Antje Schrupp im Netz

Frauen in der Ersten Internationale

Antje Schrupp: Nicht Marxistin und auch nicht Anarchistin – Frauen in der Ersten Internationale, Ulrike-Helmer-Verlag, Königstein 1999.

Rezensionen

Die berühmte Erste Internationale (berühmt, weil ihr zu Ehren das bekannte Lied gedichtet wurde, Völker hört die Signale…) bestand von 1864 bis 1872 und war der erste europäische Dachverband der Arbeiterbewegung. Für die Linke ist die Internationale Arbeiter-Assoziation – so der offizielle Titel – zu einem Mythos geworden – für die Marxisten war sie ein Beispiel dafür, wie Karl Marx selbst (der damals dabei war) sich die Organisation der Arbeiterbewegung vorstellte, für die Anarchisten war sie eine Erinnerung an bessere Zeiten, in denen man unter Sozialismus noch nicht Marxismus-Leninismus verstand. Obwohl Legionen von Forschern sich seither mit der Internationale beschäftigt haben, ist bis heute nahezu unbekannt, daß es dort auch Frauen gab.

Die Diskussion über das Verhältnis von Frauen und Männern spielte in der Ersten Internationale eine wichtige Rolle. Und zwar eine so wichtige, daß man sagen muß: Die Erste Internationale war in ihren Anfängen vor allem eine antifeministische Organisation. Auf den ersten beiden Kongressen (1866 in Genf und 1867 in Lausanne) diskutierten die jeweils rund sechzig Delegierten – alles Männer – ausführlich über die Frage der Frauenerwerbsarbeit und über das Verhältnis von Frauen und Männern in der Gesellschaft.

Die Franzosen, vor allem aus der Pariser Sektion (zum Beispiel Henri Tolain), waren mehrheitlich Anhänger des extrem frauenfeindlichen Sozialphilosophen Pierre-Joseph Proudhon. Sie vertraten die Auffassung, daß Frauen grundsätzlich heiraten sollten und daß verheiratete Frauen grundsätzlich nicht außer Haus erwerbstätig sein sollten, damit sie sich ganz um die Kindererziehung und die Versorgung ihres Ehemannes kümmern können. Die Engländer, wo die Industrialisierung schon weiter fortgeschritten war und es bereits große und starke Gewerkschaften gab, waren ebenfalls gegen Frauenerwerbsarbeit, aber nicht zum Schutz der Familie, sondern weil sie eine Senkung ihrer Löhne durch billige Arbeitskräfte fürchteten.

  • Portrait Henri Tolain Henri Tolain

  • Portrait Pierre-Joseph Proudhon Pierre-Joseph Proudhon

Die Gegnerschaft zur Frauenerwerbsarbeit war einer der wenigen Punkte, an dem sich die Delegierten bei diesen ersten Kongressen einig waren. Sie faßten also Beschlüsse, die ein Verbot oder zumindest eine Einschränkung der Frauenerwerbsarbeit forderten – und das zu einer Zeit, wo das Hauptthema der Frauenbewegung die Forderung nach mehr Erwerbsarbeitsmöglichkeiten war. Die Internationale war also nicht nur antifeministisch, wenn man sie an heutigen Ideen und Ansprüchen mißt, sondern weil sie gegen die Feministinnen ihrer Zeit Position bezog – und also im Wortsinne anti-feministisch war.

Es ist also zunächst überraschend, daß es auch Frauen in der Ersten Internationale gab. In der Tat finden sich in diesen ersten Jahren kaum Spuren von Frauen, die dort inhaltlich mitgearbeitet hätten. Aber in den folgenden Jahren sind gleich mehrere interessante Frauen dort eingetreten. Es ist also anzunehmen, daß diese antifeministische Position an einem bestimmten Punkt ins Wanken gekommen ist.

