Zitiert nach? Quellenfragen im Internet
in: : Arbeitshilfe zum Weitergeben, Evangelische Frauen in Deutschland, Nr. 4/Oktober 2017
„Quellentexte“, so nannte man früher in der Schule Originaltexte, die direkt aus dem Geschehen selber stammten: Historische Briefe oder Gesetzestexte zum Beispiel, Zitate aus Reden, alte Zeitungsberichte. Quellentexte waren immer schwierig zu lesen. Manches war unverständlich, weil man den Zusammenhang kannte, weil es unverständliche Anspielungen und Abkürzungen gab, oder weil schlicht die Wörter antiquiert waren und ihre Bedeutung unklar.
An Quellentexte, so war es früher jedenfalls, ist auch schwer heranzukommen. Man muss sie in Archiven aufstöbern oder als Reporterin mühsam vor Ort recherchieren, man muss unterwegs sein, Leute besuchen, Risiken eingehen. Normalerweise las man daher nur „Sekundärtexte“, also Berichte über ein Geschehen, die von einer Autorin oder einem Autorin geschrieben und redaktionell bearbeitet worden waren. Diese Sekundärtexte waren viel leichter zu verstehen als die Quellentexte, weil sie die Wissenslücken auffüllten, erklärten, das Ereignis einordneten und in einen Kontext stellten.
Seit es das Internet gibt, hat sich die Situation umgekehrt. Diejenigen, die in den sozialen Medien unterwegs sind, bekommen unentwegt „Quellentexte“ in ihrer Timeline angezeigt: Meinungsäußerungen von Privatpersonen oder Politikerinnen, Gutachten von Rechtsexperten, Analysen Lobby-Gruppen. Kommentare, PR-Berichte, nicht gekennzeichnete Satire.
Das bedeutet nicht weniger als eine Revolution der menschlichen Kommunikation. Mit dem Internet ist zum ersten Mal in der Geschichte eine „interaktive Massenkommunikation“ möglich. Es ist technisch machbar, dass Einzelne ohne große Ressourcen etwas publizieren, das unmittelbar überall auf der Welt gelesen oder angeschaut werden kann, ohne dass irgend eine Art der Redaktion oder Kontrolle dazwischen hängt.
Vor dem Internet gab es nur Entweder – Oder: Es gab entweder Massenkommunikation, allerdings war sie einseitig, sie ging von einem Sender (der Zeitungsredaktion, dem Fernsehsender, dem Radiokanal) zu vielen Empfängerinnen und Empfängern. Oder die Kommunikation war interaktiv, dialogisch, aber dann war die Menge der Teilnehmenden begrenzt auf zwei oder eine Handvoll Menschen, die miteinander telefonierten oder Briefe schrieben, sich in einem Raum trafen.
Im Internet gibt es diese Beschränkungen nicht mehr. Rein technisch ist ein simpler Privatblog oder ein Facebook-Eintrag, wenn er nicht durch spezielle Privatsphäre-Einstellungen geschützt ist, ebenso öffentlich wie ein Artikel auf Spiegel Online. Das bedeutet aber, dass die Regeln und Kulturtechniken, die früher nur für die „Massenmedien“ galten, und die Journalistinnen und Journalisten in ihrer Ausbildung eigens lernten, heute eigentlich auch für jede private Kommunikation gelten müssen.
Zum Beispiel die Wahrheitskontrolle. Das Überprüfen, ob eine Information wirklich stimmt oder ob es sich dabei um Propaganda oder Lüge handelt, ist eines der Kerngeschäfte von journalistischen Redaktionen. Das betrifft nicht unbedingt nur handfeste Lügen und Fälschungen. Auch die Pressemeldung eines Unternehmens oder einer Partei wird in einer Zeitung (hoffentlich) nicht ungeprüft und ohne eine Gegenrecherche abgedruckt.
Im Internet müssen wir Nutzerinnen und Nutzer diese Art der Wahrheitskontrolle theoretisch selber leisten. Das ist so einfach, weil wir erstens nicht professionell dafür ausgebildet wurden, und zweitens, was noch wichtiger ist: Weil Menschen den psychologisch verständlichen Impuls haben, das, was ihren eigenen Ansichten entspricht, automatisch für „wahrer“ zu halten als das, was ihnen widerspricht. So sind wir nun mal gestrickt.
