»Frau, was begehrst du?«
»Frau, was begehrst du?« – das ist schon eine ziemlich provozierende Frage. Haben wir nicht alle noch den Klang der Gebote im Kopf: »Du sollst nicht begehren?« Sind wir nicht aufgewachsen mit der Vorstellung, eine gute Frau habe zuerst an die anderen zu denken und nicht an sich selbst? Dürfen wir überhaupt etwas begehren? Oder sind wir dann nicht egoistisch?
Andererseits hören sich diese Fragen heutzutage fast schon ein bisschen altmodisch an. Das traditionelle Ideal der selbstlosen Frau und Mutter, die sich für andere aufopfert und nicht an sich selbst denkt, passt irgendwie nicht mehr so recht in eine Zeit, in der wir alle gezwungen sind, selbst für uns zu sorgen. In der uns eingeredet wird, soziale Sicherheit sei ein Luxus und jeder müsse an sich selbst denken, weil schließlich auch jeder für sich selbst verantwortlich ist. Auch die Frauen.
»Frau, was begehrst du?« – diese Frage zu stellen bedeutet, dass wir uns auf die Suche machen wollen nach einem Ausweg aus diesem Dilemma. Dass wir nicht zufrieden sind mit der Wahl zwischen den beiden falschen Alternativen: Entweder zurück an Heim und Herd und sich aufopfern, oder aber als emanzipierte und flexible Konsumentinnen oder Produzentinnen loszumarschieren auf den freien, globalisierten Markt.
Dem eigenen Begehren zu folgen, das ist ja etwas ganz anderes, als nur den eigenen Vorteil zu suchen. Es ist nicht Selbstverwirklichung, es ist nicht Individualismus oder Egoismus. Sondern es ist vielmehr gerade eine Art und Weise, Verbindungen zu knüpfen zwischen mir als Person, als Individuum, zwischen der Welt, so wie sie mir in der Realität begegnet, zwischen mir und anderen Menschen um mich herum, und letztlich auch mit der Transzendenz, mit Gott, dem Jenseitigen. Dem, das die menschliche Verfügungsmacht übersteigt.
Die Entdeckung des weiblichen Begehrens und seiner Kraft, Verbindungen zu knüpfen und Beziehungen herzustellen, verdanken wir der Frauenbewegung. Denn eine Frau, die ihrem eigenen Begehren folgt, ist frei. Und nur eine freie Frau wird ihrem Begehren folgen.
Und die Idee von der Freiheit der Frauen, die verdanken wir dem Feminismus. Das muss man heutzutage ja schon extra betonen, denn inzwischen gibt es ja viele, die sich die Freiheit der Frauen auf die Fahnen schreiben. Vorneweg der globalisierte Markt, aber auch Armeen, die die weibliche Freiheit mit Waffengewalt in alle Welt exportieren wollen, oder auch Behörden, die die Einstellung zur weiblichen Freiheit per Fragebogen zum Maßstab dafür machen, ob jemand deutscher Bürger oder deutsche Bürgerin werden darf. Kirchenobere behaupten neuerdings, die Idee, dass Frauen frei sind, stamme aus den zehn Geboten oder mindestens aus dem Urchristentum. Demokraten behaupten, die Idee der weiblichen Freiheit gehe auf die Aufklärung zurück. Aber das stimmt nicht. Christentum, Aufklärung und wie sie alle heißen, haben über Jahrhunderte hinweg einen Freiheitsbegriff gehabt, der ganz gut ohne Freiheit der Frauen ausgekommen ist. Nein. Die Idee, dass Frauen frei sind, verdanken wir dem Feminismus, der Frauenbewegung.
Weibliche Freiheit bedeutet, dass ich, eine Frau, frei bin, und zwar nicht obwohl, sondern weil ich eine Frau bin. Früher, vor der Frauenbewegung, wurde ja von einer Frau, die ihren eigenen Weg ging, die ihrem Begehren folgte und nicht den vorgegebenen Weiblichkeitsrollen, gesagt: Sie tut dieses oder jenes, sie studiert, sie reist, sie geht in die Politik – obwohl sie eine Frau ist. So, als sei das Frausein eine Behinderung. Heute, der Frauenbewegung sei Dank, haben wir das nicht mehr nötig. Wir können sagen: Ich tue dieses oder jenes, und ich bin, egal was ich tue, eine Frau.
Für die italienische Philosophin Luisa Muraro ist das weibliche Begehren die Kraft, die Veränderungen bewirkt, der Garant für die Präsenz des Weiblichen in der Welt. Das italienische Wort »desiderio«, Begehren, bezeichnet dabei das Wünschen und Wollen der Frauen, den Anspruch auf Wohlbehagen, den Wunsch, sich nicht unangemessen zu fühlen in der Welt.
Das Begehren ist also nicht gleichbedeutend damit, irgend etwas zu wollen oder anzustreben, ein bestimmtes Ziel anzuvisieren. Es ist eher so etwas wie eine grundlegende Orientierung dahin, dass Frauen nicht mehr wie Fremde in einer von Männern für Männer gemachten Welt leben wollen. Dafür, dass sie überall zuhause sind, auch ohne dass sie sich an die Spielregeln und Verhaltensweisen von Männern anpassen müssen.
Das Begehren ist dabei immer untrennbar an eine bestimmte Person gebunden. Ich begehre, du begehrst, es gibt kein abstraktes Begehren oder das Begehren an sich. Aus dem weiblichen Begehren lassen sich keine konkreten inhaltlichen Forderungen für eine Frauenpolitik ableiten. Manche Frauen wollen 70 Stunden die Woche im Büro verbringen, andere wollen vier Kinder haben, wieder andere wollen eine Goldschmiede im alternativen Milieu betreiben. Es gibt nicht das Begehren »der Frauen«, sondern immer nur das Begehren einer bestimmten Frau, und dieses Begehren ist weiblich, nicht weil es dieses oder jenes zum Inhalt, zum Ziel hat, sondern weil es eine Frau ist, die begehrt.