Eine von diesen Frauen ist Virginie Barbet in Lyon. Von ihr weiß man biografisch nicht viel, nur daß sie eine Gaststätte betrieben hat und Mitglied in einer Gruppe von Feministinnen war. Virginie Barbet kam über einen Umweg zur Internationale. Ende 1868 nahm sie an einem Friedenskongreß in Bern teil und hielt dort eine Rede für den Zugang von Frauen zu Bildung und Erwerbsarbeit. Der Kongreß war veranstaltet von der Friedens- und Freiheitsliga, einem internationalen Zusammenschluß von zum Teil sehr prominenten fortschrittlichen Liberalen, wie zum Beispiel Victor Hugo, Giuseppe Garibaldi oder John Stuart Mill. Sie trat ein für eine Abschaffung der stehenden Heere, für die Auflösung der Nationalstaaten und die Gründung einer Europaunion. Die Liga war nicht nur bedeutender als die Internationale, hier gab es auch zahlreiche Frauen, meistens dezidierte Feministinnen.

Ehepaar Bakunin Auch der russische Revolutionär Michael Bakunin und einige seiner politischen Freunde und Freundinnen gehörten damals zur Friedensliga und nicht zur Internationale. Beim Kongreß in Bern kam es jedoch zu einem Streit über die Frage, ob die Liga auch wirtschaftspolitische, sozialistische Forderungen in ihr Programm aufnehmen sollte. Das hatte Bakunin in einer Rede gefordert, aber die Mehrheit der eher bürgerlichen Ligamitglieder lehnte das ab. Daraufhin traten 18 Männer und Frauen aus (darunter Bakunins Ehefrau, die Polin Antonia Kwiatkowska) und schlossen sich zu einer »Allianz der sozialistischen Demokratie« zusammen. (Foto links: Das Ehepaar Bakunin, ca. 1861)

Offenbar hat Virginie Barbet mit dieser Gruppe am Rande des Ligakongresses Kontakte geknüpft. Einige Monate später gründete sie nämlich in Lyon eine Allianz-Sektion. Sie war bald schon ein sehr aktives Mitglied, schrieb zahlreiche Artikel für die Zeitung »Egalité«, die die Allianz in Genf herausgab, und stand in einem politischen Briefwechsel mit Bakunin über Inhalte und Strategien der Organisation. Barbet war also nicht nur Feministin, sondern auch Sozialistin. In der Frauenrechtsbewegung, die (wie die Feministinnen in der Friedensliga) die ungerechten Eigentumsverhältnisse unangetastet ließ, konnte sie daher keine richtige politische Heimat finden, und in der Internationale mit ihrem antifeministischen Programm auch nicht.

Die Allianz bot da einen Ausweg, denn sie gab sich ein Programm, das gleich im zweiten Punkt – so wörtlich – die »Gleichmachung der Menschen beiderlei Geschlechts« fordert. Und zwar sollte das durch die Abschaffung des Erbrechts und die Sicherung einer qualitativ hochwertigen Ausbildung für alle Kinder gelingen. Man stellte sich vor, daß so ein gleicher Ausgangspunkt für alle Menschen geschaffen würde, von dem aus sie sich dann in ihrer individuellen Unterschiedlichkeit fortentwickeln könnten. Nur durch eine solche »Gleichmachung« wären die Unterschiede zwischen den Menschen wirklich auf ihre individuelle Verschiedenheit zurückzuführen und nicht mehr durch die Geburt vorherbestimmt – etwa das Geschlecht oder die Vermögensverhältnisse der Eltern. Dieses Programm verteidigte Virginie Barbet nicht nur in ihren Broschüren, Flugschriften und Zeitungsartikeln, sie war auch – wie man aus ihren Briefen an Bakunin entnehmen kann – maßgeblich an seiner Entstehung und Weiterentwicklung beteiligt.

Es entstand in der Allianz ein Streit darüber, ob man sich nun, nach dem Austritt aus der Friedensliga, der Internationale anschließen sollte. Vor allem die französischen Allianzmitglieder, zum Beispiel der später berühmte Geograf und Anarchist Elisée Reclus – waren dagegen. Sie wollten mit den französischen Internationale-Mitgliedern, den Anhängern Proudhons, nichts zu tun haben. In diesem Zusammenhang möchte ich anmerken, daß es nicht nur aus der Perspektive von Frauen, sondern auch aus zahlreichen anderen Gründen völliger Unsinn ist, Proudhon als Vater des Anarchismus zu bezeichnen. Die Begründer des anarchistischen Sozialismus um Bakunin grenzten sich von Proudhon viel mehr ab, als von Marx.

