Politik verkörpern statt Stellung beziehen
Feministische Sozialistinnen im 19. Jahrhundert
Feministische Sozialistinnen in der ersten Internationale – nun, dass es die gegeben hat, obwohl sie in der Literatur so gut wie gar nicht vorkommen, dürfte wohl keine von Ihnen verwundern. Natürlich gab es auch in diesem legendären ersten Dachverband der europäischen Arbeiterbewegung in den Jahren 1864 bis 1872, die durch ihre Führungsfiguren wie Marx oder Bakunin bekannt geworden ist, Frauen. Diese Tatsache als solche ist für Feministinnen wenig überraschend und ich möchte Sie hier jetzt auch nicht mit Namen, Daten, Fakten langweilen.
Was mich an dem Thema interessiert, ist vielmehr die Suche nach einer weiblichen politischen Ideengeschichte. Was lässt sich von diesen Frauen lernen darüber, wie eine Frau innerhalb historisch männlicher Vorstellungen von Politik politisch handeln kann? Was ist ihr Verständnis des Politischen?
Die politische Ideengeschichte ist fast ausschließlich von Männern bevölkert. Diese frappierende Abwesenheit der Frauen lässt sich nicht einfach mit dem üblichen Androzentrismus der Wissenschaft erklären. Denn in anderen Teilbereichen der Politikwissenschaft (etwa »internationale Beziehungen« oder »politische Institutionen«) ist ihr Anteil wesentlich höher. Es ist auch kein politisches Desinteresse von Frauen, denn Frauen sind und waren immer politisch aktiv, was Dank der historischen Frauenforschung inzwischen auch gut dokumentiert ist.
Die Abwesenheit der weiblichen Differenz betrifft also nicht einfach die Politik als solche, sondern speziell die Geschichte der politischen Ideen. Warum ist das so?
Hier ein Erklärungsversuch: Durch die politische Ideengeschichte zieht sich wie ein roter Faden ein Konflikt, nämlich der »Konflikt der Söhne mit den Vätern, die sich in Todesgefahr begeben, um die Beute der Wahrheit einzufangen«, wie es die italienische Philosophin Wanda Tommasi formuliert.Auf Parmenides folgt Platon, auf Platon Aristoteles und so weiter bis heute, wobei jede »Aufhebung« der alten Ideen gleichzeitig die Konservierung des väterlichen Andenkens bedeutete. Tommasi entdeckt darin ein männliches Bedürfnis nach Sichtbarkeit und Eindeutigkeit. Wenn das aber so ist, ist es kein Wunder, dass Frauen dort nicht aufzufinden sind. Es kann also nicht darum gehen, die Frage nach dem Ausschluss der Frauen aus der politischen Ideengeschichte zu stellen (und entsprechend als Gegenbewegung: ihren Einschluss zu fordern oder voranzutreiben). Vielmehr geht es darum, die Art der Beziehung zwischen einer »Politik der Frauen« und dem, was in männlicher Kultur »Politik« heißt herauszuarbeiten – eine Beziehung, die, wie Tommasi schreibt, die »Abwesenheit in ein Anderswo-Sein verwandelt hat, und die Distanz vom Zentrum in eine Nähe zu etwas Anderem.«
Anders gesagt: Wenn die Frauen einerseits politisch aktiv und interessiert sind, andererseits aber in dem männlichen ideengeschichtlichen Diskurs so auffällig fehlen – wo sind sie stattdessen? An welchen Orten halten sie sich auf, wenn nicht dort, wo über richtig und falsch einer politischen Idee gestritten wird? Und: Ist es dort, wo sie sind, nicht vielleicht interessanter?
Das ist es, was ich am Beispiel der Frauen in der Ersten Internationale untersuchen möchte. Wie gesagt, es finden sich in den Quellen zahlreiche Spuren von Frauen, die in der Internationaleaktiv waren: Da ist zum Beispiel Virginie Barbet in Lyon, die eine sozialdemokratische Frauengruppe gründete, Artikel für sozialistische Zeitungen schrieb und im Briefwechsel mit führenden Anarchisten stand. Oder die junge Russin Elisabeth Dmitrieff, die in Genf eine Sektion der Internationale gründete, die nach London reiste, um Karl Marx kennen zu lernen, und die in der legendären Pariser Kommune einen großen Frauenorganisation – die Union des Femmes – gründete. Ebenfalls ein führendes Mitglied der Kommune war die französische Schriftstellerin und Feministin André Léo, die mit ihrem Eintritt in die Internationale für Aufsehen und Verwunderung sorgte. Und da ist Victoria Woodhull, eine US-amerikanische Feministin und erste weibliche Präsidentschaftskandidatin, die in New York Sektionen der Internationale gründete und die schließlich wegen inhaltlicher Differenzen mit Marx aus der Internationale ausgeschlossen wurde.