Und woher kommt das Begehren? Es ist nicht einfach dasselbe wie der Wille, also das, was ein autonomes Subjekt sich als Ziel ausdenkt und dann anstrebt. Der Wille gründet auf der menschlichen Vernunft und dem Verstand. Wir alle kennen aber wohl Situationen, in denen das Begehren und die Vernunft miteinander im Streit liegen. Dem Begehren zu folgen, das kann manchmal von außen betrachtet ziemlich unvernünftig sein.
Das Begehren ist aber auch nicht einfach ein Trieb, der uns überkommt. Meinem Willen oder meinen Trieben kann ich nämlich ganz alleine nachgehen. Wenn mir andere Menschen dabei im Weg stehen, kann ich sie ignorieren oder zwingen oder bekämpfen. Beim Begehren funktioniert das nicht. Es ist so ähnlich wie mit der Liebe: Ich kann niemanden zwingen, mich zu lieben. Denn das Begehren richtet sich niemals unmittelbar auf die Welt, sondern immer an andere Menschen. Ich mir zwar wünschen, dass es morgen nicht regnet, aber ich kann einen sonnigen Tag nicht begehren.
Wer begehrt, ist auf die freiwillige Kooperation mit anderen angewiesen, darauf, eine Vermittlung zu finden zwischen dem eigenen Begehren und der Welt, so wie sie ist. Es ist so ähnlich wie bei kleinen Kindern, die große Meisterinnen und Meister darin sind, etwas zu begehren und dieses Begehren in die Welt zu tragen. An wen richtet das Kind, das zum Beispiel durstig ist und Milch haben will, sein Begehren? Es schreit ja nicht etwa die Milch oder den Kühlschrank an, das würde nämlich kaum etwas nützen. Sondern es stellt seine Ansprüche an die Mutter, also an eine, die ein Mehr hat im Bezug auf das, was es will, die also zum Beispiel die Milch aus dem Kühlschrank holen kann.
In dem Moment, wo wir uns mit unserem Begehren an die anderen richten, beginnen die Verhandlungen. Wer kann mir dabei helfen und was bin ich bereit, ihr oder ihm dafür zurückzugeben? Aber auch die Verhandlungen mit mir selbst: Welchen Preis bin ich bereit, zu bezahlen, um meinem Begehren folgen zu können? Bin ich bereit, dafür auf Sicherheiten und Bequemlichkeiten zu verzichten? Oder ist mein Begehren doch nicht so groß?
Was ich begehre, das ist dabei nicht Abgeschlossenes und Fixes. Im Laufe der Verhandlungen kommt vielmehr oft heraus, dass mein Begehren eigentlich etwas ganz anderes ist als das, was ich mir am Anfang gedacht habe. Dies ist häufig so, wenn Frauen neidisch auf andere sind. Der Neid auf das schönere Haus, die bessere Figur, die steilere Karriere der Nachbarin oder die Freundin bedeutet oft gar nicht wirklich, dass ich auch genau so ein Haus, genau so eine Karriere oder genau so eine Figur haben möchte. Sondern der Neid zeigt nur an, dass ich mit meiner eigenen Situation unzufrieden bin und etwas verändern möchte. Wenn ich mich von diesem Gefühl nicht blockieren und lähmen lasse, sondern anfange, mich zu bewegen, zu suchen, zu reden, dann kommt am Ende meistens heraus, dass ich eigentlich etwas anderes begehrte.
Wenn wir also vom weiblichen Begehren ausgehen, dann ist auch das Heil, um das es heute ebenfalls geht, kein fixer Zustand, den ich ein für allemal erreichen kann. Was wir suchen, das ist nicht die perfekte Welt, in der alles wunderbar und fehlerlos funktioniert, und in der alle Schwächen, Differenzen und Probleme ausgemerzt wurden. Denn nicht die wortlose Harmonie und Übereinstimmung löst Begehren aus, sondern gerade die Reibungen, die Unterschiede.
Ich begehre ja etwas, das ich nicht habe, etwas, das mir fehlt. Das Begehren reagiert also auf einen Mangel, auf etwas nicht Perfektes. Allerdings kann das Begehren ganz plötzlich einen Mangel entdecken, wo mir doch bisher alles in Ordnung schien. So waren Frauen in den 1970er Jahren nicht mehr mit der traditionellen Hausfrauenrolle zufrieden, obwohl bis dahin dieses Leben als wunderschön galt. Oder eine Frau ist plötzlich mit ihrer Arbeitsstelle nicht mehr zufrieden, obwohl sie dort viele Jahre lang ganz gut gearbeitet hat. Und aus diesem Mangel entsteht dann ein Begehren, etwas zu verändern. Neue Wege zu gehen. Der Mangel ist also nicht objektiv da, es braucht das Begehren, um ihn anzuzeigen.
Ausgelöst werden kann das zum Beispiel durch die Begegnung mit einer anderen Frau, die etwas anderes tut. Die vielleicht keine Hausfrau ist, die eine Arbeit hat, die mir interessanter erscheint, als meine eigene, die ich bewundere. Es kann aber auch eine Idee sein, die mir neu ist, ein Gedanke, dem ich vielleicht zunächst widerspreche, der mich aber irgendwie doch fasziniert und herausfordert.
Das Begehren ist also eine wunderbare Möglichkeit, mich mit einer unperfekten Welt und anderen Menschen, mit denen ich nicht übereinstimme, in eine Beziehung zu setzen. Das Begehren strebt nicht nach dem endgültigen Heil, es will immer in Bewegung bleiben, damit meine Beziehung zur lebendigen Welt und den vielen unterschiedlichen Menschen darin nicht verloren geht.
