Hinsicht nicht erfüllt – in Hinsicht auf die Frauen, die von den bürgerlichen Rechten ausgeschlossen blieben und in Hinsicht auf die Arbeiterinnen und Arbeiter, die verarmten, weil man unter Gleichheit keine materielle, reale Gleichheit verstand, sondern nur eine formale. Deshalb war es in diesen Jahren ganz selbstverständlich, dass Feminismus und Sozialismus Hand in Hand gingen. Alle frühsozialistischen Bewegungen räumten dem Verhältnis der Geschlechter einen wichtigen Platz ein. Es war Anfang des 19. Jahrhunderts weitgehend unbestritten, dass weibliche Tätigkeiten und Kompetenzen einen positiven Nutzen für die Gesellschaft haben und daher wertgeschätzt und berücksichtigt werden müssen, wobei es allerdings sehr unterschiedliche Lösungsvorschläge dafür gab, wie das konkret umzusetzen wäre, worauf ich an dieser Stelle aber nicht näher eingehen will.
Zur Zeit von Jeanne Deroin, also Ende der 40er Jahre, hatte sich die öffentliche Meinung aber schon sehr zu ungunsten der Frauen verschoben. Zu dieser Zeit formierte sich eine regelrechte antifeministische Bewegung, die solche Vorstellungen bekämpfte. Bürgerliche Intellektuelle wie Proudhon, Comte oder Michelet versuchten, den Ausschluss der Frauen aus dem öffentlichen Leben und ihre Entrechtung zu begründen und ideologisch zu rechtfertigen. Das lief vor allem darauf hinaus, dass sie die Unterschiedlichkeit von Männern und Frauen so interpretierten, dass daraus eine Minderwertigkeit von Frauen und eine Überlegenheit der Männer wurde. Die Geschlechterdifferenz, die im Frühsozialismus gerade das Argument für eine Beteiligung von Frauen an den gesellschaftlichen Entscheidungen gewesen war, wurde auf diese Weise zu einem Argument dagegen. Im Frühsozialismus war zum Beispiel die Rolle der »Hausfrauen« noch positiv gewertet worden, man sah in ihnen die Hüterinnen einer antikapitalistischen proletarischen Kultur, weil sie einen Ort repräsentierten, der dem staatlichen Zugriff und der kapitalistischen Effizienzlogik entzogen blieb. Nun wurde ihnen gerade daraus ein Strick gedreht: Weil sie ja nicht im kapitalistischen Produktionsprozess mit drinsteckten, hatten sie auch in der Arbeiterbewegung nichts zu sagen. Zunehmend übernahmen männliche Arbeiter, vor allem in den etwas besser stehenden Berufszweigen, bürgerliche Familienvorstellungen, und aus der starken Hausfrau, die dem vom Kapitalismus gebeutelten Arbeiter einen Ort der Freiheit und der kulturellen Eigenständigkeit schuf, wurde die hilflose Hausfrau und Mutter, die von der Unterstützung ihres Ehemanns abhängig ist und sich daher durch Wohlverhalten dessen Gunst sichern muss.
Die Reaktion vieler Feministinnen war vielleicht unvermeidlich: Notgedrungen verabschiedeten sie sich immer mehr von dem Argument der positiven weiblichen Kompetenzen und betonten mehr und mehr die Gleichheit oder zumindest eine größere Ähnlichkeit der Geschlechter. Nun entstanden all die geläufigen Argumente, die die Frauenrechtsbewegung lange Zeit prägten: Dass die Fähigkeit, Kinder zu gebären und zu erziehen, kein bestimmendes Merkmal des Frau-Seins sein dürfe, dass die Unterschiede zwischen Männern und Frauen fast ausschließlich auf die Sozialisation zurückzuführen seien, und dass Frauen deshalb politisch mitreden müssten, damit sie ihre eigenen Interessen vertreten können, ähnlich wie eine »Partei«.
Dieser Gleichheitsfeminismus ist, jedenfalls historisch gesehen, also kein Ausdruck weiblicher Freiheit, sondern war lediglich ein Rückzugsgefecht der Feministinnen angesichts eines überschäumenden männlichen Antifeminismus. Ich nenne diesen Ansatz daher auch nicht Feminismus, sondern besser Anti-Antifeminismus. Damals waren die Frauen, die diese Positionen vertraten, in der Tat auch nicht als Feministinnen bekannt, sondern als Antiproudhonistinnen, weil nämlich Proudhon der wichtigste und radikalste dieser Antifeministen war. Da nun das Augenmerk vor allem darauf gerichtet war, die Argumente der Antifeministen zu widerlegen, ging es immer weniger um den positiven gesellschaftlichen Nutzen weiblichen Handelns, sondern mehr und mehr darum, zu zeigen, dass es zumindest nicht schadet. Es ging also sozusagen der revolutionäre Impuls verloren.