Professionelle Journalistinnen und Journalisten haben gelernt und geübt, diesem allzu menschlichen Impuls nicht nachzugeben, sondern den Wahrheitsgehalt einer Information anhand von objektiven und plausiblen Kriterien zu überprüfen. Also zu recherchieren, zu kontrollieren, nachzufragen. Privatpersonen können das gar nicht leichten, weder vom Know How noch von den Kapazitäten her. Deshalb liegt in dieser exakten und verlässlichen Faktenrecherche heute die wesentliche Bedeutung der professionellen Medien. Leider werden sie ihr nicht immer gerecht, da sie unter einem ökonomischen Druck stehen, der auf Schnelligkeit und hohen Klickzahlen beruht. Deshalb schleichen sich auch bei den großen Medien häufig Fehler in die Berichterstattung, was natürlich ihre Glaubwürdigkeit untergräbt.
Aber dennoch ist es eine leidlich gute Faustregel, vor dem Weiterverbreiten einer Nachricht auf die Quelle zu schauen: Ist sie von einem etablierten Medium? Oder ist der Absender mir unbekannt? Oder kommt sie aus einer politischen Ecke, etwa von einer Seite, die mit Rechtsextremen verbandelt ist? Je unbekannter die Quelle, desto kritischer sollte ich sein, und vielleicht dann doch erst einmal gegenrecherchieren.
Denn leider entsteht in den sozialen Medien, wo eben redaktionelle Beiträge mit den ungefilterten „Quellen“ und den direkten Meinungsäußerungen von Parteien und Organisationen und Lobbygruppen konkurrieren, unweigerlich ein Trend zu so genannten „Filterbubbles“, und ich kenne niemanden, der dagegen immun wäre. Allerdings: Wenn alle das weiterteilen, was ihnen wahr erscheint, entstehen Gruppen von Gleichgesinnten, die sich gegenseitig in ihren Vorurteilen bestärken. So entsteht eine gefährlich soziale Dynamik, weil man sich irgendwann nicht mehr nur über unterschiedliche Meinungen streitet, sondern die einen felsenfest davon überzeugt sind, dass der Himmel grün und die anderen, dass er rot ist. Wenn es aber keine gemeinsame Faktenbasis mehr gibt, ist eine politische Diskussion praktisch ausgeschlossen.
Doch nicht alles ist schlecht: Auf der anderen Seite bietet diese neue Art der Kommunikation im Netz nämlich auch positive Aspekte. Sie kann, wenn sie gut genutzt und betrieben wird, die politische Debatte tatsächlich demokratisieren und bereichern. Denn nun können sich auch Meinungen und Positionen Gehör verschaffen, die abseits vom Mainstream liegen und bei der früheren Medienlandschaft kaum eine Möglichkeit hatten, wahrgenommen zu werden.
Auch die professionellen Medien, so wertvoll ihre Funktion auch sein mag, sind nämlich nicht unparteiisch und objektiv. Gerade erst hat ja eine Studie der MaLisa-Stiftung gezeigt, dass Männer in den Medien eklatant überrepräsentiert sind (http://meedia.de/2017/07/13/studie-von-maria-furtwaenglers-stiftung-frauen-im-fernsehen-deutlich-unterrepraesentiert/) – Zeitungen, Fernsehen und Radio bilden also nicht die Realität ab, sondern immer schon eine konstruierte Realität, das, was die Mehrheit für „normal“ hält. Feministische Theorien und Ideen zum Beispiel, die früher in den großen Medien kaum vorkamen, können jetzt im Internet aufgefunden, diskutiert und verbreitet werden. Diese Art von „netzfeministischem Aktivismus“ ist ein wesentlicher Grund dafür, warum Feminismus heute wieder sichtbarer und aktueller ist als noch vor 10, 15 Jahren – und inzwischen auch in den großen Medien vermehrt aufgegriffen wird.