In diesem Punkt unterscheidet sich die Orientierung am Begehren von einem großen Teil der männlichen Philosophie, die ja die Suche nach Heil und Heilung, nach Ganzheitlichkeit und Wohlbefinden in eine Gegenüberstellung zur heillosen und entfremdeten Welt gebracht hat. Das männliche Denken ist weithin geprägt von der Idee, es könnte so etwas wie Eins-Sein und Einheit geben, also einen nicht entfremdeten, heilen Zustand. Da wurden Utopien entwickelt von idealen Welten und idealen Staatssystemen, Gebote wurden aufgestellt, deren Beachtung die Rückkehr zu paradiesischen Zuständen versprach, Religionen wurden erfunden mit nur einem Gott, dem Einzigen, der als oberster Richter die Differenzen unter den Menschen auflöst, Seelenzustände der Erleuchtung erträumt, in denen der Mensch von den irdischen Widrigkeiten befreit, in voller Harmonie mit sich selbst und allem existieren könnte.
Vor diesem Hintergrund des Idealen erschien die konkrete, tatsächliche Welt, natürlich ziemlich problematisch. Alles Fremde, alle Differenz, jede Abweichung von diesem imaginierten Ideal war etwas Gefährliches. Und zu dieser konkreten, fremden, gefährlichen Sphäre ordneten viele Männer lange Zeit auch die Frauen zu, getreu ihrer dualistischen Aufspaltung der Welt in Oben und Unten, Geist und Körper, Kultur und Natur, Einheimisches und Fremdes, Männlich und Weiblich.
Das Fremde, das Andere, die Differenz und die Frauen haben also sehr viel miteinander zu tun. Dies berichtet ja auch schon die Schöpfungserzählung der hebräischen Bibel. Zunächst war da das Menschenwesen, auf hebräisch: Adam, das eins war mit sich und seiner Umgebung, das kein Geschlecht hatte und keine Sorgen, das ohne Mühsal und Widrigkeiten im Paradies lebte. Doch dieses geschlechtslose Menschenwesen Adam war einsam. Es beklagte sich deshalb bei Gott und verlangte nach einem Gegenüber. Also schuf Gott die Frau. Und mit der Frau die sexuelle Differenz, und mit der sexuellen Differenz den Mann.
Adam, das geschlechtslose Menschenwesen, das eine, ganzheitliche, un-getrennte und un-entfremdete gibt es seither nicht mehr. Es gibt auf der Welt nur Frauen und Männer, möglicherweise noch andere Geschlechter, aber nicht mehr das Menschenwesen schlechthin.
Menschsein ist also gerade nicht Eins-sein. Menschsein ist viele sein. Dafür steht die Schöpfung der Frau, die gleichzeitig auch die Schöpfung des Mannes als geschlechtliches Wesen ist.
Mit der Erschaffung der Frau, mit der sexuellen Differenz also, kam auch die Politik in die Welt: die Notwendigkeit, über die eigenen Wünsche mit anderen zu verhandeln, das Streben nach Erkenntnis, Diskussionen über gut und böse, die Notwendigkeit, eigene Urteile zu fällen und die Welt zu gestalten, zu Zweifeln, Dinge in Frage zu stellen, Antworten zu finden und wieder zu verwerfen. Sich mit anderen zusammen und auseinander zusetzen. Kurz gesagt: Die Welt nicht einfach nur passiv zu genießen und zu betrachten, sondern sie selbst gestalten, bearbeiten zu müssen. Mit Mühe und mit Freude.
Das Essen vom Baum der Erkenntnis war – nach jüdischer Interpretation – kein Sündenfall, sondern eine notwendige und unausweichliche Folge der Tatsache der sexuellen Differenz. Denn wenn der Mensch nicht mehr eins ist, sondern zwei, drei, vier oder sechseinhalb Milliarden, dann kann man nicht mehr einfach tun, was man will. Dann wollen die einen dies und die anderen etwas anderes. Dann geht nicht immer alles so einfach, dann gibt es Hindernisse und Widerstände, wenn ich mit meinen Wünschen in der Welt aktiv werde. Es gibt die anderen und damit die Notwendigkeit, mich mit diesen Anderen in eine Beziehung setzen. Eine Beziehung, die gleichzeitig konfliktreich und lebensnotwendig ist.
Wenn wir heute bei einem Frauenkirchentag über das Heil nachdenken und darüber, wo und wie wir heilsame Erfahrungen machen können, ist es deshalb wichtig zu sehen, dass ich meine eigene Existenz, die Existenz einer Frau also, dieser grundlegenden Tatsache verdanke, dass es eine Entfremdung von dem paradiesischen Zustand des einen Menschenwesens ohne Geschlecht, ohne Differenz, ohne Konflikte, ohne Notwendigkeiten gegeben hat, und dass das kein Un-Heil ist, sondern einfach zum Menschsein dazu gehört.
Meine Existenz, die Existenz einer Frau, ist abhängig von der Existenz des Anderen, und das andere ist immer das Fremde.
Das gilt im Übrigen eigentlich auch für den Mann, es gilt für alle Menschen. Bekanntlich hat aber der Mann den Namen des geschlechtslosen Menschenwesens, Adam, für sich reklamiert. Hat sich selbst Adam genannt und somit behauptet, für die Ganzheit, das Eine, zu stehen. Den einen Weg zum Heil zu wissen. Und er hat damit gleichzeitig die Frauen, wie alle anderen Anderen, zu den ihm Fremden erklärt. Hat also das Fremdsein nicht als eine Grundtatsache des Menschseins gesehen, sondern als eine Abweichung von sich selbst.