Das alles führte dazu, dass Frauenbewegung und Arbeiterbewegung sich voneinander distanzierten. Sie beide hatten nun tendenziell nicht mehr die Gesellschaft als Ganze im Blick, sondern betrieben eine Art Lobbyarbeit für eine bestimmte gesellschaftliche Gruppe. In ihren Analysen reduzieren beide die Fehler des bürgerlichen patriarchalen Kapitalismus jeweils auf einen bestimmten Teilaspekt, der als das einzige oder zumindest das wichtigste Problem verstanden wird – das Verhältnis von Frauen und Männern oder das Verhältnis von Arbeit und Kapital. Frauen- und Arbeiterbewegung machten sich nun gegenseitig Konkurrenz, ja sie bekämpften sich geradezu. Frauen forderten – im Rahmen ihrer Gleichheitsbestrebungen – den Zugang zum Arbeitsmarkt, was in kapitalistischer Logik ein erhöhtes Angebot an Arbeitskraft bedeutete und damit zu Lohnsenkungen führte. Deshalb konterten die Arbeiter mit Forderungen, die Frauenerwerbsarbeit gleich ganz zu verbieten oder wenigstens den Männern durch so genannte »Arbeitsschutzgesetze« einen Konkurrenzvorteil zu verschaffen. Die Frauen ihrerseits versprachen den Unternehmern billigere Arbeitskräfte, wenn sie nur endlich Frauen ausbilden und einstellen würden, woraufhin immer mehr Gewerkschaften dazu übergingen, Frauen auszuschließen.
Wie haben nun feministische Sozialistinnen auf diese Situation reagiert? Welchen Ausweg fanden sie aus dem Dilemma zwischen Antifeminismus und Anti-Antifeminismus? Diese Frage habe ich versucht, in meiner Dissertation zu beantworten. Wenn ich von meinem Thema »Frauen in der Ersten Internationale« erzähle, kommt meist die Frage »Gab es denn da überhaupt Frauen?« Die Frage ist berechtigt. Schaut man sich an, was bisher dazu geschrieben wurde, dann scheint es dort in der Tat keine gegeben zu haben. Andererseits kann die Entdeckung, dass es auch in der Ersten Internationale Frauen gegeben hat, heute niemanden mehr wirklich überraschen. Hat es doch in den letzten dreißig Jahren massenweise Arbeiten mit dem Titel »Frauen in…« gegeben. Wenn man bedenkt, dass die Frage nach dem Geschlechterverhältnis eine der entscheidenden Fragen der bürgerlichen Gesellschaft war, ist es auch wenig verwunderlich, dass in der Tat die Diskussion über das Verhältnis von Frauen und Männern auch in der Ersten Internationale eine ganz wichtige Rolle spielte. Allerdings liefen die Diskussionen zunächst so, dass man sagen muss: Die erste Internationale war in ihren Anfängen vor allem eine antifeministische Organisation. Auf den ersten beiden Kongressen diskutierten die jeweils rund sechzig Delegierten – alles Männer – ausführlich über die Frage der Frauenerwerbsarbeit und über das Verhältnis von Frauen und Männern in der Gesellschaft, und zwar folgendermaßen:
Die Franzosen, vor allem aus der Pariser Sektion, waren mehrheitlich Anhänger der extrem frauenfeindlichen Sozialphilosophen Pierre- Joseph Proudhon. Sie vertraten die Auffassung, dass Frauen grundsätzlich heiraten sollten und dass verheiratete Frauen grundsätzlich nicht außer Haus erwerbstätig sein sollten, damit sie sich ganz um die Kindererziehung und die Versorgung ihres Ehemannes kümmern können. Die Engländer, wo die Industrialisierung schon weiter fortgeschritten war und es bereits große und starke Gewerkschaften gab, waren ebenfalls gegen Frauenerwerbsarbeit, aber nicht, wie die Franzosen, zum Schutz der patriarchalen Familie, sondern weil sie eine Senkung ihrer Löhne durch billige Arbeitskräfte fürchteten.
Die Gegnerschaft zur Frauenerwerbsarbeit war einer der wenigen Punkte, an dem sich die Delegierten bei diesen ersten Kongressen einig waren. Sie fassten also Beschlüsse, die ein Verbot oder zumindest eine Einschränkung der Frauenerwerbsarbeit forderten – und das zu einer Zeit, wo das Hauptthema der Frauenbewegung die Forderung nach mehr Erwerbsarbeitsmöglichkeiten war. Wenn ich die Internationale antifeministisch nenne, dann also nicht, weil ich sie an heutigen Ideen und Ansprüchen messe, sondern weil sie gegen die Feministinnen ihrer Zeit Position bezog. Also im Wortsinn anti-feministisch war.
So gesehen gewinnt die Frage: Gab es Frauen in der Ersten Internationale? noch einmal eine ganz neue Bedeutung. Es ist nämlich eher die Frage: Warum, um Himmels willen, haben Frauen sich einer solchen Organisation angeschlossen??
Es ist nun auch tatsächlich so, dass ich in diesen ersten Jahren, also 1865 bis 1867, kaum Spuren von Frauen in gefunden habe, die in der Internationale inhaltlich mitgearbeitet hätten. Aber ab 1868 sind gleich mehrere interessante Frauen dort eingetreten. Es ist also anzunehmen, dass diese antifeministische Position an einem bestimmten Punkt ins Wanken gekommen ist.