Wer waren diese Frauen? Welche politischen Ideen vertraten sie? Was ist ihr Beitrag zur Ideengeschichte des Sozialismus?
Üblicherweise werden sie einer der üblichen »Schulen« zugeordnet. Virginie Barbet sei eine Anarchistin, heißt es, denn sie war Mitglied in einer anarchistischen Gruppe. Elisabeth Dmitrieff sei Marxistin, weil sie Kontakt mit Karl Marx suchte und gegen die Anarchisten polemisierte. André Léo und Victoria Woodhull wiederum seien gar keine »richtigen« Sozialistinnen, weil sie zu oft gemeinsame Sache mit den Bürgerlichen, mit der »Bourgeoisie« gemacht hätten.
Solche in der Politikwissenschaft üblichen Interpretationen stellen also die Frage nach der politischen Identität, nach Gleichheit und Ungleichheit, nach Zugehörigkeit und Ausschluss: X vertritt die gleichen Thesen wie Y, ist in derselben Gruppe aktiv wie Z. X ist Anhängerin von Y, und Gegnerin von Z. Wenn Dmitrieff Marxistin ist, kann sie keine Anarchistin sein. Wenn Woodhull an der Börse spekuliert, dann kann sie keine Sozialistin sein, und so weiter.
Im Fall der Ersten Internationalen scheint diese Herangehensweise zunächst plausibel. In ermüdender Breite und Ausführlichkeit diskutierten die Sektionen, Ausschüsse und Kongresse nämlich genau solche Fragen: über einzelne Formulierungen in einzelnen Statuten, über die Frage, wer dazu gehört und wer nicht. Allein die Zulassung der Delegierten zum Beispiel nahm bei den in internationalen Kongressen oft die Hälfte der Zeit in Anspruch.
Bei diesen Kongressen waren keine Frauen anwesend. Auch mir, der Forscherin, gelang es bei der Lektüre der viele hundert Seiten langen Protokolle nur mit größter Mühe, anwesend zu bleiben. Ob meine innere Abwesenheit von dem, was ich da las, etwas mit der realen Abwesenheit der Frauen, über die ich forschte, zu tun hatte? Anders gefragt: Gab es einen Zusammenhang zwischen der Abwesenheit der Frauen und dem Umstand, dass dort nichts Interessantes geschah?
Diese Quellen-Lektüre, die ich so mühsam fand, hat meine männlichen Forscherkollegen nämlich keineswegs gelangweilt: Mit ebensolcher Sorgfalt wie die Delegierten vor 140 Jahren ihre Tagesordnung abarbeiteten, editierten sie später deren Protokolle und produzierten eine enorme Menge von Sekundärliteratur, deren Sinn und Relevanz mir einfach nicht plausibel wurde. Deshalb wollte ich ja die Frauen erforschen: Hatten sie vielleicht die interessanten Themen, die besseren Ideen, Theorien und Gedanken, die – für mich – nicht so langweilig wären?
Allerdings ließen die Damen in dieser Hinsicht nicht viel von sich hören. Zu den »großen Themen« in der Internationale schwiegen sie meistens, oder sie äußerten sich widersprüchlich, auf jeden Fall aber längst nicht so engagiert, spritzig, pointiert wie die Männer. Ob es um die Gründung von Arbeiterparteien, das Gemeinschaftseigentum an Grund und Boden, das Privateigentum an Produktionsmitteln, das Erbrecht oder die Haltung zur »Polenfrage« ging – von wenigen Ausnahmen abgesehen blieben die Positionen der Sozialistinnen merkwürdig blass. Gemessen an den wortgewaltigen Manifesten und Pamphleten der Männer jedenfalls machten sie irgendwie eine schlechte Figur. Ihr Sozialismus war irgendwie »diffus«.