Früher, in patriarchalen Zeiten, bedeutete das, dass die Frauen von allen männlichen Bereichen ausgeschlossen wurden. Sie repräsentierten eben das Andere. Heute, in emanzipierten Zeiten, ist das nicht mehr so. Das männliche Denken enthält heute eine verführerische Einladung an uns Frauen, nämlich das Versprechen, wir könnten das Fremdsein, die Entfremdung überwinden, indem wir so werden, wie sie. Anders gesagt: Sie bieten uns den Namen Adam an. Könnten wir nicht alle wieder geschlechtslose Menschenwesen werden? Aufgehoben in einer höheren Einheit, die die schmerzlichen Differenzen des Fremden nicht mehr kennt? Dies ist der große Traum der männlichen Philosophie. Schon immer gewesen. Und nun sind wir, die Frauen, eingeladen, als ihresgleichen daran mitzuträumen: Nicht mehr Frau zu sein, sondern Mensch, Adam, eins mit uns, mit Gott und der Natur. Ein verlockendes Angebot.
Das wir aber, wie ich finde, ablehnen sollte. Denn es bedeutet letztlich, dass das »Andere« und das Fremde – bislang repräsentiert durch die Frauen –ausgelöscht wird. Es gibt dann nämlich gar kein wirklich Anderes mehr. Die Unterschiede zwischen uns sind nur noch folkloristischer Natur: Im »Kern« sind wir doch alle gleich. Das Stichwort dazu heißt »Diversity«. Die Vielen, die wir seit der Erkenntnis von Gut und Böse nun einmal sind, werden aber auf diese wegdefiniert, denn sie sind ja nur noch unterschiedliche Varianten des Einen, so ähnlich wie die bunte Vielfalt von Merci: Die einen schmecken nach Marzipan, die anderen nach Haselnuss oder Zartbitter, aber es sind doch alles Schokoriegel.
Aber dieses vermeintlich neutral »Menschliche«, das Humanitäre, das Eine, das diese bunte Vielfalt sozusagen zusammenhält und vereint und heil macht – das ist bei genauem Hinsehen eben doch das Männliche. Genauer gesagt: Es ist der westliche, weiße, bürgerliche Mann, der sich selbst zur Norm der Welt erklärt. Nur mit dem Unterschied, dass die Anderen – also die Frauen, die Wilden, die Fremden – jetzt nicht mehr ausgeschlossen werden sollen, sondern als verschiedene Varianten dieses Männlichen fungieren dürfen. Sie sollen sich anpassen und integrieren und an die Spielregeln halten, und dann dürfen sie alles das auch, was der Mann für sich selbst beansprucht.
Was aber, wenn es das Eine, das Eigentliche gar nicht gibt? Sondern nur das Viele, das Andere (in Großbuchstaben)? Diesen Gedanken haben wir der feministischen Philosophie zu verdanken, die nämlich die Auffassung zurückgewiesen hat, dass die Frau etwas vom Mann abgeleitetes sei. Die stattdessen auf die weibliche Freiheit gepocht hat.
Und die dabei nicht einfach die männliche Vorstellung von Freiheit als Autonomie und Unabhängigkeit übernimmt. Der lonely Cowboy, der ohne jede Verpflichtung über die Prärie reitet, oder Robinson Crusoe, der ganz alleine auf der Insel überlebt – solche Freiheitshelden sind für viele Frauen kaum attraktiv. Auch wenn sie derzeit wieder in Mode sind, in Form des flexiblen Beraters, der so bindungslos ist, dass er heute in Frankfurt, morgen in Paris und übermorgen in Shanghai zum Einsatz kommen kann.
Doch immer deutlicher wird ja, dass eine Gesellschaft nicht funktionieren kann, wenn sie nur noch aus lonely Cowboys besteht. Die derzeitige Sehnsucht nach alten, konservativen Familienwerten, wie sie zum Beispiel in der Diskussion über angeblich zu niedrige Geburtenraten zum Ausdruck kommt, zeigt sehr schön, wie diese Art der Freiheit, die mit Unabhängigkeit und Bindungslosigkeit verwechselt wird, immer auf Kosten von anderen – traditionell den Frauen – zustande kommt.
Das Grundproblem ist, dass die Tatsache, dass wir alle Geborene sind, aus der Politik symbolisch ausgeschlossen wird. Die mütterliche Tätigkeit des Gebärens wird nicht als Arbeit, nicht als kulturelle Tätigkeit, nicht als körperlich-geistige Aktivität interpretiert, sondern als Teil der Natur. Und indem die Männer in der Politik so taten, als kämen da lauter erwachsene, gleiche Menschen »auf Augenhöhe« zusammen und handelten Verträge aus, haben sie erstens ihr eigenen Geborensein geleugnet und mit ihm die Tatsache, dass sie jederzeit abhängig sind. Diese grundlegende Abhängigkeit des Menschen ist deshalb bis vor kurzem nichts gewesen, worum sich die große Politik bisher kümmerte, sondern etwas, worum sich Frauen im vorpolitischen Bereich der Familie kümmern sollen: Die Sorge für Kinder und Alte und Kranke und überhaupt alle, die nicht »auf Augenhöhe« sind. Abhängigkeit, also schwach, nicht perfekt zu sein, das ist in diesem Weltbild also etwas für Kinder, für Unfähige, für Kranke, jedenfalls ein vorübergehender Ausnahmezustand, der auf jeden Fall hinter sich gelassen werden muss.
Frauen sind heute aber nicht mehr bereit, die ganzen anfallenden Nebenarbeiten der Gesellschaft stillschweigend unentgeltlich zu erledigen. Sie lassen sich nicht mehr in feste Muster pressen und kochen, putzen, gebären, erziehen und pflegen, nur damit die Männer ihren Unabhängigkeitskult pflegen können. Die Politik hat das Problem in zwischen begriffen und Frau Merkel und Frau von der Leyen sowie viele andere Politikerinnen gehen es auch an. Aber es braucht mehr als eine Ansammlung von Einzelmaßnahmen, was wir brauchen ist zum Beispiel ein neuer Freiheitsbegriff. Eine Vorstellung von Freiheit, die nicht mehr als Abwesenheit von Beziehungen und damit von Abhängigkeit gedacht wird. Und eine Sicht auf Bezogenheit und auf Bindungen, die diese nicht mehr als Einschränkung meiner Freiheit sieht, sondern als deren Vorbedingungen. Für eine »Weltsicht der Freiheit in Bezogenheit« plädieren wir in einem Buch dazu, das ich Ihnen vielleicht nachher im Workshop noch genauer vorstellen kann.