Eine von diesen Frauen ist Virginie Barbet in Lyon. Von ihr weiß man biografisch nicht viel, nur dass sie eine Gaststätte betrieben hat und Mitglied in einer Gruppe von Feministinnen war. Virginie Barbet kam über einen Umweg zur Internationale. Ende 1868 nahm sie an einem Friedenskongress in Bern teil und hielt dort eine Rede für den Zugang von Frauen zu Bildung und Erwerbsarbeit. Der Kongress war veranstaltet von der Friedens- und Freiheitsliga, einem internationalen Zusammenschluss von zum Teil sehr prominenten fortschrittlichen Liberalen, wie zum Beispiel Victor Hugo, Giuseppe Garibaldi oder John Stuart Mill. Sie trat ein für eine Abschaffung der stehenden Heere, für die Auflösung der Nationalstaaten und die Gründung einer Europaunion. Die Liga war nicht nur bedeutender als die Internationale, hier gab es auch zahlreiche Frauen, meistens dezidierte Feministinnen.
Auch der russische Revolutionär Michael Bakunin und einige seiner politischen Freunde und Freundinnen gehörten damals zur Friedensliga und nicht zur Internationale. Beim Kongress in Bern kam es jedoch zu einem Streit über die Frage, ob die Liga auch wirtschaftspolitische, sozialistische Forderungen in ihr Programm aufnehmen sollte. Das hatte Bakunin in einer Rede gefordert, aber die Mehrheit der eher bürgerlichen Ligamitglieder lehnte das ab. Daraufhin traten 18 Männer und Frauen aus und schlossen sich zu einer »Allianz der sozialistischen Demokratie« zusammen.
Offenbar hat Virginie Barbet mit dieser Gruppe am Rande des Ligakongresses Kontakte geknüpft. Einige Monate später gründete sie nämlich in Lyon eine Allianz-Sektion. Sie war bald schon ein sehr aktives Mitglied, schrieb zahlreiche Artikel für die Zeitung »Egalité«, die die Allianz in Genf herausgab, und stand in einem politischen Briefwechsel mit Bakunin über Inhalte und Strategien der Organisation.
Virginie Barbet war Feministin und Sozialistin. In der Frauenrechtsbewegung, die (wie die Feministinnen in der Friedensliga) die ungerechten Eigentumsverhältnisse unangetastet ließ, konnte sie keine richtige politische Heimat finden, und in der Internationale mit ihrem antifeministischen Programm auch nicht. Aber die Allianz bot da einen Ausweg, denn sie gab sich ein Programm, das gleich im zweiten Punkt – so wörtlich – die »Gleichmachung der Menschen beiderlei Geschlechts« fordert. Und zwar sollte das durch die Abschaffung des Erbrechts und die Sicherung einer qualitativ hochwertigen Ausbildung für alle Kinder gelingen. Man stellte sich vor, dass so ein gleicher Ausgangspunkt für alle Menschen geschaffen würde, von dem aus sie sich dann in ihrer individuellen Unterschiedlichkeit fortentwickeln könnten. Nur durch eine solche »Gleichmachung« wären die Unterschiede zwischen den Menschen wirklich auf ihre individuelle Verschiedenheit zurückzuführen und nicht mehr durch die Geburt vorherbestimmt – etwa das Geschlecht oder die Vermögensverhältnisse der Eltern. Dieses Programm verteidigte Virginie Barbet nicht nur in ihren Broschüren, Flugschriften und Zeitungsartikeln, sie war auch – wie man aus ihren Briefen an Bakunin entnehmen kann – maßgeblich an seiner Entstehung und Weiterentwicklung beteiligt.
Es entstand in der Allianz ein Streit darüber, ob man sich nun, nach dem Austritt aus der Friedensliga, der Internationale anschließen sollte. Vor allem die französischen Allianzmitglieder, zum Beispiel der später berühmte Geograf und Anarchist Elisée Reclus – waren dagegen. Denn sie wollten nichts mit den französischen Internationale-Mitgliedern, den Anhängern Proudhons, zu tun haben. In diesem Zusammenhang möchte ich anmerken, dass es nicht nur aus der Perspektive von Frauen, sondern auch aus zahlreichen anderen Gründen völliger Unsinn ist, Proudhon als Vater des Anarchismus zu bezeichnen. Die Begründer und Begründerinnen des anarchistischen Sozialismus, also die Gruppe um Bakunin, grenzten sich von Proudhon viel mehr ab, als von Marx.
Dass die Allianz schließlich doch der Internationale beitrat, liegt daran, dass die Proudhonisten zu dieser Zeit bereits an Bedeutung verloren hatten. Andere hatten die Führung in der Pariser Internationale übernommen – zum Beispiel Eugène Varlin und Benoît Malon, zwei Männer, die bereits bei den ersten Internationale-Kongressen gegen ihre antifeministischen Kollegen gesprochen hatten.