Daß die Allianz schließlich doch der Internationale beitrat, liegt daran, daß die Proudhonisten zu dieser Zeit bereits an Bedeutung verloren hatten. Andere hatten die Führung in der Pariser Internationale übernommen – zum Beispiel Eugène Varlin und Benoît Malon, zwei Männer, die bei den ersten Internationale-Kongressen gegen ihre antifeministischen Kollegen gesprochen hatten.

  • Portrait Eugène Varlin Eugène Varlin

  • Portrait Benoît Malon Benoît Malon

Auch in Paris begannen nun Frauen, sich für die Internationale zu interessieren. Eine der wichtigsten von ihnen ist die Schriftstellerin André Léo, die in fortschrittlichen Kreisen eine anerkannte politische Kommentatorin war, und deren Unterstützung der Internationale viel dazu beigetragen hat, daß die Organisation in der Öffentlichkeit an Bedeutung gewann.

Louise Michel (Mitte) und Paule Minck (rechts) André Léo war ungefähr Mitte vierzig. Ihr Name ist ein Pseudonym, das sich von ihren Zwillingssöhnen André und Léo herleitet, die damals 14 Jahre alt waren, der Vater war bereits Ende der 50er Jahre gestorben. André Léos journalistische und schriftstellerische Tätigkeit diente also auch dem Lebensunterhalt der Familie. Sie hatte einige erfolgreiche Romane veröffentlicht und 1866 eine feministische Gruppe gegründet, zu der auch später berühmte Feministinnen und Sozialistinnen gehörten wie zum Beispiel die Anarchistin Louise Michel, die Frauenrechtlerin Marie Deraismes oder die Mitbegründerin der französischen Arbeiterpartei, Paule Minck. (Foto rechts: Louise Michel (Mitte) und Paule Minck (rechts) mit einer Freundin)

Warum trat André Léo in die Internationale ein, wenn sie doch schon in der Frauenbewegung aktiv war? Auch hier ist, wie bei Virginie Barbet, wohl ausschlaggebend, daß ihr der liberale, republikanische Feminismus die ungerechten Eigentumsverhältnisse zu wenig berücksichtigte.

Dazu kam jedoch wohl die Motivation, die verschiedenen oppositionellen Kräfte in Frankreich zusammenzubringen: In Frankreich lag die Monarchie in den letzten Zügen. Allerdings war die Opposition reichlich zerfleddert, es gab Feministinnen, Sozialisten, Republikaner, die jeweils ihre eigenen Schwerpunkte setzen. André Léo versuchte, diese Gruppen davon abzubringen, sich gegenseitig zu bekämpfen und stattdessen gemeinsam auf die Abschaffung der Monarchie und die Etablierung einer echten Demokratie hinzuarbeiten. Demokratie war für sie nicht einfach eine parlamentarische Staatsform, sondern eine Gesellschaft, die in allen ihren Bereichen der Gleichheit der Menschen Rechnung trägt.

Léos Eintritt in die Internationale hatte vor allem den Zweck, die Sozialisten für die Anliegen der Feministinnen sensibel zu machen und so die Grundlage für eine Zusammenarbeit zu schaffen, während sie andererseits versuchte, die Feministinnen von der Notwendigkeit sozialistischer Forderungen zu überzeugen. Darüber kam es zum Konflikt zwischen ihr und Bakunin. Léo kritisierte vor allem Bakunins rigide Abgrenzung von der sogenannten »Bourgeoisie«. Seine polemischen Beschimpfungen möglicher Bündnispartner aus dem republikanischen Lager und seine radikale Rhetorik schade der gemeinsamen Bewegung.

Bakunin seinerseits kritisierte Léo als schwächlich und zu emotional. Sie hoffe, so schrieb her – typisch Frau, liest man zwischen den Zeilen – auf Harmonie, wo konsequente Härte und Abgrenzung gefragt sei. Allerdings stand Bakunin mit dieser Meinung ziemlich alleine da. Die meisten wichtigen Allianzmitglieder, zum Beispiel Reclus und Malon, unterstützten André Léo. Bakunin hat sein Urteil über André Léo später übrigens teilweise wieder revidiert.