An diesem Punkt war ich ziemlich ratlos. Das einzig Interessante an den Frauen in der Internationale schienen nicht ihre Positionen, also ihre »Ideen« im üblichen politikwissenschaftlichen Sinn gewesen zu sein, sondern die Tatsache als solche: dass sie Frauen in der Internationale waren. Aber wenn genau das die Antwort wäre? Was, wenn die »Idee«, die hinter dem politischen Handeln dieser Frauen stand, nicht diese oder jene theoretische Überzeugung wäre, die mit denen der Männer in der Internationale in Konkurrenz treten würde, so wie die Männer untereinander um die beste Idee konkurrierten, sondern die Tat als solche? Denn jetzt fiel mir auf, dass ich die entscheidende Frage noch gar nicht gestellt hatte: Wieso eigentlich traten diese Frauen, die doch Feministinnen waren, überhaupt einem Männerverein mit antifeministischen Strömungen bei, wie es die Internationale schließlich war?
Selbstverständlich oder auch nur nahe liegend war das nämlich keineswegs: Virginie Barbet zum Beispiel hatte 1868 an einem Kongress der »Friedens- und Freiheitsliga« teilgenommen und eine Rede gehalten, der dezidiert frauenfreundliche Beschlüsse fasste. Trotzdem verließ sie die Friedensliga, um sich der Internationale anzuschließen. Warum? Elisabeth Dmitrieff kam aus dem russischen Nihilismus, einer Bewegung junger Männer und Frauen, die mit konventionellen Geschlechterrollen gebrochen hatten. Warum hat sie diese fortschrittlichen Kreise verlassen, um sich einem drögen Altmännerverein anzuschließen? André Léo war schon lange eine führende Persönlichkeit der französischen Frauenbewegung und anerkannte Schriftstellerin. Warum setzte sie ihre Reputation aufs Spiel und zerstritt sich mit ihren Freundinnen aus der bürgerlichen Frauenbewegung, um sich der Internationale anzuschließen – einer verbotenen und zudem in Frankreich noch besonders antifeministischen Gruppierung? Und Victoria Woodhull schließlich, ein Star der amerikanischen Frauenbewegung: Was um Himmels willen wollte sie in einer Organisation, die in Amerika völlig unbedeutend war und nur eine Handvoll Mitglieder zählte?
Mit ihrem Beitritt zur Internationale riskierten alle vier den Vorwurf des Verrats an den Interessen der Frauen – und das, obwohl sie ihre feministischen Positionen keineswegs aufgaben. Ihr Beitritt zur Internationale war ganz offensichtlich ein symbolischer Akt, aber worin bestand seine Relevanz?
Um dies zu verstehen ist es nötig, einen kurzen Blick auf die Zeitumstände zu werfen.
Noch in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts hatten beide großen sozialen Bewegungen, die Arbeiter- und die Frauenbewegung, Hand in Hand gearbeitet. Die frühsozialistischen Bewegungen vertraten insgesamt einen breiten kulturellen Anspruch, ihre Forderungen und Experimente galten neuen Lebens- und Wirtschaftsformen, die Familie, Geschlechterbeziehungen und Produktionsverhältnisse gleichermaßen betrafen.
Doch in der Mitte der 1850er Jahre drifteten beide Bewegungen immer mehr auseinander. Männliche Sozialisten übernahmen im Gefolge von Proudhon extrem antifeministische Positionen, die sogar noch die der bürgerlichen Antifeministen übertrafen. Die Frauenbewegung ihrerseits warf alle sozialistischen Forderungen über Bord und beschränkte sich darauf, für mehr Bildung und Erwerbsarbeit sowie das Wahlrecht einzutreten. In der Arbeiterbewegung ging es zunehmend nur noch um politischen Einfluss und höhere Löhne. Die Frauenfrage wurde zum »Nebenwiderspruch«. Weil beide Bewegungen nur noch ihre eigenen Interessen vertraten und nicht das allgemeine Gute im Blick behielten, weil sie den ganzheitlichen kulturellen Ansatz aufgaben, gerieten sie nun in Gegnerschaft zueinander: Während die Männer streikten, nutzten die Frauen die Chance, sich neue Arbeitsmöglichkeiten zu erschließen und wurden so zu Streikbrecherinnen. Die Männer schlossen die Frauen dafür aus ihren Gewerkschaften aus und propagierten das Weib im Heim und am Herd.