Auch in Paris begannen nun Frauen, sich für die Internationale zu interessieren. Eine der wichtigsten von ihnen ist die Schriftstellerin André Léo, die in fortschrittlichen Kreisen eine anerkannte politische Kommentatorin war, und deren Unterstützung der Internationale viel dazu beigetragen hat, dass die Organisation in der Öffentlichkeit an Bedeutung gewann.
André Léo war damals ungefähr Mitte vierzig. Ihr Name ist ein Pseudonym, das sich von ihren Zwillingssöhnen André und Léo herleitet, die damals 14 Jahre alt waren, der Vater war bereits Ende der 50er Jahre gestorben. André Léos journalistische und schriftstellerische Tätigkeit diente also auch dem Lebensunterhalt der Familie. Sie hatte einige erfolgreiche Romane veröffentlicht und 1866 eine feministische Gruppe gegründet, zu der auch später berühmte Feministinnen und Sozialistinnen gehörten wie zum Beispiel die spätere Anarchistin Louise Michel, die Frauenrechtlerin Marie Deraismes oder die Mitbegründerin der französischen Arbeiterpartei, Paule Minck.
Warum trat André Léo in die Internationale ein, wenn sie doch schon in der Frauenbewegung aktiv war? Auch hier ist, wie bei Virginie Barbet, wohl ausschlaggebend, dass ihr der liberale, republikanische Feminismus die ungerechten Eigentumsverhältnisse zu wenig berücksichtigte. Dazu kam jedoch ihre Motivation, die verschiedenen oppositionellen Kräfte in Frankreich zusammenzubringen: In Frankreich lag die Monarchie in den letzten Zügen. Allerdings war die Opposition reichlich zerfleddert, es gab Feministinnen, Sozialisten, Republikaner, die jeweils ihre eigenen Schwerpunkte setzen. André Léo versuchte, diese Gruppen davon abzubringen, sich gegenseitig zu bekämpfen und stattdessen gemeinsam auf die Abschaffung der Monarchie und die Etablierung einer echten Demokratie hinzuarbeiten. Demokratie war für sie nicht einfach eine parlamentarische Staatsform, sondern eine Gesellschaft, die in allen ihren Bereichen der Gleichheit der Menschen Rechnung trägt.
Léos Eintritt in die Internationale hatte vor allem den Zweck, die Sozialisten für die Anliegen der Feministinnen sensibel zu machen und so die Grundlage für eine Zusammenarbeit zu schaffen, während sie andererseits versuchte, die Feministinnen von der Notwendigkeit sozialistischer Forderungen zu überzeugen. Darüber kam es zum Konflikt zwischen ihr und Bakunin. Léo kritisierte nämlich Bakunins rigide Abgrenzung von der sogenannten »Bourgeoisie«. Seine polemischen Beschimpfungen möglicher Bündnispartner aus dem republikanischen Lager und seine radikale Rhetorik schade der gemeinsamen Bewegung.
Bakunin seinerseits kritisierte Léo als schwächlich und zu emotional. Sie hoffe, so schrieb her – typisch Frau, liest man zwischen den Zeilen – auf Harmonie, wo konsequente Härte und Abgrenzung gefragt sei. Allerdings stand Bakunin mit dieser Meinung ziemlich alleine da. Die meisten wichtigen Allianzmitglieder, zum Beispiel Reclus und Malon, unterstützten André Léo. Bakunin hat sein Urteil über André Léo später übrigens teilweise wieder revidiert.
André Léos Versuch, sozialistische und feministische Anliegen zusammenzubringen, wurde allerdings in der Pariser Kommune 1871 auf eine schwere Probe gestellt. Nach der Niederlage Frankreichs im deutsch-französischen Krieg und dem Ende der Monarchie, kam es im März 1871 zu einem Aufstand der Pariser Bevölkerung gegen die neue republikanische Regierung. Belagert von preußischen Truppen und angegriffen von französischem Militär konnte sich die Pariser Kommune nur zwei Monate halten, bevor sie blutig niedergeschlagen wurde, aber hier fand doch das erste »realsozialistische« Projekt der europäischen Geschichte statt.
André Léo gehörte zu den prominentesten Unterstützerinnen der Pariser Kommune. Allerdings erwies sich das Bündnis zwischen Sozialisten und Feministinnen als äußerst brüchig. Viele Feministinnen – teilweise auch Freundinnen von Léo – wandten sich gegen die Kommune und verließen Paris, während die rein männliche Kommuneregierung wiederum die Ansichten von Frauen nicht berücksichtigte. Dass Frauen wieder nicht wahlberechtigt waren, ist eine Sache. Schwerwiegender war jedoch, dass man einen erklärten Antifeministen, Jaroslav Dombrowski, zum Oberbefehlshaber der Kommunetruppen machte. Dass er sogar versuchte, Krankenschwestern und Marketenderinnen, die die Soldaten mit Essen versorgten, den Zugang zu den Schlachtfeldern zu verbieten, beschleunigte die militärische Niederlage der Kommune.
