Mit offenem Visier. Klarnamen vs. Anonymität im Internet
in: Publik Forum 8/2011, 23.9.2011
Es war wohl ein eher spontaner Gedanke, den Innenminister Hans-Peter Friedrich da hatte: Nach den Terroranschlägen in Norwegen forderte er in einem Interview mit dem SPIEGEL ein Verbot anonymer Beiträge im Internet. „Politisch motivierte Täter wie Breivik finden heute vor allem im Internet jede Menge radikalisierter, undifferenzierter Thesen, sie können sich dort von Blog zu Blog hangeln und bewegen sich nur noch in dieser geistigen Sauce“, so Friedrich. Deshalb sollten Blogger oder Menschen, die in Kommentaren ihre Meinung äußern, dies nicht mehr anonym tun dürfen. „Mit offenem Visier argumentieren“, nennt Friedrich das.
Umgehend kam Kritik aus den Reihen von Internetaktivisten. „Meinungsfreiheit bedeutet, dass man ohne Angst vor Konsequenzen seine Meinung sagen kann“, konterte etwa der Bundesvorsitzende der Piratenpartei, Sebastian Nerz. Anonymität sei schließlich auch außerhalb des Internet ein verbreitetes Konzept. So könne man etwa anonyme Anzeigen bei der Staatsanwaltschaft einreichen oder anonyme Brief an Abgeordnete schreiben.
Beide Positionen verkennen die Besonderheiten des Internet. Dass ein genereller Zwang zum Klarnamen nicht praktikabel wäre, hat Friedrich schnell gemerkt und ist zurückgerudert: Der Vorschlag sei lediglich ein „Appell an die Zivilgesellschaft“ gewesen, eine gesetzliche Klarnamen-Pflicht stehe nicht zur Debatte. Aber die Vorstellung, man könne „ohne Konsequenzen“ einfach jede Meinung zu allem äußern, ist genauso falsch: Eine Meinungsäußerung ist öffentliches Handeln, und für seine Handlungen muss man Verantwortung übernehmen.
Bei vielen „Meinungen“, wie sie zum Beispiel auf extremistischen Internetseiten wie der islamhasserischen Seite „Politically Incorrect“, dem christlich-fundamantalistischen „Kreuz.Net“ oder dem frauenverachtenden Forum „Wieviel Gleichberechtigung verträgt das Land“ geäußert werden, ist der Ausdruck „geistige Brandstiftung“ durchaus passend. Aber auch in vielen ernsthaften Blogs oder in den Kommentarbereichen großer Zeitungen tobt eine bedenkliche Meinungswut, die die Grenzen des Tolerierbaren häufig überschreitet.
Die Frage ist nur: Könnten Klarnamen daran etwas ändern? Das hoffen viele, zum Beispiel die Stockholmer Boulevardzeitung Aftonbladet, die Klarnamenzwang in den Kommentaren eingeführt hat, als nach den Anschlägen in Norwegen dort rassistische Äußerungen überhand nahmen. Allerdings befürchten viele, dass man so das Kind mit dem Bade ausschüttet. Zwar gibt es durchaus einen Zusammenhang zwischen Anonymität und „Trollen“ (wie man im Internet diejenigen nennt, die unsachliche, diffamierende, hasserfüllte Kommentare schreiben). Aber auch viele hilfreiche, sachliche und fundierte Beiträge werden eben anonym gepostet.
Es gibt nämlich gute Gründe, im Netz anonym zu bleiben. Im Unterschied zum Flugblatt oder zum Leserbrief kann alles, was erst einmal im Internet steht, auf immer und ewig wiedergefunden werden. Doch nicht jeder will, dass die Arbeitskollegen wissen, wie viel Erfahrung er im Umgang mit Depressionen hat oder dass er früher mal bei Scientology war. Und die junge Bankangestellte, die sich in Internetforen über ihren Kinderwunsch austauscht, tut sicher gut daran, das nicht unter ihrem richtigen Namen zu tun – wenn ihr noch was an einem beruflichen Aufstieg gelegen ist. Sicher wäre es wünschenswert, in einer offenen und toleranten Gesellschaft zu leben, in der man keine persönlichen Nachteile befürchten muss, wenn alle alles von einem wissen. Aber davon sind wir momentan noch weit entfernt.
Wer einmal bei Facebook war, weiß außerdem, dass ein formaler Zwang zum Klarnamen nicht vor Spam, Müll und Belästigungen aller Art schützt. Trotz des Verbots wimmelt es dort nur so vor Pseudonymen – denn wer will denn in der Praxis kontrollieren, dass Helga Müller in Wirklichkeit gar nicht so heißt? Andererseits kann die Pflicht zu Klarnamen für manche ihrer Opfer weitreichende Konsequenzen haben. Das erlebte die Schriftstellerin Katja Kullmann, deren Facebook-Profil von einem Tag auf den anderen gesperrt wurde, weil jemand behauptet hatte, sie wäre gar nicht Katja Kullmann. Bei marktbeherrschenden Anbietern wie Facebook – oder auch dem neuen Pendant GooglePlus, das ebenfalls Klarnamen verlangt – bedeutet das unter Umständen, dass man plötzlich sämtliche Kontakte verliert. Man ist der Willkür dieser Konzerne ausgeliefert.
Sinnvoller als ein formaler Zwang zu Klarnamen wäre die bewusste Moderation von Kommentaren. Wer Blogs oder Foren betreibt, kennt das: Um eine halbwegs inhaltsreiche Diskussion zu ermöglichen, muss man Störer und Trolle konsequent weglöschen. Gerade bei großen Portalen und Medien gibt es dafür aber meist nicht genug personelle Kapazitäten – und oft auch nicht das nötige Bewusstsein. Um die Klickzahlen zu erhöhen, werden da ganz gerne mal extreme Meinungen veröffentlicht. Oft übrigens unter voller Namensnennung der Autoren, die sogar stolz darauf sind.
Doch das Weglöschen allein ist auch unbefriedigend. Gerade für die politische Meinungsbildung kann es sinnvoll sein, sich immer mal wieder zu vergegenwärtigen, welch Geistes Kind viele Menschen hierzulande sind. Eine elegante Lösung haben Betreiberinnen feministischer Blogs gefunden: Statt Kommentare wie „Dich müsste nur mal jemand richtig durchficken“ einfach zu löschen und sich still vor sich hin zu ärgern, werden diese auf der Seite hatr.org gesammelt. Dort können sich dann alle ein Bild machen, die behaupten, Frauenverachtung würde es heute nicht mehr geben. Und außerdem wird mit Werbung sogar noch ein bisschen Geld verdient, das dann feministischen Projekten zugute kommt.
Die Frage, die anhand von Klarnamen versus Anonymität diskutiert wird, ist eigentlich eine, bei der es um Zivilisation und Diskussionskultur geht. Das, was im Netz problematisch ist, sind nicht die wirklich strafrechtlich relevanten Äußerungen – die könnten auch jetzt schon verfolgt werden, weil nur wenige ihre IP-Adresse so gekonnt verschleiern, dass es unmöglich wäre, sie aufzuspüren.
Was sich vielmehr etablieren müsste, das wären Benimmregeln, ein Kodex dessen, was sich gehört und was nicht. So etwas lässt sich aber nicht durch Verbote herbeizwingen, im Gegenteil: Gerade viele ältere und besonnenere Menschen könnten hier mäßigend und stilbildend wirken – allerdings halten sie sich bislang noch überwiegend vom Internet fern. Vor allem deshalb, weil sie Angst haben, zu viel von sich preiszugeben.