Es ist Zeit, laut zu widersprechen
(Dorothee Markert und Antje Schrupp)
Die Bilder von der Soldatin Lynndie England, die irakische Gefangene foltert, haben in Deutschland keine Debatten über das Frausein ausgelöst. Das liegt vor allem daran, dass hier nach wie vor öffentlich nur der Gleichheitsfeminismus als Frauenbewegung wahrgenommen wird, also die Auffassung, Frauen hätten dasselbe Recht, böse zu sein, wie Männer. Die Folterbilder wurden so lediglich als weiterer Beleg für das genommen, was hier in Deutschland nicht nur die Ansicht der Bevölkerung ist, sondern auch die der Regierung (und damit der Mainstream-Medien): dass der Krieg im Irak falsch war.
Aber auch uns haben die Bilder zunächst nicht erschüttert. Sie erinnern schließlich an die längst bekannten Bilder von KZ-Aufseherinnen. Spätestens seit dem Nationalsozialismus ist klar, dass totalitäre und insbesondere militärische Systeme dazu führen, dass ganz normale Menschen schreckliche Dinge tun. Was also soll neu daran sein, dass Frauen, die Macht über andere Menschen haben, unmenschlich und grausam mit ihnen umgehen? Auch manche Mutter und manche Lehrerin tut das, wenn natürlich auch Lynndie England ein besonders krasser Fall ist.
Etwas ist aber doch neu, das wurde uns durch die Anfrage, einen Text für die Via Dogana zu schreiben, klar. Wir müssen uns nämlich fragen, ob wir nach 30 Jahren Frauenbewegung nicht anders für solche Geschehnisse verantwortlich sind, ob es nicht auch eine Folge einer bestimmten Richtung der Frauenbewegung ist, dass Frauen Soldatinnen sind und sich auch an Folterhandlungen beteiligen. Schließlich forderte Alice Schwarzer, Deutschlands berühmteste Feministin, schon in den 80er Jahren »Frauen in die Bundeswehr« – in der Armee gibt es doch so viele gute Jobs – und warnte die Frauen vor zu viel Friedensengagement. Zu nennen wäre auch die Idealisierung »frecher«, oft auch bösartiger Mädchen in der »emanzipatorischen« Kinderliteratur der 70er und 80er Jahre. Oder feministische Bestseller wie »Brave Mädchen kommen in den Himmel, böse überall hin«, in denen auch für erwachsene Frauen kriminelles Verhalten als Weg zur Gleichheit mit den Männern propagiert wurde.
Sicher, wir – also die Feministinnen, die an der Geschlechterdifferenz arbeiten und die Beziehungen unter Frauen zum Ausgangspunkt der Politik machen – wollen schon lange mit »diesem« Feminismus nichts zu tun haben. Aber die Auseinandersetzung darüber führen wir selten laut und öffentlich. Das haben wir bisher damit gerechtfertigt, dass wir jedes Engagement von Frauen für mehr weibliche Freiheit zuerst einmal wertschätzen wollten, dass wir anderen Frauen nicht öffentlich »in den Rücken fallen« wollten. Auch jetzt haben wir nicht laut widersprochen, als Alice Schwarzer in ihrer Zeitung »Emma« die folternden Soldatinnen als Objekte einer pornographischen Inszenierung interpretierte, die von den dominanten Männern in ihrer Umgebung abhängig seien. Damit wird ihnen wie in den Zeiten des Patriarchats die Fähigkeit zu eigenverantwortlichem Handeln abgesprochen.