André Léo organisierte deshalb so etwas wie eine solidarische Opposition innerhalb der Kommune. In ihren Zeitungsartikeln kritisierte sie nicht nur antifeministische Beschlüsse der Kommuneregierung, sondern auch andere unterdrückerische Maßnahmen wie etwa die Einführung der Pressezensur oder die Absetzung kritischer Minister. Sie kritisierte vor allem die Haltung vieler Kommunarden, dass der Zweck die Mittel heilige. Für Léo stand aber fest, dass eine Bewegung, die ihre eigenen Ziele schon in ihren Anfängen verrät, zum Scheitern verurteilt sei. »Wenn wir uns verhalten, wie unsere Gegner«, schrieb sie, »wie soll sich dann die Welt zwischen ihnen und uns entscheiden?«.
Nicht alle teilten diese Meinung. So scheint zum Beispiel Louise Michel, die später für ihr Engagement in der Kommune berühmt wurde, mehr Verständnis für autoritäre Maßnahmen gehabt zu haben. Zur Zeit der Kommune war sie noch keine Anarchistin, das wurde sie erst später, nach ihrer Rückkehr aus der Deportation. Allerdings war sie damals auch noch sehr jung und spielte keine bedeutende Rolle. Man müsste einmal den Einfluss von André Léo auf Michels Denken untersuchen, ich glaube, dass er erheblich ist.
Es gab aber eine andere Gegnerin von André Léos kritisch-solidarischer Haltung gegenüber der Kommune, die sehr einflussreich war, und zwar die Russin Elisabeth Dmitrieff. Auch sie war ein Mitglied der Internationale. Sie war noch sehr jung, gerade 21 Jahre alt, und recht wohlhabend. Sie stammte aus einer aristokratischen Familie und lebte eigentlich in Genf. Dort hatte sie ein Jahr zuvor eine russische Internationale-Sektion gegründet, die gegen die Allianz Opposition machte. Sie störte sich vor allem an der radikalen Rhetorik des Allianz-Programms, das ihr zu weltfremd und zu abgehoben erschien, um damit die Massen zu erreichen. Ende 1870 war sie nach London gereist, um Kontakt mit Karl Marx und mit dem Generalrat der Internationale aufzunehmen. Als die Nachricht vom Kommuneaufstand kam, setzte sie sich in den nächsten Zug nach Paris.
Elisabeth Dmitrieff war keine große Denkerin und Theoretikerin, aber eine begnadete Agitatorin. In nur zwei Wochen stampfte sie die größte Frauenorganisation der Kommune aus dem Boden, die »Union des Femmes«. Vermutlich hatte sie Empfehlungsschreiben von Marx für die Kommuneregierung dabei, aber es ist trotzdem eine erstaunliche Leistung. Die »Frauenunion« etablierte sich rasch als Vertreterin von Fraueninteressen generell, Elisabeth Dmitrieff verhandelte mit der Kommuneregierung über die Organisation der Frauenarbeit, sie setzte feste Aufträge und Preise durch für die Frauenwerkstätten, die zum Beispiel die Uniformen für die Nationalgarde nähten. Die Union organisierte Krankenhelferinnen, verteilte Lebensmittel, und agitierte unter Arbeiterinnen und Arbeiterfrauen für die Ziele der Kommune.
Elisabeth Dmitrieff hatte kein Verständnis für André Léos kritische Position gegenüber zentralistischen, diktatorischen Tendenzen in der Kommune. Wer intern Kritik äußerte, war für sie eine Verräterin, und sie griff André Léo deswegen öffentlich an. Die ging ihrerseits nicht auf diese Angriffe ein, aber es ist auffällig, dass Louise Michel in ihren Memoiren, in denen sie ausführlich über die Pariser Kommune schreibt, Dmitrieff nur in einem Nebensatz erwähnt.
Auch feministische Forderung hatten nach Dmitrieffs Ansicht beim Ernst der Lage zurückgestellt zu werden. Diese fehlende Konsequenz in der Einforderung feministischer Anliegen gegenüber den Männern die Kommune führe ich auf ihre Herkunft zurück. In Rußland waren die jungen Revolutionäre und Revolutionärinnen damals überzeugt, dass sie die Unterschiede zwischen den Geschlechtern einfach dadurch abgeschafft hätten, dass sie sie nicht mehr gelten lassen. Die Gleichheit von Frauen und Männern hängt ihrer Meinung nach also von einem reinen Willensakt ab. Diese sogenannten »Nihilistinnen« stammten meistens, wie Dmitrieff und Bakunin ja auch, aus aristokratischen Verhältnissen, so dass sie die typisch bürgerliche Geschlechterkonstruktion nicht selbst kennengelernt hatten. Paradoxerweise führte das dazu, dass sie den Kampf gegen diese Konstruktion des Geschlechterunterschiedes für nicht so wichtig hielten.
Die Französinnen dagegen wussten, dass man die Abschaffung Geschlechterrollen nicht einfach so beschließen kann. Sie wussten, dass es ein langer und mühsamer Prozess ist, der an die Grundfesten der gegebenen Gesellschaft rührt. Deshalb legten sie auch besonders großen Wert auf eine Reform des Erziehungswesens.