Eine Feministin, die in so einer Zeit Mitglied in einem männerdominierten Arbeiterverband wie der Internationale wurde, löste sich aus diesem unfruchtbaren Patt, in das die Arbeiterbewegung und die Frauenbewegung mit ihren Positionen geraten waren. Eine Feministin, die in die Internationale eintrat, äußerte ihre Kritik an der Entwicklung aber nicht, indem sie eine dritte Partei gründete, einen weiteren theoretischen Text schrieb, sondern sie überwand sie konkret.
Sie geht hin zum vermeintlichen Gegner. Sie verlässt die Politik der Positionierungen und Standpunkte und tritt ein in eine Politik der Beziehungen. Indem sie so handelt, bringt sie ihre persönliche Differenz ins Spiel, und das führt unweigerlich zu Diskussionen: Was willst du hier? Wollen wir dich überhaupt bei uns haben? Und dürfen deine Lebensumstände und Erfahrungen, also die einer Frau, hier eine Rolle spielen – oder sind das nicht Nebensächlichkeiten?
Diese Diskussionen wurden in der IAA ja wirklich geführt. Auch wenn Frauen in diesen Internationalen Kongressen nicht dabei waren, so wandelte sich doch die Position nach einigen Jahren und wurde weniger antifeministisch. Auch wenn Männer hier die entscheidenden Reden hielten, so hatten sie ja bestimmt keine »feministische Erleuchtung«, sondern ihr Verhalten war auch beeinflusst von den konkreten Frauen, mit denen sie »zuhause« in Kontakt standen.
Der körperliche Akt als solcher, also der konkrete Eintritt einer Frau aus Fleisch und Blut in die Organisation der »anderen«, der Männer, schuf die Notwendigkeit einer Vermittlung, die anders niemals zustande kommen wäre. Besonders deutlich wird das in Frankreich, wo sich die Internationale anfangs weigerte, Frauen aufzunehmen. Dagegen haben die französischen Sozialistinnen nicht protestiert oder argumentiert, sondern sie haben das einfach ignoriert. Sie haben mitgearbeitet, Verbündete gesucht, bis schließlich dieses Verbot obsolet geworden war.
Unter dieser Perspektive gewinnen die Aktionen und Schriften der Sozialistinnen, die auf der Folie der theoretischen Positionierungen der klassischen Internationale-Fraktionen so unzusammenhängend und wenig kohärent, »diffus« eben erscheinen, durchaus einen Sinn.
Virginie Barbet zum Beispiel hat einerseits die Forderung streikender Textilarbeiterinnen nach Lohnerhöhung unterstützt, kurz darauf aber einen Aufruf von Frauenrechtlerinnen nach höheren Fabriklöhnen scharf kritisiert. Ja was denn nun: Ist sie für oder gegen Lohnerhöhungen? könnte man fragen. Aber ihre Haltung erscheint nur widersprüchlich, wenn man darin nach prinzipiellen Positionen sucht. Sie gewinnt Sinn, wenn der Kontext in den Blick genommen wird, die Beziehungen, die sich hinter einer solchen Forderung verbergen: Im ersten Fall will sie die Arbeiterinnen, die sich im Streik befinden, unterstützen. Im zweiten Fall distanziert sie sich von einer bürgerlichen Frauengruppe, der es nicht um Revolution, sondern um eine Verbesserung des Kapitalismus geht.
Ähnliche Beispiele lassen sich auch bei den anderen Sozialistinnen finden: André Léo etwa ist einmal gegen eine Beteiligung von Frauen am bewaffneten Kampf (in einer Situation, als dies aus militärischer Sicht keinen Sinn hat), dann ist sie wieder dafür (als die Pariser Kommune akut bedroht ist).
