Gibt es Frauenfreiheit ohne Emanzipation?
Frauen aus dem Westen können von Musliminnen im Orient lernen
»Die muslimischen Frauen wollen nicht mit den Männern konkurrieren, auch wenn sie eine eigene Stimme in der Gesellschaft haben wollen«, sagt die iranische Künstlerin Shirin Neshat im Interview mit der italienischen Frauenzeitung »Via Dogana«, und sie drückt damit aus, was viele Frauen aus dem islamisch-arabischen Kulturkreis denken: Auch ohne rechtliche Gleichstellung können sie frei sein, eigene Ideen entwickeln, gesellschaftlichen Einfluss haben. Damit hat Neshat in Italien eine Diskussion unter Feministinnen ausgelöst: Gibt es Freiheit ohne Emanzipation?
Vielen westlichen Frauen ist es unverständlich, wie andere nicht für Emanzipation und Gleichstellung kämpfen können. Denn für sie hängt weibliche Freiheit unmittelbar mit dem Besitz von Rechten und der Abwesenheit von Diskriminierung zusammen. Die italienische Philosophin Luisa Muraro (Foto rechts) hält das für einen Fehler: »Was uns am ehesten ins Auge fällt, wenn wir Frauen aus andere Kulturen betrachten, ist nicht die Freiheit, sondern die An- oder Abwesenheit weiblicher Emanzipation, wie sie im Westen praktiziert wird. In der westlichen Kultur fördert man die Integration der Frauen in die Welt der Männer und den Konkurrenzkampf zwischen den Geschlechtern, und wir begehen den Fehler, diese Dinge, ob sie nun gut oder schlecht sind, mit Zeichen der Freiheit zu verwechseln«, sagte Muraro bei einem Vortrag zum Thema »Freiheit lehren«, den sie kürzlich (am 15. Juni) in der Evangelischen Akademie Arnoldshain hielt. Der Versuch, die westlichen Werte der Aufklärung anderen Kulturen aufzuzwingen, so Muraro, sei eine neue Form der Kolonialisation, die Frauen nicht unterstützen sollten.
Luisa Muraro gehört zu der Gruppe Mailänder Feministinnen, die Ende der 80er Jahre mit ihrem Buch »Wie weibliche Freiheit entsteht« eine neue Ausrichtung feministischen Denkens angestoßen hat: Weibliche Freiheit, so die Mailänderinnen, entstehe nicht durch rechtliche Gleichstellung, sondern gründe auf der bewussten Entscheidung von Frauen, ihrem eigenen Geschlecht treu zu sein, und eine freie Bedeutung des Frau-Seins in den Beziehungen zu anderen Frauen auszuhandeln. Gerade in dieser Hinsicht, so Muraro nun, könnten Frauen im Westen sehr viel von den Frauen aus dem arabischen Kulturkreis lernen: Die Freiheit der Frauen habe ihre Basis in der sexuellen Differenz und den Beziehungen unter Frauen, sie habe nichts mit Gleichheit oder Rechten zu tun.
Frauen in den westlichen Ländern, so Muraro, riskierten es heute, gesellschaftliche Anerkennung ohne Freiheit zu bekommen. Dass sie etwa beruflichen Erfolg haben oder politische Karriere machen können, bedeute noch nicht, dass sie frei sind. Natürlich könnten aufgrund der Erfolge der Frauenbewegung junge Frauen hier zu Lande viel freier aufwachsen als früher, aber das heiße noch nicht, dass sie die Freiheit auch lieben und bereit seien, sich dafür einzusetzen. Statt pauschaler Beurteilung »der Frauen« in diesem oder jenem Kulturkreis komme es darauf an, konkrete Beziehungen zu knüpfen und genau hinzuschauen, was eine Frau tut, welche Entscheidungen sie persönlich trifft. Muraro: »Ich versuche immer im Kopf zu haben, dass es weibliche Freiheit gibt. Wir betrachten das Verhalten der anderen Frauen zu oft als Ergebnis von Konditionierungen, anstatt zu denken: Hier ist eine Frau, die zeigt, dass sie frei ist, oder: Hier ist eine Frau, die zeigt, dass sie nicht frei ist«.
Mit dieser Sicht stellt sich Muraro durchaus in die Tradition der westliche Frauenbewegung: Auch in den Anfängen des Feminismus vor dreißig Jahren sei es keineswegs um Emanzipation und rechtliche Gleichstellung gegangen, sondern um weibliche Freiheitsliebe, um den Wunsch, eine freie Bedeutung für das eigene Frau-Sein zu finden. Doch im Lauf der Jahrzehnte sei diese Stärke einem inzwischen weit verbreiteten Lamentieren gewichen, wie Traudel Sattler (Foto links), Muraros Übersetzerin und Mitdenkerin, mit folgender Geschichte anschaulich macht: Bei einem internationalen Treffen von Frauenbuchläden hätten sich die Holländerinnen die ganze Zeit darüber beklagt, dass ihnen staatliche Zuschüsse gestrichen worden seien. Eine Buchhändlerin aus Bangladesh dagegen, die in der Hinterkammer ihres Kleiderladens Frauenbücher verkauft, habe eine unglaubliche Stärke und großen Enthusiasmus gezeigt – »von ihr konnten wir alle in punkto Freiheitsliebe etwas lernen«.
»Die Liebe zur Freiheit ist ansteckend«, glaubt Luisa Muraro, »die Ansteckung erfolgt aber nicht, indem man den Feminismus lehrt, sondern indem wir unsere Freiheit und die der anderen lieben«. Allerdings seien es nicht sehr viele Menschen, die die Freiheit lieben. Freiheitsliebe kann gefährlich sein (auch das wissen die Frauen in islamischen Ländern besser als die im Westen). Die persönliche Entscheidung, frei zu sein, kann einsam machen, denn die Freiheit steht im Konflikt mit der trügerischen Sicherheit der Rechte oder der staatlichen und gesellschaftlichen Anerkennung. Auch die westliche Gesellschaft fördere »Konformismus und Versklavung des Denkens«, warnte Muraro. »Keine Gesellschaft kann den Menschen die Freiheit anbieten, es ist ein Kampf, der niemals beendet wird«.
veröffentlicht in: Publik Forum, 30.8.2002
Foto: Ilse Bechthold – mit frdl. Genehmigung des Christel-Göttert-Verlages