Die Aufmerksamkeit für das Begehren hilft dabei, einen sochen neuen Freiheitsbegriff zu finden. Denn wenn Freiheit bedeutet, meinem Begehren zu folgen, und wenn ich das nur kann, indem ich mich auf andere Menschen beziehe, in ihrer Andersheit und Fremdheit – dann ist meine Freiheit ja gleichbedeutend mit Abhängigkeit. Beides schließt sich also nicht aus, es bedingt sich gegenseitig.
Aber wir alle sind auf Sozialhilfe angewiesen. Kein Mensch ist unabhängig, kein Mensch kann für sich selber sorgen. Nicht nur, weil wir alle jederzeit krank oder hilfsbedürftig werden können. Nicht nur, weil auch der vermeintlich unabhängigste Manager in Wirklichkeit vom Marktgeschehen oder von der Auftragslage abhängig ist. Gerade das Begehren führt uns hier auf die eigentlich spannende Spur. Denn wer dem eigenen Begehren folgen will, muss, wie wir gesehen haben, die Tatsache akzeptieren, von anderen abhängig zu sein. Ohne die Anderen kann ich ja meinem Begehren nicht folgen, ohne die Anderen, die mir Inspiration, Vorbild, Hilfe oder auch Streitpartner sind, muss ich die Welt einfach so hinnehmen, wie sie ist.
Wir alle sind abhängig, nicht nur von anderen Menschen in ihrer Vielfalt, sondern auch vom Anderen schlechthin, in Großbuchstaben. Von der Differenz – denn ich selbst kann mein Begehren nicht machen. Und von der Ungleichheit – denn für mein Begehren brauche ich eine Vermittlung, die Beziehung zu einer, die ein Mehr hat, die mir etwas voraus hat.
Menschen werden bereits als Abhängige geboren und sie bleiben jederzeit abhängig, angewiesen auf die Hilfe und Fürsorge von anderen – jedenfalls dann, wenn sie ihrem eigenen Begehren folgen wollen, anstatt einfach nur zu funktionieren. Hilfe und Fürsorge dürfen deshalb nicht länger als mütterliche, quasi biologisch-natürliche Seite von der Politik abgespalten werden. Wir können uns nicht selbst helfen, sondern wir brauchen immer das Andere, ein Gegenüber, ein Mehr, um uns entfalten, entwickeln und wachsen zu können.
Auch dies steht übrigens schon im Schöpfungsbericht der hebräischen Bibel: Das Menschenwesen, Adam, steht da, war einsam, denn es fand keine Hilfe, die ihm Gegenüber sein konnte, ezer kenekdo, im Hebräischen, Hilfe als Gegenüber. Nicht eine »Hilfe, die ihm entspricht«, wie es in den deutschen, christlichen Übersetzungen meistens heißt. Das Andere entspricht dem Einen eben gerade nicht , sondern es ist ihm Gegenüber . Es ist die Differenz, nicht die Gleichheit, um die es hier geht.
Die Menschen sind viele. Sie sind nicht eins. Sie sind unterschiedlich und werden es auch immer bleiben, und das bedeutet nicht nur Vielfalt, sondern auch Ungleichheit. Machtgefälle. Differenzen, Ungerechtigkeit. Schrecklich, sind wir gewohnt zu denken. Und setzen dagegen die Palette des Idealen: Gleichheit, Demokratie, Harmonie, Gerechtigkeit, Heilsein.
Aber alles das gibt es nicht in der wirklichen Welt. Gleichheit, Demokratie, Harmonie und Gerechtigkeit sind nur schöne Ideen, in der Realität kommen sie aber nicht vor. Jedenfalls nicht dauerhaft. Und immer dann, wenn jemand versucht sie herzustellen, mit Revolutionen oder Inquisitionen oder sonstigen guten Absichten, dann geht das normalerweise schief, meist wird es sogar nur noch schlimmer, in der Geschichte haben wir dafür massenhaft Beispiele. Luisa Muraro hat deshalb einmal gesagt, die Probleme unserer Gesellschaft werden nicht die lösen, die die schönsten Gleichheitsvorstellungen haben, sondern diejenigen, die am besten mit der Ungleichheit umgehen können. Denn die Ungleichheit, der Konflikt, die Differenz ist eine Realität. Die Gleichheit, die Harmonie, das Einssein ist nur eine schöne Illusion.
Eine Idee aber vielleicht, an die unser Begehren anknüpfen kann? Das höre ich Frauen oft sagen. Sie setzen sich ein für Gleichheit und Gerechtigkeit, für Demokratie und die Einheit der Menschen. Aber ich bin da skeptisch. Denn diese Worte bedeuten meist alles Mögliche, aber nichts Genaues. Für die Gerechtigkeit und die Demokratie werden Kriege geführt. Das Begehren richtet sich nicht auf solche abstrakten Begriffe, es ist viel konkreter. Ich kann mich engagieren für eine gute Nachbarschaft im Stadtteil, kann Begegnungen zwischen Christen und Muslimen organisieren, kann Partnerschaften mit Gemeinden in Afrika knüpfen, aber ich kann mich nicht für »die Demokratie« oder »die Gerechtigkeit« einsetzen.