Die Kommune bestand nicht lange genug, um diese Differenzen auszutragen. Nach ihrer Niederschlagung gelang beiden, Léo und Dmitrieff, die Flucht in die Schweiz. Und dort spielte Dmitrieff keine Rolle mehr, wohl aber André Léo, die nun eine Lebensaufgabe darin sah, die Verbrechen des französischen Militärs – in nur wenigen Tagen wurden mindestens 20.000 Männer und Frauen ohne Urteil hingerichtet – anzuprangern.
Nach der Kommune kam es zum Richtungsstreit in der Internationale. Die meisten Kommuneflüchtlinge, die in sozialistischen Kreisen nun als Helden und Heldinnen galten, orientierten sich eher zur anarchistischen Allianz. Karl Marx und Friedrich Engels fürchteten um ihren Einfluss. Deshalb gingen sie – im Namen des von ihnen kontrollierten Generalrats in London – zunehmend dazu über, unliebsame Sektionen aus der Internationale auszuschließen. Zu einem ihrer ersten Opfer wurde die Sektion 12 in New York – und dies führt uns zu einer weiteren interessanten Frau in der ersten Internationale.
In die USA war die Internationale zunächst durch Einwanderer aus Deutschland, Frankreich, Irland und Osteuropa gekommen. Meistens sprachen sie nicht einmal englisch, und daher wurden sie auch von den einheimischen Arbeitern und von der amerikanischen Öffentlichkeit kaum beachtet. Das änderte sich erst, als Victoria Woodhull mit einigen Freundinnen und Freunden die erste englischsprachige Sektion der Internationale gründete, die so genannte Sektion 12 in New York.
Victoria Woodhull war damals eine berühmte Rednerin und Frauenrechtlerin, die soeben bekannt gegeben hatte, dass sie für die Präsidentschaft der USA kandidieren wolle. Sie stammte aus einer dubiosen, kleinkriminellen Unterschichtsfamilie, war aber mit Hilfe des Eisenbahnmillionärs Cornelius Vanderbilt zu Wohlstand gekommen. Der damals wohl reichste Mann Amerikas bezahlte Victoria Woodhull und ihrer Schwester üppige Honorare – für hellseherische und vermutlich auch sexuelle Dienstleistungen. Mit dem Geld hatten die Schwestern eine eigene Broker-Firma an der Wallstreet gegründet und waren durch geschickte Investitionen reich geworden. Sie gründeten eine Zeitung, das Woodhull and Claflin’s Weekly, in der sie frauenrechtlerische und sozialistische Artikel neben den neuesten Börsennachrichten brachten. Die Zeitung veröffentlichte als erste in den USA das kommunistische Manifest, auch Jenny Marx und andere europäische Internationale schrieben hier Artikel. Karl Marx war froh, das kann man seinen Briefen aus dieser Zeit entnehmen, endlich ein Sprachrohr zu haben, über das man die amerikanische Öffentlichkeit erreichen konnte.
Allerdings hatte Victoria Woodhull ihre eigenen Ansichten über den Sozialismus. Dessen wichtigste Aufgabe sei es, so meinte sie, für die »soziale Freiheit« zu kämpfen, ein Begriff, der in Europa meistens mit »freie Liebe« übersetzt wurde. Woodhull trat für die sexuelle Befreiung der Frauen ein, wozu auch das Recht auf Abtreibung oder eine Anerkennung von Prostituierten zählte, für die Unabhängigkeit der Frauen von ihren Ehemännern, gegen moralische und sittliche Schranken für den weiblichen Freiheitsdrang. Dieses Ziel, meinte sie, müsse sich auch der Sozialismus auf die Fahnen schreiben, was natürlich den konservativen Einwanderern, vor allem denen aus Deutschland und Irland, nur schwer zu vermitteln war.
Es würde an dieser Stelle zu weit führen, die Theorien von Victoria Woodhull im Detail darzustellen – Verweis auf Buch. In gewisser Weise kann sie als eine Vorläuferin von Emma Goldman gelten, gerade im Hinblick auf »freie Liebe«. Übrigens habe ich da kürzlich eine interessante Verbindung gefunden: Wegen der Skandale, die Victoria Woodhull auslöste, wurde in den USA die Stelle eines Regierungsbeamten zur Bekämpfung von Pornografie eingerichtet, und zwar für einen gewissen Anthony Comstock, einer der größten Feinde Woodhulls. Neulich habe ich die Biografie von Emma Goldman noch einmal gelesen, und auch sie wurde noch von Anthony Comstock wegen ihrer freie-Liebe-Ansichten angeklagt, er war offenbar 45 Jahre später immer noch im Amt. Jedenfalls trat Victoria Woodhull, ähnlich wie André Léo, für eine Zusammenarbeit zwischen proletarischen, feministischen und bürgerlichen Kräften ein. Und am Beispiel ihrer Sektion 12 kam es in Europa zur ersten expliziten Diskussion über das Thema Haupt- und Nebenwiderspruch: Der Generalrat schloss die Sektion 12 aus der Internationale aus mit der Begründung, dass in der Internationale nur die Arbeiterfrage zu behandeln sei, und nicht die Frauenfrage.