Eine solche Politik des »Diffusen« bedeutet die Abkehr von Prinzipien zugunsten einer Wertschätzung des Kontextes, zu einem Handeln in Beziehungen. Das widersprach aber dem damaligen Trend, wonach Politik zunehmend als Streit zwischen gegensätzlichen Parteien verstanden wurde. Immer mehr ging man nämlich dazu über, gesellschaftliche Interessensgegensätze zu betonen (Männer gegen Frauen, Kapital gegen Arbeit). Während Marx Kapital und Arbeit als unvereinbare Gegner profilierte, sahen viele Frauenrechtlerinnen die Ursache für das Leid der Frauen zunehmend in der Böswilligkeit der Männer. Dass die Sozialistinnen stattdessen mit Männern kooperierte – und zwar nicht nur mit den »guten«, den so genannten »supporting males« der Frauenbewegung, sondern auch mit den »bösen«, den »Antifeministen«, hat sie dem (von Zeitgenossinnen wie später von Forscherinnen vorgebrachten) Verdacht ausgesetzt, sie fürchteten eine konsequente Konfrontation mit dem männlichen Patriarchalismus. Dass ihr Feminismus ebenso »diffus« war wie ihr Sozialismus brachte ihnen den Vorwurf ein, sie seien nicht wirklich »radikal« – ein merkwürdiger Vorwurf bei Frauen, die wie André Léo und Elisabeth Dmitrieff im politischen Kampf ihr Leben riskierten, die wie Virginie Barbet ins Exil gezwungen wurden oder wie Victoria Woodhull im Gefängnis landeten.
Nein, nicht fehlende Radikalität war der Grund, warum sie sich dem verführerischen Schema »Männer gegen Frauen« widersetzten, sondern vielmehr die Treue zu den Wurzeln der sozialen Bewegungen, die für das allgemeine Gute eingetreten waren.
Die feministischen Sozialistinnen hatten gewissermaßen eine andere Weise des politischen Handelns entdeckt als die der klaren Positionierungen. Sie hatten verstanden, dass sich das Problem der Zersplitterung sozialer Bewegungen nicht auf theoretische Weise lösen ließ.Denn die gegenläufigen Interessen von Männern und Frauen, Arbeitern und Unternehmern waren unter den Bedingungen des bürgerlichen Kapitalismus schließlich eine Tatsache, die Konflikte hatten ja einen realen Hintergrund. Die entsprechenden Analysen der Sozialisten und Frauenrechtlerinnen waren ja keineswegs aus der Luft gegriffen: Viele männliche Arbeiter dieser Jahre waren Antifeministen, viele Frauenrechtlerinnen trugen zum Lohndumping bei, indem sie bei Unternehmern mit niedrigeren Frauenlöhnen für Frauenarbeitsplätze warben.
Die sozialistischen Feministinnen standen gewissermaßen mit je einem Bein auf auseinanderdriftenden Eisschollen: Einerseits die Arbeiterbewegung, andererseits die Frauenbewegung. Gegen diesen Trend bestanden sie darauf, dass es in der Politik darum gehen müsse, die gemeinsamen Interessen aller Menschen geltend zu machen, wohl wissend, dass Differenzen da und sogar unüberbrückbar sind.
Ein schwieriges Unterfangen, für das sie aber einen Weg fanden: Statt theoretische Positionen auszuarbeiten, verkörperten sie eine Politik der persönlichen Vermittlungsarbeit: Hingehen und mit den anderen reden. Auch wenn das bedeutet, die schöne Einigkeit und Heimeligkeit des feministischen Konsenses und der weiblichen Kultur zu verlassen. Beziehungen aufbauen, in Kontakt bleiben statt abstrakte Forderungen zu erheben und Grenzen zwischen Freund und Feind zu markieren.
So wie Virginie Barbet bei einem großen Streik in Le Creuzot, wo sie die Frauen der streikenden Männer anführte: Ihr Vorgehen war es, mit den Soldaten zu reden, die den Streik niederschlagen sollten, und ihnen klar zu machen: Was ihr macht, ist falsch. Wir sind eure Nachbarinnen, eure Mütter, und dies sind eure Brüder, wir haben keine gegensätzlichen Interessen. Genau dieses politische Handeln – hingehen und mit den anderen reden – ermöglichte auch das erste realsozialistische Experiment Europas, die Pariser Kommune: Als am 18. März 1871 französische Soldaten die Waffen aus der Stadt abtransportieren sollten, um sie den preußischen Belagerern auszuhändigen, gingen die Frauen hin und redeten mit ihnen. Sagten ihnen, dass sie die Waffen brauchten, um sich gegen die Angreifer zu verteidigen und luden die jungen Männer ein, bei diesem Experiment, eine Stadt nach sozialistischen Prinzipien zu gestalten, mitzumachen. Mit Erfolg: viele Soldaten ließen sich überzeugen. Als anschließend die Nationalgarde kam, war ein Kampf gar nicht mehr notwendig.