Aber es gibt noch andere positive Beispiele. Sehr aktiv im Internet sind zum Beispiel Menschen, die auf irgendeine Weise von Autismus betroffen sind. Sie haben mit ihren vielfältigen Interventionen inzwischen erreicht, dass insgesamt sachlicher und nicht so klischeebeladen über Autismus berichtet und diskutiert wird. Gleiches gilt etwa für Schwarze Menschen: In den USA haben sie mit dem Internet-Schlagwort #blacklifesmatter („Schwarze Leben zählen“) bewirkt, dass die grassierende Polizeigewalt gegen Schwarze zum Thema wurde.
Insofern ist auch das Phänomen des „Shitstorms“ differenziert zu betrachten. Denn einerseits kommt es tatsächlich vor, dass Leute im Internet zu Unrecht gemobbt und mundtot gemacht werden – wobei es mit einer besonders hohen Wahrscheinlichkeit Frauen und nicht weiße Männer trifft. Der „Guardian“ zum Beispiel hat bei einer Untersuchung herausgefunden, dass von den zehn Autor_innen mit den meisten Hasskommentaren unter ihren Artikeln acht Frauen waren, und die zwei Männer waren Schwarze (https://netzpolitik.org/2016/guardian-untersucht-70-millionen-leserkommentare/). Immer wieder kommt es vor, dass meinungsstarke Frauen ihre Twitteraccounts und Blogs schließen, weil sie die Anfeindungen nicht mehr ertragen.
Aber nicht jeder so genannte „Shitstorm“ ist wirklich Hassrede und Mobbing. Gerade Menschen, die für sich eine quasi natürliche Immunität im Diskurs beanspruchen, in der Regel weiße ältere Männer, fühlen sich schnell ungerecht behandelt, sobald ihnen mehr als fünf Leute, die nicht „ihresgleichen“ sind, widersprechen. Aber genau das ist einer der demokratischen Aspekte des Internet: Hier können auch diejenigen ihre Kritik äußern, die früher gar keinen Zugang zu öffentlichen Plattformen gehabt hätten (dazu hat Sascha Lobo kürzlich eine lesenswerte Kolumne geschrieben: http://www.spiegel.de/netzwelt/web/sascha-lobo-ueber-empoerung-im-digitalzeitalter-geschrei-wir-verbessern-hier-gerade-die-welt-a-1158660.html)
Je demokratischer und basisnäher ein politischer Diskurs wird, umso mehr Verantwortung tragen die einzelnen Bürgerinnen und Bürger selber. Dass dabei momentan häufig mehr schief zu gehen scheint als wir uns wünschen würden, liegt leider auch daran, dass gerade viele liberale, moderate Menschen, und vor allem Frauen, sich hieran bislang kaum beteiligen. Sie nutzen zwar das Internet und lesen, aber sie beteiligen sich nicht aktiv an den Debatten. Auf diese Weise überlassen sie das Feld aber denen, die das politische Klima vergiften, anstatt mit dafür zu sorgen, dass die Chancen konstruktiv genutzt werden.
Doch es sind nicht nur kulturelle Herausforderungen, vor die uns die sozialen Medien stellen, sondern auch ganz handfeste. Wer publiziert, muss dabei geltende Gesetze beachten, zum Beispiel das Urheberrecht: Das Recht an der Veröffentlichung eines Fotos oder eines Textes gehört dem Urheber, der Urheberin. Will man es veröffentlichen, muss man dieses Recht erwerben, in der Regel, indem man ein Honorar dafür bezahlt. Und das gilt eben nicht nur für Zeitungen, sondern auch für Privatleute, die etwas auf Facebook posten oder auf ihrem Blog. Manche Anwaltskanzleien haben ein Geschäftsmodell daraus gemacht, unrechtmäßige Fotonutzungen im Internet verfolgen – unter Umständen kann das teuer werden.
Doch die Frage: „Was soll/darf ich veröffentlichen“ stellt sich nicht nur aus einer rechtlichen, sondern auch aus einer ethischen Perspektive. Es geht nicht nur um die Frage, wie wir andere Quellen beurteilen sollen, sondern auch um die Frage, welche Art von Quelle wir selbst sein möchten.