André Léos Versuch, sozialistische und feministische Anliegen zusammenzubringen, wurde allerdings in der Pariser Kommune 1871 auf eine schwere Probe gestellt. Nach der Niederlage Frankreichs im deutsch-französischen Krieg und dem Ende der Monarchie, kam es im März 1871 zu einem Aufstand der Pariser Bevölkerung gegen die neue republikanische Regierung. Belagert von preußischen Truppen und angegriffen von französischem Militär konnte sich die Pariser Kommune nur zwei Monate halten, bevor sie blutig niedergeschlagen wurde, aber hier fand doch das erste »realsozialistische« Projekt der europäischen Geschichte statt.

André Léo gehörte zu den prominentesten Unterstützerinnen der Pariser Kommune. Allerdings erwies sich das Bündnis zwischen Sozialisten und Feministinnen als äußerst brüchig. Viele Feministinnen – teilweise auch Freundinnen von Léo – wandten sich gegen die Kommune und verließen Paris, während die rein männliche Kommuneregierung wiederum die Ansichten von Frauen nicht berücksichtigte. Daß Frauen wieder nicht wahlberechtigt waren, ist eine Sache. Schwerwiegender war jedoch, daß man einen erklärten Antifeministen, Jaroslav Dombrowski, zum Oberbefehlshaber der Kommunetruppen machte. Daß er sogar versuchte, Krankenschwestern und Marketenderinnen, die die Soldaten mit Essen versorgten, den Zugang zu den Schlachtfeldern zu verbieten, beschleunigte die militärische Niederlage der Kommune.

André Léo organisierte deshalb so etwas wie eine solidarische Opposition innerhalb der Kommune. In ihren Zeitungsartikeln kritisierte sie nicht nur antifeministische Beschlüsse der Kommuneregierung, sondern auch andere unterdrückerische Maßnahmen wie etwa die Einführung der Pressezensur oder die Absetzung kritischer Minister. Sie kritisierte vor allem die Haltung vieler Kommunarden, daß der Zweck die Mittel heilige. Für Léo stand aber fest, daß eine Bewegung, die ihre eigenen Ziele schon in ihren Anfängen verrät, zum Scheitern verurteilt sei. »Wenn wir uns verhalten, wie unsere Gegner«, schrieb sie, »wie soll sich dann die Welt zwischen ihnen und uns entscheiden?«.

Nicht alle teilten diese Meinung. So scheint zum Beispiel Louise Michel, die später für ihr Engagement in der Kommune berühmt wurde, mehr Verständnis für autoritäre Maßnahmen gehabt zu haben. Zur Anarchistin wurde sie erst später, nach ihrer Rückkehr aus der Deportation. Allerdings war sie damals auch noch sehr jung und spielte keine bedeutende Rolle. Man müßte einmal den Einfluß von André Léo auf Michels Denken untersuchen, ich glaube, daß er erheblich ist.

Es gab aber eine andere Gegnerin von André Léos kritischsolidarischer Haltung gegenüber der Kommune, die sehr einflußreich war, und zwar die Russin Elisabeth Dmitrieff. Auch sie war ein Mitglied der Internationale. Sie war noch sehr jung, gerade 21 Jahre alt, und außerdem recht wohlhabend. Sie stammte aus einer aristokratischen Familie und lebte eigentlich in Genf. Dort hatte sie ein Jahr zuvor eine russische Internationale-Sektion gegründet, die gegen die Allianz Opposition machte. Sie störte sich vor allem an der radikalen Rhetorik des Allianz-Programms, das ihr zu weltfremd und zu abgehoben erschien, um damit die Massen zu erreichen. Ende 1870 war sie nach London gereist, um Kontakt mit Karl Marx und mit dem Generalrat der Internationale aufzunehmen. Als die Nachricht vom Kommuneaufstand kam, setzte sie sich in den nächsten Zug nach Paris.

Elisabeth Dmitrieff war keine große Denkerin und Theoretikerin, aber eine begnadete Agitatorin. In nur zwei Wochen stampfte sie die größte Frauenorganisation der Kommune aus dem Boden, die Union des Femmes. Vermutlich hatte sie Empfehlungsschreiben von Marx für die Kommuneregierung dabei, aber es ist trotzdem eine erstaunliche Leistung. Die »Frauenunion« etablierte sich rasch als Vertreterin von Fraueninteressen generell, Elisabeth Dmitrieff verhandelte mit der Kommuneregierung über die Organisation der Frauenarbeit, sie setzte feste Aufträge und Preise durch für die Frauenwerkstätten, die zum Beispiel die Uniformen für die Nationalgarde nähten. Die Union organisierte Krankenhelferinnen, verteilte Lebensmittel, und agitierte unter Arbeiterinnen und Arbeiterfrauen für die Ziele der Kommune.