Ich glaube, dass die feministischen Sozialistinnen hier eine Praxis verfolgten, die sich als eine »Politik der Frauen« beschreiben lässt. Denn es gehört zur Lebenserfahrung von Frauen, dass die eigene Existenz weniger auf irgend einer »Identität« gründet, angefangen beim eigenen Namen, den Frauen mit jeder Heirat ändern, über die Berufstätigkeit, die sie flexibel den jeweiligen familiären Notwendigkeiten anpassen, bis hin eben zur Zugehörigkeit zu einer politischen Partei oder einer ideologischen Schule.
Die Existenz einer Frau hängt nicht von ihrer »Identität« ab, sondern von den Beziehungen, die sie führt, und alle Namen, die sie dafür findet, alle Inszenierungen, die sie wählt, um sich in dieser Welt zu zeigen, haben nicht den Sinn, ihre Identität zu definieren, sondern Vermittlungen zu finden zwischen dem, was sie ist und dem, was die/der andere ist. Politisches Sprechen muss keine Grenzen abstecken, sondern es hat, wie jedes Sprechen, den Sinn, zu verhandeln über die eigenen Wünsche und die Wünsche der anderen, und zwar nicht abstrakt und theoretisch, sondern konkret, im hier und jetzt.
Dieses Wissen brachten die Sozialistinnen in der Mitte des 19. Jahrhunderts in einen zeitgenössischen politischen Diskurs ein, der gerade von einem gegensätzlichem Trend geprägt war: dem Entstehen eines modernen Parteiensystems, in das sich auch die bürgerliche Frauenbewegung eingliederte mit der Idee, sie müsse »parteiisch« sein für die Frauen. Es ist kein Zufall, dass eines der Themen, an denen die Internationale schließlich zerbrochen ist, die Frage nach der Gründung politischer Arbeiterparteien war (was die Marxisten befürworteten, die Anarchisten ablehnten). In dem Bemühen, sich in diesen politischen Trend ihrer Zeit einzuordnen, interpretierten auch viele Frauenrechtlerinnen den Feminismus nicht mehr als Bewegung zum Wohl der Allgemeinheit, sondern als Interessensverband von Frauen, der »parteiisch« ihre Anliegen gegen die »anderen«, die Männer in diesem Fall, vertreten sollte. In so einem politischen Diskurs aber – egal, ob er in Form von Petitionen, Parteiprogrammen und politischen Theorien geführt wird oder in Form einer politikwissenschaftlichen Forschung über diese Ideen – geraten die Personen, die ihn führen, und die Beziehungen, die sie untereinander verbinden, in den Hintergrund. Sie werden reduziert auf eine psychologische Deutung der beteiligten Individuen oder die soziologischen Umstände ihres Entstehens, werden also lediglich als Mittel herangezogen, um die politischen Texte selbst zu verstehen.
Die politische Praxis von Frauen lehrt jedoch – und die Sozialistinnen des 19. Jahrhunderts sind dafür nur ein Beispiel – dass es genau anders herum ist: Dass die konkreten Beziehungen zwischen politischen Akteuren und Akteurinnen das Zentrale der Politik sind, und nicht die Standpunkte, die sie jeweils vertreten. Weil es im Politischen nämlich nicht um die Ideen selbst geht, sondern um die Vermittlungsarbeit im Bezug auf Ideen. Es sind immer Beziehungen, in denen über das Politische verhandelt wird, wofür Texte, Positionen und Standpunkte zwar hilfreich sein können, aber nicht entscheidend. Die weibliche Praxis des Politischen lehrt, dass es darum geht, Politik zu verkörpern und nicht darum, Stellung zu beziehen.
Kurzvortrag bei der Tagung »Kommunikation – Mobilität – Netzwerke. Die internationalen Dimensionen der Frauenbewegung« an der Uni Bremen am 17.9.2005.
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