Diese Debatten sind oft sehr interessant. Zum Beispiel gibt es unterschiedliche Auffassungen zu der Frage, ob man Fotos von Kindern veröffentlichen soll oder nicht. Die einen finden das falsch, weil das Kind später vor vollendete Tatsachen gestellt ist – seine Vergangenheit ist ohne eigenes Zutun öffentlich gemacht worden. Andere argumentieren dagegen, dass eine Welt ohne Kinder keine reale Welt ist. Wollen wir wirklich, dass in dem Bild, das wir von der Öffentlichkeit malen, keine Kinder sind? Als Kompromiss machen es viele inzwischen so, dass sie zwar Fotos posten, auf denen Kinder drauf sind, aber so, dass die Kinder unkenntlich sind, also von hinten oder ausschnittsweise, jedenfalls ohne erkennbares Gesicht.
Generell hat es sich als eine gute Faustregel etabliert, niemals Fotos (oder auch sonstige personenbezogene Informationen von Dritten) zu veröffentlichen, ohne die Betreffenden vorher nach ihrer Einwilligung gefragt zu haben. Zwar darf man Fotos von öffentlichen Orten, also Plätzen, aber auch Veranstaltungen, rein rechtlich auch dann publizieren wenn Personen drauf erkennbar sind. Aber nur, wenn sie quasi „Hintergrund“ sind, nicht wenn die Person selbst das Motiv oder das Zentrum des Fotos ausmacht. In der Gesetzessprache heißt das „Recht am eigenen Bild“. Ich kann es im Übrigen auch geltend machen, wenn andere Fotos von mir ohne meine Erlaubnis im Internet verbreiten.
Ausnahmen bestätigen auch hier die Regel. So ist es erlaubt, Fotos von anderen Menschen zu publizieren, wenn es daran ein berechtigtes öffentliches Interesse gibt – weil man etwa so einen Politiker einer Lüge überführen kann. Paparazzi haben zuweilen Mühe, dieses öffentliche Interesse nachzuweisen, wenn sie Promis am Strand ablichten. Generell sollte man sich aber an der Faustregel der „informationellen Selbstbestimmung“ orientieren. Ich zum Beispiel weiß inzwischen, welche meiner Freundinnen gerne mit mir auf einem Selfie in Facebook stehen und welche da etwas dagegen haben. Eine kleine Frage wie „darf ich das Posten“ tut nicht weh, gleiches gilt übrigens andersrum: Wenn ich sehe, dass jemand fotografiert, kann ich sagen: Aber das jetzt bitte nicht ins Internet stellen.
Und was ist mit meinen eigenen Daten? Bekanntlich sind wir alle inzwischen sprudelnde Datenquellen, die zur Grundlage aller möglichen Geschäftsmodelle geworden sind. Unsere Daten sind der Gegenwert, mit dem wir zum Beispiel die kostenlose Nutzung von Facebook „bezahlen“. Und zwar wir alle, egal ob wir Facebook nutzen oder nicht.
Viele glauben fälschlicherweise, wenn sie selbst keine Informationen von sich preisgeben, dann wüssten Facebook, Google und Co. auch nichts über sie. Das stimmt aber längst nicht mehr. Mithilfe von Algorithmen, die statistische Zusammenhänge auf der Grundlage riesiger Datenmengen auswerten – „Big Data“ – lässt sich heute vieles über eine Person X wissen, selbst wenn diese Person X noch niemals irgend etwas von sich im Internet preisgegeben hat.
Das Spannende wird in Zukunft sein, wie wir mit dieser sprudelnden Quelle der riesigen Mengen an Informationen umgehen: Werden wir sie für Sinnvolles nutzen, etwa zur Vorhersage von Grippewellen oder Verkehrsstaus – oder schauen wir weiterhin zu, wie allein private Konzerne damit Profit machen? Datenschutz ist jedenfalls nur die eine Seite der Medaille. Noch wichtiger wäre es, für eine Demokratisierung von Big Data zu sorgen: Dafür, dass Daten nur dann erhoben werden dürfen, wenn sie später auch der Allgemeinheit zur Verfügung stehen.
Denn dabei ist die Ähnlichkeit mit der Privatisierung des Wassers ganz verblüffend. Die Quelle sprudelt. Die Frage ist nur: Wer darf daraus trinken?