Elisabeth Dmitrieff hatte kein Verständnis für André Léos kritische Position gegenüber zentralistischen, diktatorischen Tendenzen in der Kommune. Wer intern Kritik äußerte, war für sie eine Verräterin, und sie griff André Léo öffentlich an. Die ging ihrerseits nicht öffentlich auf diese Angriffe ein, aber es ist auffällig, daß Louise Michel in ihren Memoiren, in denen sie ausführlich über die Pariser Kommune schreibt, Dmitrieff nur in einem Nebensatz erwähnt.

Dmitrieffs fehlende Konsequenz in der Einforderung feministischer Anliegen gegenüber den Männern die Kommune führe ich auf ihre Herkunft zurück. In Rußland waren die jungen Revolutionäre und Revolutionärinnen damals überzeugt, daß sie die Unterschiede zwischen den Geschlechtern einfach dadurch abgeschafft hätten, daß sie sie nicht mehr gelten lassen. Die Gleichheit von Frauen und Männern hängt ihrer Meinung nach also von einem reinen Willensakt ab. Diese sogenannten »Nihilistinnen« stammten meistens, wie Dmitrieff und Bakunin ja auch, aus aristokratischen Verhältnissen, so daß sie die typisch bürgerliche Geschlechterkonstruktion nicht selbst kennengelernt hatten. Paradoxerweise führte das dazu, daß sie den Kampf gegen diese Konstruktion des Geschlechterunterschiedes für nicht so wichtig hielten.

Die Französinnen dagegen wußten, daß man die Abschaffung Geschlechterrollen nicht einfach so beschließen kann. Sie wußten, daß es ein langer und mühsamer Prozeß ist, der an die Grundfesten der gegebenen Gesellschaft rührt. Deshalb legten sie auch besonders großen Wert auf eine Reform des Erziehungswesens. Die Kommune bestand aber nicht lange genug, um diese Differenzen auszutragen.

  • Demonstrationszug der New Yorker Internationale Demonstrationszug der New Yorker Internationale aus Solidarität mit der Pariser Kommune

Nach der Niederschlagung der Pariser Kommune Ende Mai 1871 gelang beiden, Léo und Dmitrieff, die Flucht in die Schweiz. Und dort spielte Dmitrieff keine Rolle mehr, wohl aber André Léo, die nun eine Lebensaufgabe darin sah, die Verbrechen des französischen Militärs – in nur wenigen Tagen wurden mindestens 20.000 Männer und Frauen ohne Urteil hingerichtet – anzuprangern.

Nach der Kommune kam es zum Richtungsstreit in der Internationale. Die meisten Kommuneflüchtlinge, die in sozialistischen Kreisen nun als Helden und Heldinnen galten, orientierten sich eher zur anarchistischen Allianz. Karl Marx und Friedrich Engels fürchteten um ihren Einfluß. Deshalb gingen sie – im Namen des von ihnen kontrollierten Generalrats in London – zunehmend dazu über, unliebsame Sektionen aus der Internationale auszuschließen. Zu einem ihrer ersten Opfer wurde die Sektion 12 in New York – und dies führt uns zu einer weiteren interessanten Frau in der ersten Internationale.

In die USA war die Internationale zunächst durch Einwanderer aus Deutschland, Frankreich, Irland und Osteuropa gekommen. Meistens sprachen sie nicht einmal englisch, und daher wurden sie auch von den einheimischen Arbeitern und von der amerikanischen Öffentlichkeit kaum beachtet. Das änderte sich erst, als Victoria Woodhull mit ihrer Schwester, Tennessee Claflin, und einigen Freundinnen und Freunden (unter anderem der bekannte Freidenker und Philosoph Stephen Pearl Andrews) die erste englischsprachige Sektion der Internationale gründete, die sogenannte Sektion 12 in New York.