Richtig aber ist, dass das Begehren sich nicht mit der Realität, so wie sie ist, begnügt. Es wird tatsächlich ausgelöst und angezogen von etwas Größerem, von etwas, das von außen auf uns zukommt. Vielleicht lässt es sich so beschreiben, dass wir dabei einer Notwendigkeit folgen, die von außen an uns herangetragen wird, die uns berührt und anspricht. Wie kann das geschehen? Was weckt unser Begehren? Die Realität, sagt die Philosophin Chiara Zamboni, wird manchmal durch »Lichtfunken der Qualität« durchbrochen. Und diese Qualität gefällt uns, regt uns an, wird uns zum Maßstab dafür, was es bedeuten kann, sich heil und angemessen und passend und gut zu fühlen.
Das kann zum Beispiel die Lektüre eines guten Buches sein, oder ein anregendes Gespräch, ein schönes Konzert, eine Situation oder ein Augenblick, wo alles zusammenpasst, wo »Qualität« da ist. Dorothee Markert spricht in ihrem sehr schönen Buch »Wachsen am Mehr anderer Frauen« von »100-Prozent-Situationen«. Es sind Momente der Qualität, die nicht vorhersehbar waren, die man auch nicht arrangieren kann, sondern die sich ereignen, und die zwangsläufig auch wieder vorbei gehen. Chiara hat dafür auch die schöne Formulierung »Das Lächeln des Seins« gefunden. Manchmal lächelt uns das Sein zu, und unsere Seele ist der Ort, der diese Qualität, dieses Lächeln wahrnimmt und genießt – und das Begehren entsteht dadurch, dass unsere Seele danach strebt, diese Momente der Qualität wieder zu erleben. Unser Begehren richtet sich auf diese jenseitigen Lichtfunken, die sich mit allem Geschick, aller Planung nicht herstellen lassen, weil sie transzendent sind, also Wunder, Unmögliches, von Gott geschickt. Das weibliche Begehren, schreibt Luisa Muraro, lehnt sich über die Grenzen dieser Welt hinaus.
Solche Momente der Qualität lösen Sehnsucht aus und wecken Begehren: Ich will so etwas Schönes wieder erleben. Diese Qualität, die ich einmal erlebt habe, ist mir von nun ab Maßstab, mit Weniger gebe ich mir nicht mehr zufrieden – oder, wie ich vorhin schon sagte: Alles, was weniger Qualität hat, kommt mir nun mangelhaft vor, obwohl ich vor dieser Erfahrung doch ganz zufrieden war.
Allerdings zeigt die Erfahrung, dass solche Momente der Qualität und des Heilseins nicht durch Wiederholung hergestellt werden können. Es nützt eben nichts, zwei Wochen später diese Situation zu wiederholen: Da war ein schöner Abend, ein schöner Urlaub, ein wunderbares Gespräch, und dann versucht man, das selbe noch einmal zu wiederholen, man fährt noch einmal an denselben Urlaubsort, trifft sich noch einmal mit derselben Person, und dann mag es zwar immer noch schön gewesen sein, aber es hat nicht die Qualität des ersten Mals.
Das Begehren ist also sozusagen gleichzeitig rückwärtsgewandt (angetrieben durch die Erinnerung an erlebte Momente der Qualität, an die Sehnsucht nach einer bestimmten Person, einem bestimmten Erleben) und doch radikal vorwärts gewandt, denn es kann nicht durch Wiederholung befriedigt werden, sondern nur durch den Anfang von etwas Neuem. Es ist ein experimenteller Weg. Oder, wie Chiara es sagt: Wiederholungen, festgefahrene Bahnen langweilen die Seele, und wenn sie sich langweilt, dann wendet sie sich ab und unser Begehren verschwindet.
Das Begehren ist potenziell unendlich, eine wirkliche Fülle, die niemals zur Neige gehen kann, ebenso wie die Sprache, die uns hilft, über unser Begehren mit anderen zu verhandelt und in der es unendlich viele Möglichkeiten gibt, etwas immer wieder neu zu vermitteln. Das Begehren und die Sprache sind nicht beschränkt durch die Endlichkeit dieser Welt, ihnen fällt immer wieder etwas Neues ein.
Und genau deshalb ist das Begehren auch das Stärkste, was wir haben, wenn wir in dieser Welt etwas verändern wollen. Ohne das Begehren entsteht nichts Neues, denn ohne Begehren wird nur das bereits Vorhandene neu gruppiert, mit neuen Namen und Etiketten versehen.
Heilsam ist es also, auf der Spur des eigenen Begehrens zu bleiben – ein Zustand, den ich nie ein für alle Mal erreichen kann, der jederzeit auf das lebendige Experimentieren angewiesen ist und deshalb jederzeit auch scheitern kann. Der immer auf die Anderen angewiesen ist, die uns herausfordern und in Frage stellen. Es hat nichts zu tun mit dem Eins-Sein, dem Nirvana, der unendlichen Harmonie, der Aufhebung alles Leidens, dem idealen Staat. Dies alles sind Visionen, die das männliche Denken hervorgebracht hat, das bis heute den Wert der Differenz nicht schätzt, für das die Fremden nicht die Anderen sind, die uns inspirieren, herausfordern, mit denen wir streiten und denken können, um neue Ideen hervorzubringen, sondern die Ihnen Fremden, also Nicht-Männer, die daher irgendwie defizitär sind und die sich den männlichen Werten und Normen anpassen müssen, die sich zuerst einmal integrieren müssen, bevor man mit ihnen in Kontakt kommen kann. So verstanden ist das Heil nicht eine Orientierung der Seele in der lebendigen und differenzierten und konfliktreichen Welt, sondern der Stillstand, in dem sich alle Unterschiede in der einen allgemeingültigen Norm aufgelöst haben.