Zu dieser Zeit lag die Internationale aber ohnehin schon in den letzten Zügen. Marx und Engels schlossen nicht nur die Sektion 12, sondern auch viele andere, die nicht ihr begrenztes Verständnis von Sozialismus teilten, was schließlich eine Zerschlagung der Internationale gleichkam.
Also zurück zur Ausgangsfrage: Wie haben feministische Sozialistinnen in der Ersten Internationale ihre feministischen Überzeugungen und ihr sozialistisches Engagement miteinander vereinbart? Wie begegneten sie der Spaltung zwischen Arbeiter- und Frauenbewegung, die sich in dieser Zeit vollzogen hat? Und was können wir heute noch von ihnen lernen?
Oberflächlich könnte man sie durchaus in die gängigen Schematisierungen einordnen, und etwa Virginie Barbet, André Léo oder Victoria Woodhull als Anarchistin, Elisabeth Dmitrieff als Marxistin bezeichnen. Ich habe mein Buch dennoch »Nicht Marxistin und auch nicht Anarchistin« genannt, weil ich der Meinung bin, diese Kategorien treffen nicht das, was das Wesen des politischen Engagements dieser Frauen ausmacht. Sie waren weder noch, sie waren »dazwischen. Es ist doch auffällig, dass es um all die gängigen Themen, die laut Literatur in der Internationale die wichtigsten Themen waren – der Streit Marxismus-Anarchismus, die Frage der parteipolitischen Konstituierung der Arbeiterbewegung, die Frage nach Erbrecht abschaffen versus Vergesellschaftung der Produktionsmittel usw. – bei den Frauen gar keine Rolle spielten. Aber es ist nun auch nicht so, dass sie dem gegenüber eine andere »Frauenposition« formuliert hätten. Überhaupt haben sie sich gescheut, irgendwelche prinzipiellen Forderungen aufzustellen, die unabhängig von der konkreten Situation und ihrer Einbettung in eine allgemeine Analyse der Gesellschaft stehen.
Das wird zum Beispiel an der Haltung von André Léo zur Teilnahme von Frauen an den militärischen Aktionen der Pariser Kommune deutlich. Sie forderte nicht grundsätzlich die Zulassung von Frauen zum Militär, also aus Gründen einer abstrakten Geschlechtergleichheit oder um eine formale Diskriminierung von Frauen zu beseitigen, sondern sie forderte die Frauen auf, jeweils das zu tun, was in der konkreten Situation das Beste ist. Als im deutsch-französischen Krieg die französische Armee den Preußen zu unterliegen drohte, forderten Frauen in Paris die Gründung eines Frauenbataillons. André Léo war dagegen, weil die drohende Niederlage Frankreichs keine militärischen Ursachen habe, sondern auf eine verfehlte Politik zurückzuführen sei. Auch ein Frauenbataillon würde daran nichts ändern. Im Falle der Verteidigung der Kommune jedoch, als buchstäblich jede Hand gebraucht wurde, war André Léo eine der schärfsten Kritikerinnen all derer, die die Teilnahme von Frauen an militärischen Aktionen verhindern wollten.
Ein anderes Beispiel gibt Virginie Barbet. Beim Streik der Textilarbeiterinnen hat sie deren Forderung nach mehr Lohn selbstverständlich unterstützt. Als aber dann eine Frauengruppe, die mit dem Streik gar nichts zu tun hatte, diese Forderung ebenfalls auf ihre Fahnen schrieb, kritisierte das Barbet. Denn was bei den Textilarbeiterinnen eine angemessene Forderung ist, weil sie zur Mobilisierung und zur unmittelbaren Abhilfe von Not dient, wird falsch, wenn der Kontext sich ändert.
Übereinstimmend kritisierten die sozialistischen Feministinnen auch die Tendenz der zeitgenössischen Frauenbewegung, immer mehr die gesellschaftlichen Interessensgegensätze zu betonen – sei es der Gegensatz von »Frauen und Männern« oder den Gegensatz von »Kapital und Arbeit«. Das wurde ihnen als mangelnde Radikalität ausgelegt. Sowohl von den Frauenrechtlerinnen, die ihnen vorwarfen, sie fürchteten eine konsequente Konfrontation mit dem männlichen Patriarchalismus, als auch von den Sozialisten. Denn gerade die größten Widersacher in der Internationale, Marx und Bakunin, waren sich ausgerechnet an diesem Punkt einig: Beiden war nämlich gerade die Abgrenzung des Proletariats von der Bourgeoisie und die Ablehnung jeder Kooperation mit republikanischen oder liberalen Kräften wichtig – und sie gelten, ebenso wie die Frauenrechtlerinnen, deshalb in der Sekundärliteratur als radikal. Es ist sind dazu ausführliche Kontroversen zwischen André Léo und Michael Bakunin und zwischen Victoria Woodhull und Karl Marx überliefert.