Victoria Woodhull war damals eine berühmte Rednerin und Frauenrechtlerin, die soeben bekanntgegeben hatte, daß sie für die Präsidentschaft der USA kandidieren wolle. Sie stammte aus einer dubiosen, kleinkriminellen Unterschichtsfamilie, war aber mit Hilfe des Eisenbahnmillionärs Cornelius Vanderbilt zu Wohlstand gekommen. Der damals wohl reichste Mann Amerikas bezahlte Victoria Woodhull und ihrer Schwester Tennessie Claflin üppige Honorare – für hellseherische und vermutlich auch sexuelle Dienstleistungen. Mit dem Geld hatten die Schwestern eine eigene Broker-Firma an der Wallstreet gegründet und waren durch geschickte Investitionen reich geworden. Sie gründeten eine Zeitung, das Woodhull and Claflin’s Weekly, in der sie frauenrechtlerische und sozialistische Artikel neben den neuesten Börsennachrichten brachten. Die Zeitung veröffentlichte als erste in den USA das kommunistische Manifest, auch Jenny Marx und andere europäische Internationale schrieben hier Artikel. Karl Marx war froh, das kann man seinen Briefen aus dieser Zeit entnehmen, endlich ein Sprachrohr zu haben, über das man die amerikanische Öffentlichkeit erreichen konnte.

  • Portrait Cornelius Vanderbilt Cornelius Vanderbilt

  • Portrait Tennessee Claflin Tennessie Claflin

  • Portrait Stephen Pearl Andrews Stephen Pearl Andrews

Allerdings hatte Victoria Woodhull ihre eigenen Ansichten über den Sozialismus. Dessen wichtigste Aufgabe sei es, so meinte sie, für die »soziale Freiheit« zu kämpfen, ein Begriff, der in Europa meistens mit »freie Liebe« übersetzt wurde. Woodhull trat für die sexuelle Befreiung der Frauen ein, wozu auch das Recht auf Abtreibung oder eine Anerkennung von Prostituierten zählte, für die Unabhängigkeit der Frauen von ihren Ehemännern, gegen moralische und sittliche Schranken für den weiblichen Freiheitsdrang. Dieses Ziel, meinte sie, müsse sich auch der Sozialismus auf die Fahnen schreiben, was natürlich den konservativen Einwanderern, vor allem denen aus Deutschland und Irland, nur schwer zu vermitteln war.

Es würde an dieser Stelle zu weit führen, die Theorien von Victoria Woodhull im Detail darzustellen, denn dazu müßte ich zunächst über die Situation in den USA sprechen, die sich sehr von der in Europa unterschied. Ähnlich wie André Léo trat jedoch auch Woodhull für eine Zusammenarbeit zwischen proletarischen, feministischen und bürgerlichen Kräften ein. Interessant ist aber vor allem die Reaktion, die sie in Europa auslöste – es kam nämlich am Beispiel der Sektion 12 zur ersten expliziten Diskussion über das Thema Haupt- und Nebenwiderspruch. Engels und Marx beim Haager Kongress Auf Protest vor allem der deutschen Einwanderersektion schloß der Generalrat die Sektion 12 aus der Internationale aus mit der Begründung, daß in der Internationale nur die Arbeiterfrage zu behandeln sei, und nicht die Frauenfrage.

Zu dieser Zeit lag die Internationale aber ohnehin schon in den letzten Zügen. Engels und Marx (Bild rechts: auf dem Haager Kongreß) schlossen nicht nur die Sektion 12, sondern auch viele andere, die nicht ihr begrenzes Verständnis von Sozialismus teilten, zum Beispiel auch eine Sektion, die Kommuneflüchtlinge in Genf gegründet hatten, und zu der André Léo und Virginie Barbet gehörten. Bakunin und einige seiner Anhänger wurden ebenfalls aus der Internationale ausgeschlossen. Die allermeisten Sektionen in Belgien, Italien, Frankreich, Spanien und der Schweiz, schließlich sogar viele in England wandten sich nun von der Internationale ab oder versuchten, Einfluß im Generalrat zu bekommen. Um das zu verhindern verlegten Marx und Engels schließlich den Sitz des Generalrats nach Amerika, was natürlich faktisch das Ende der Internationale bedeutete.

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Vortrag am 10. Mai 1999 im »Dezentral« in Frankfurt