Nun könnte man natürlich entgegnen, dass es doch gerade die Frauen sind, die immer nach Harmonie streben, die Konflikte vermeiden, die nach Ganzheitlichkeit und Zugehörigkeit streben. Ich glaube aber, das hängt gerade miteinander zusammen: Weil die Männer davon überzeugt sind, dass es das Eine, die Einheit »eigentlich« gibt, sind sie viel weniger ängstlich darin, Konflikte auszutragen, sich zu zerstreiten, Kriege zu führen, andere zum Objekt zu machen oder sogar sich selbst zum Objekt machen lassen. Sie sind einfach überzeugt, dass diese ganzen innerweltlichen Auseinandersetzungen irgendwo »oben« wieder in das Eine zusammenlaufen.
Frauen hingegen wissen, dass diese Einheit eine Illusion ist. Sie befürchten, dass es durch Streit und Kriege zu einer wirklichen Trennung kommen kann, dass beide Seiten auseinanderdriften, möglicherweise die eine die andere vernichtet. Deshalb tun sie mehr als Männer dafür, Harmonie und Einheit herzustellen, was nicht immer nur gut ist. Manche Konflikte, die oberflächlich ruhig gehalten werden, brodeln unter der Oberfläche weiter. Aber die Vorsicht ist berechtigt. Wenn es keinen »einen« Geist gibt, der das Menschliche trotz aller Gewalt wieder zusammenführt, dann sind nämlich wir es, die dafür zuständig sind, dass nicht alles auseinander fällt, dass das Andere, das Fremde, nicht vernichtet wird.
Das ist im Übrigen kein blauäugiges Multikulti-Ideal, wie neuerdings oft behauptet wird. Sondern der Versuch, realistischer mit der Situation, wie sie nun einmal ist, umzugehen. Die Welt ist nun einmal so, dass es das Andere gibt. Es gibt Einwanderer aus anderen Kulturen, es gibt Menschen mit unterschiedlichen und teilweise gegensätzlichen Lebensstilen. Und natürlich sind diese Anderen, die uns da begegnen, nicht immer lieb und nett und inspirierend. Sie können auch böse, gewalttätig, zerstörerisch, negativ sein, sie können Terroristen sein, Neonazis, profitgierige Kapitalisten, patriarchale Brüder, die ihre Schwestern wegen der Ehre erschießen, was auch immer. Das Zusammenleben mit den Anderen in ihrer Differenz ist nicht Friede, Freude, Eierkuchen. Blauäugig sind nicht die, die sich darüber Gedanken machen, wie dieses Zusammenleben trotz aller Schwierigkeiten funktionieren kann. Blauäugig sind die, die glauben, sie bräuchten nur ein paar Gesetze zu erlassen und das Problem wäre weg.
Auf diese Tatsache, dass das Andere immer auch negative und zerstörerische Aspekte haben kann, hat die männliche Welt des Einen mit der Erfindung des Guten und des Bösen reagiert. Gott oder die Vernunft oder das Gesetz oder was auch immer das Eine repräsentiert, das über allem schwebt, unterteilt die Welt in gut und böse, und es kommt darauf an, sich auf die Seite der Guten zu stellen und das Böse zu bekämpfen. Die Achse des Bösen, wie die amerikanische Regierung es nennt. Die Sünde, wie die christliche Theologie es genannt hat, Satan, der Teufel.
Dieses Modell funktioniert aber nur, solange jemand die Oberhand hat. Wenn einer der Stärkere ist, der den anderen seine Vorstellungen aufzwingen kann. Und wenn das nicht klar ist, kann man Kriege führen, um es herauszufinden. Dieses Modell ist heute immer problematischer. Denn die klaren Mehrheiten und Überlegenheiten lösen sich auf.
Die Philosophie und die Praxis der Frauen haben zum Glück schon lange einen anderen Weg gefunden, mit dem Anderen umzugehen, auch wenn es böse ist, und das, was wir für das Böse halten, ist immer nur das Andere, wie die brasilianische Theologin Ivone Gebara herausgearbeitet hat.
Die weibliche Erfahrung lehrt nun Folgendes: Auch wenn das Andere, dem ich begegne, mir nicht entspricht, wenn wir nicht gleich sind, wenn wir vielleicht sogar Feinde sind, so kann ich mich doch zu ihm in eine Beziehung setzen. Auch wenn diese Beziehung konfliktreich ist. Zu genau solch einer Beziehung fordert Jesus uns übrigens mit dem Gebot auf: »Liebet eure Feinde«. Das ist kein Gutmenschentum, das in der Politik nichts verloren hat, sondern eine weise Beobachtung: Auch zu meinen Feinden kann ich mich nämlich in eine Beziehung setzen, das heißt, mein Begehren auf sie richten, sie lieben. Liebe bedeutet ja nicht kritiklose Selbstaufgabe, sondern Interesse, Begehren, den Wunsch, eine Beziehung herzustellen. Die dann durchaus auch konfliktreich sein kann – was nicht dasselbe ist wie Krieg, da der Konflikt von meinem Begehren getragen wird und darin seinen Sinn enthält. Das Gebot der Feindesliebe sagt nichts anderes, als dass es immer etwas geben kann, das zwischen mir und dem anderen vermittelt, selbst bei meinen Feinden. Und dieses etwas ist das Begehren, das mich das Andere suchen lässt, weil es sich mit dem Jetzigen nicht zufrieden gibt, weil es unbegrenzt ist und weil ihm auch in der auswegslosesten Situation immer noch etwas einfallen kann.
Die Praxis der Beziehungen ist eine sehr starke Praxis, denn sie gründet auf das Begehren und die Sprache, also unsere potenziell unendlichen Ressourcen. Frauen haben bis vor kurzem immer aus einer Situation der Ohnmacht heraus agiert, nicht aus einer Position der Macht heraus, sie waren nicht einmal annähernd »auf Augenhöhe«. Die Frauenbewegung hat dennoch gezeigt, dass das Lösen und neu Knüpfen von Beziehungen gesellschaftspolitische Veränderungen von großem Ausmaß hervorrufen kann, und ihre Theoretikerinnen haben dies begleitet und analysiert.