Sowohl gegenüber der Frauenbewegung als auch gegenüber der Arbeiterbewegung bestanden die sozialistischen Feministinnen also darauf, dass die Gesellschaft nicht als eine interpretiert werden kann, die im wesentlichen auf Interessensgegensätzen beruht. Stattdessen gehen sie davon aus, dass gerade die Interessensgleichheit der Menschen, nämlich das Interesse, in einer freiheitlichen Gesellschaft zu leben, die Vorbedingung dafür sei, dass überhaupt eine Verständigung über die politische Organisation der Gesellschaft möglich ist. Politik heißt für sie nicht, die verschiedenen Interessen von Männern und Frauen, Arbeitern und Kapitalisten irgendwie zusammenzuraufen – sei es durch faule Kompromisse (also »Revisionismus«) oder durch den Sieg der einen über die anderen (also »Revolution«).
Ich glaube, dass sie durch ihre eigene Erfahrung der Differenz – also als Frau in einer Männerorganisation und als Sozialistin in bürgerlichen Frauenrechtsgruppen – gelernt hatten, dass es nicht darauf ankommt, irgendwelche »reinen« Postionen und Standpunkte zu vertreten, sondern dass Politik im authentischen Handeln in erster Person besteht, also in der Vermittlung. Politik gründet auf der Erfahrung, dass aus einer Vermittlung zwischen unterschiedlichen Positionen etwas Neues entstehen kann. Indem sie sich als dezidierte Feministinnen einer antifeministischen Organisation wie der Internationale anschlossen, zwangen sie die Internationale, sich mit der Tatsache auseinandersetzen, dass es ein weibliches politisches Denken gibt, das sich Gehör verschafft, und sie verhinderten, dass sich die Frauenrechtlerinnen als alleinige Repräsentantinnen des weiblichen politischen Denkens profilieren konnten. Und es lässt sich leicht denken, dass sie einen großen Teil damit verbrachten, genau diese Vermittlungsarbeit zu leisten, in unzähligen Gesprächen mit Sozialisten oder Feministinnen, in Zeitungsartikeln, Broschüren, Vorträgen und so weiter.
Das heißt, die Frauen in der Internationale verkörpern im wahrsten Sinn des Wortes die politische Einsicht, dass die Anliegen beider Bewegungen gemeinsam sind, und dass die Gegensätze, die von beiden Seiten in der öffentlichen Diskussion aufgebaut werden, lediglich scheinbare Gegensätze sind. Schon mit ihrer bloßen Anwesenheit – als Sozialistinnen in den Frauengruppen, als Feministinnen in der Internationale – machen sie deutlich, dass es nicht darum geht, diese oder jene konkrete politische Forderung aufzustellen, sondern darum, die Bedeutung, den Sinn von Arbeiterbewegung und Frauenbewegung festzuhalten: nämlich die Arbeit an einer freiheitlichen Gesellschaft von Männern und Frauen. Neben diesem Sinn sind alle konkreten, tagespolitischen, aktuellen Forderungen, Handlungen und Aktionen nebensächlich – denn sie können je nach Kontext so oder so ausfallen. Was notwendig ist, ist aus unfruchtbaren Patt-Situationen heraus zu gehen, sich selbst in das Spiel einzubringen, ohne vorher wissen zu können, wo das endet.
Marianne Kröger, die die Texte von Etta Federn herausgegeben hat, schreibt in ihrer Einleitung: »Revolutionär fand Etta Federn jene Frauen alle, weil sie Ungewöhnliches gedacht und getan hatten, weil sie gedankliches Neuland beschritten hatten, und weil sie mit ihrem Wirken nachhaltige Einflüsse auf die Gesellschaft ausgeübt hatten«. Ich finde, das ist eine recht gute Definition für feministische Politik: Ungewöhnliches zu denken und zu tun, gedankliches Neuland betreten und gerade dadurch der Welt Sinn geben, und das heißt unweigerlich, sie verändern. Aber solches Neuland entsteht nicht im stillen Kämmerlein, sondern immer aus der konkreten Vermittlungsarbeit, also daraus, dass ich meine Ideen, Meinungen, Erfahrungen und Ideale der Konfrontation mit anderen aussetze, in einem echten Gespräch, das heißt, in einem Gespräch mit offenem Ausgang, bei dem beide Seiten das Risiko eingehen, sich selbst zu verändern. Dass die Männer in der Internationale zu einem solchen Gespräch nicht bereit waren, führte zum vorzeitigen Ende der Organisation, vielleicht sogar zum Scheitern des Sozialismus überhaupt. Die Frauenbewegung hat sich übrigens in dieser Hinsicht flexibler gezeigt, sie ist nicht gescheitert, sondern die einzige soziale Bewegung, der es tatsächlich gelungen ist, die Gesellschaft auf maßgebliche Weise zu ändern. I dem Moment, wo Frauen politisch aktiv werden, kommt notgedrungen die Frage nach der Differenz auf’s Tablett. Ihr Fokus ist Vermittlung, nicht Positionierung. Diese Vermittlung ist das Entscheidende, der Inhalt der Position ist demgegenüber sekundär. Das ist für mich die Lehre aus dem Beispiel der sozialistischen Feministinnen.
Vortrag am 13.6.2003 bei Anares-Nord in Bremen
und am 28.10.2003 im Ev. Frauenbegegnungszentrum, Frankfurt/Main
Weiterführende Seiten: Weibliches Begehren und die Stärke des Neuanfangs