Es ging dabei ganz zentral auch um die Frage, wie dieses »Sich in Beziehung setzen« mit dem Anderen möglich ist, wenn dieses Andere eindeutig negativ ist. Ist Krieg oder Gesetzeshärte mit dem Ziel, das Andere zu unterwerfen, wirklich die einzige Lösung? Müssen wir das Andere auslöschen, und damit auch unser eigenes Begehren, um auf das Böse in der Welt eine Antwort zu finden? Die Erfahrung der Frauen weist uns einen anderen, einen besseren, weil realistischeren Weg.
Chiara Zamboni hat mir einmal von einer Frau berichtet, die einen Weg gefunden hat, in diesem Wissen um ihr eigenes Begehren mit einer unheilbaren Krankheit umzugehen, einer Krankheit von der sie wusste, dass sie sie irgendwann töten wird – wohl der krasseste Ausdruck des Negativen, den man sich vorstellen kann. Sie hat einen Weg gefunden, nicht ständig mit ihrer ganzen Person gegen diese Krankheit anzurennen. In einer Pattsituation, wenn sie keinen Ausweg mehr wusste, vielmehr einen Schritt zurück zu treten. Zug um Zug vorzugehen, wie bei einem Spiel. Nicht bis ans Ende des Konfliktes planen, sondern sich auf den nächsten Schritt zu konzentrieren. Auf jeden Zug des Gegners einzeln zu reagieren. Abzuwarten: Was macht die Krankheit als nächstes? Und dann zu überlegen, wie sie mit dieser Situation umgeht. Was sie anbieten kann, wie sie reagieren kann, wie sich sich mit der neuen Situation einrichtet. Und dann abwarten, was der Gegner wiederum als nächstes macht.
Das Beispiel der Krankheit verweist aber auch noch auf einen anderen Punkt: Und zwar, dass das Fremde, das Andere, nicht nur etwas ist, das sich zwischen mir und der Welt abspielt, sondern auch zwischen mir und mir selbst. Das Fremde, die Krankheit, im eigenen Körper, im eigenen Geist. Gerade bei diesem Thema ist die Vorstellung vom Heil-Sein als Eins-Sein besonders verbreitet. Heilung, Ganzheitlichkeit, die Ausmerzung der Krankheit, vielleicht sogar der Schwäche, ist ein weit verbreitetes Versprechen.
Aber ist »heil« wirklich nur ein gesunder Körper? Bedeutet Gesundheit perfektes Funktionieren? Oder geht es nicht auch hierbei weniger um einen Zustand, als vielmehr um eine Beziehung? Also darum, ob ich meinen eigenen Körper ablehne und bekämpfe, oder ob ich mit ihm in eine Beziehung trete, in einen inneren Dialog (der durchaus auch als Streit verlaufen kann)? Weil ich nämlich weiß, dass ich meinen Körper brauche, dass er ich ist, auch wenn er nicht funktioniert und ich furchtbar wütend auf ihn bin?
Heilsein und heilende Erfahrungen machen, das möchte ich Ihnen für den heutigen Tag mitgeben, bedeutet also nicht die Suche nach Einheit, nach Eins-Sein, nach Identität und Harmonie, nach vollkommener Gesundheit und Perfektion. Und das Gegenteil von Heil ist nicht das Böse, nicht die Differenz, nicht der Konflikt oder das Schwache und Kranke, sondern vielmehr der Verlust der Beziehung, des Interesses. Unheil ist Lieblosigkeit, es bedeutet, dass die Liebe verloren geht, die immer auch Feindesliebe ist. Unheil bedeutet, dass das Fremde, das Andere zwar noch da ist, dass es mir aber nicht mehr gelingt, mich und mein persönliches Begehren damit in eine Beziehung zu setzen. Ich interessiere mich nicht mehr dafür. Ich bin ent-fremdet im wahrsten Sinn des Wortes, denn ich habe das Fremde verloren, ich begehre es nicht mehr, und damit kann es mir auch kein Gegenüber und keine Hilfe mehr sein.
Das Begehren hat keine festen Ziele, es ist eher eine Orientierung auf dem Weg. Dem eigenen Begehren zu folgen – das geht nicht so, dass ich mir das Ziel aufmale und dann strategische Schritte tue und immer ausgefeiltere Techniken anwende, um dann schließlich dieses Ziel zu erreichen. Sondern es geht, indem ich mich auf ein Spiel einlasse, das Spiel des Lebens sozusagen. Eine gute Leitfrage dabei ist die, ob das, was ich jeweils tue, für mich noch einen Sinn hat. Fühle ich mich gut und ausgefüllt dabei? Bin ich mit Leib und Seele bei der Sache? Ist mir meine Arbeit oder mein Engagement so wichtig, dass ich bereit bin, dafür auch Anstrengungen in Kauf zu nehmen? Oder bin ich oft ausgelaugt, lustlos, tue ich nur noch meine Pflicht?
Wenn wir nur noch funktionieren, gute Menschen sein wollen, die Anforderungen der anderen erfüllen, dann laufen wir Gefahr, das eigene Begehren aus den Augen zu verlieren. Aber dieselbe Gefahr besteht, wenn wir zu starr an den eigenen Absichten und Zielen festhalten, wenn wir unsere Gewissheiten nicht aufgeben können, wenn wir Andere als Bedrohung und nicht als Chance sehen. Der Weg des Begehrens ermöglicht es uns hingegen, auch Hindernisse und Negatives als etwas zu sehen, mit dem wir uns in eine Beziehung setzen können, wenn auch möglicherweise in eine konfliktreiche. Die äußeren Umstände sind vielleicht schwierig, aber sie können unserem Begehren nichts anhaben. Eher ist es andersrum: Je größer unser Begehren ist, desto stärker, fantasievoller und engagierter werden wir diese Hindernisse in Angriff nehmen.
Vortrag beim Frauenkirchentag in Essen, 29.4.2006