Dabei hätten wir durchaus Antworten zu geben – nicht zuletzt Dank vieler Anstöße aus Italien. Wir wissen, dass das Frausein nicht inhaltlich festgelegt ist, etwa aufgrund natürlicher oder biologischer oder auch sozialisationsbedingter Gegebenheiten. Wir wissen aber auch, dass Freiheit gerade nicht Autonomie bedeutet, sondern aus den Beziehungen unter Frauen entsteht, dass es darum geht, dem eigenen Frausein eine Bedeutung zu geben und darin Sinn zu finden. Die Frage ist also nicht, was folternde Soldatinnen über Weiblichkeit aussagen oder über eine imaginäre weibliche »Identität«, sondern ob wir, die wir Frauen sind, bessere Antworten finden auf das Chaos unserer Zeit (und das ist eben eine offene Frage).
In der Gruppe »Kultur Schaffen« haben wir im vergangenen März die Idee ausgearbeitet, das Handeln von Frauen in einer traditionell männlich strukturierten und interpretierten Welt als interkulturellen Dialog zu verstehen. Die weibliche Kultur ist uns zwar gegeben, denn wir fanden sie ja im Moment unserer Geburt bereits vor. Dass wir ihr angehören, ist eine Tatsache. Aber genau das ist gleichzeitig der Grund, warum wir sie verändern können: Denn nur wer sich der eigenen Zugehörigkeit zu einer Kultur sicher ist, kann deren gegenwärtige Grenzen überschreiten. Eine Frau, die anders handelt, als die Mehrheit der Frauen für richtig hält (wie zum Beispiel Lynndie England), stellt daher nicht die weibliche Kultur als solche in Frage oder gar eine imaginäre weibliche »Identität«, sondern verändert die weibliche Kultur. Manchmal zum Besseren, manchmal zum Schlechteren, beides ist möglich. Wir können nun bewusst die Verantwortung dafür übernehmen, wie wir die weibliche Kultur heute gestalten wollen, was es zu bewahren und was es zu verändern gilt – und dann müssen wir manchen Veränderungsversuchen eben auch entschieden entgegen treten.
Und das unter anderen Bedingungen, als unsere Mütter und Großmütter. Wir leben in einer Gesellschaft vielfältiger Kulturen. Die »getrennten Sphären« von früher sind auch in Bezug auf die Geschlechter weitgehend aufgelöst, wir finden Männer mit Kinderwagen auf dem Spielplatz und Frauen in der Armee. Alle Erfahrungen mit Multikulturalität aber zeigen, dass das Bild vom Schmelztiegel, in dem alles zu einem Einheitsbrei verkocht, nicht funktioniert. Stattdessen führt die räumliche Begegnung verschiedener Kulturen leicht zur Abschottung, zur Rückbesinnung auf das vermeintlich »eigene« (was die aktuelle Renaissance des Biologismus erklärt, der für viele Frauen verführerisch ist). Dieser Gefahr zu begegnen ist eine wichtige Aufgabe der Frauenbewegung heute. Statt sich hinter dem Phantasma einer eigenen Identität zu verschanzen, ist es notwendig, anderen Kulturen mit Offenheit, Interesse und vor allem Respekt zu begegnen – auch der Kultur der Männer. Das heißt aber nicht, dass Frauen (wie im Gleichheitsdenken) die Maßstäbe der Männer an sich selbst anlegen, sondern dass sie sich um Vermittlung bemühen, dass sie also das, was sie in der anderen »Kultur« beobachten, durch eine Art Übersetzungsarbeit in das durch die eigene »Kultur« geprägte Erleben verstehbar und damit auch beurteilbar machen. Voraussetzung dafür ist das Wissen, dass nicht alles, was in meiner Kultur selbstverständlich ist, auch in der anderen Kultur gelten muss und andersherum.
Die Aufmerksamkeit für das Andere, die Praxis der Beziehungen, die Wertschätzung der Differenz, das Wissen um Gebürtigkeit und die bewusste Einbindung in das »Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten« (Hannah Arendt) sind Anknüpfungspunkte, die wichtige Antworten für aktuelle politische Fragen bereithalten. Wir sollten uns in Zukunft mehr anstrengen, dieses Wissen in die Welt hinein zu tragen.
Konkret heißt das: Wir müssen den »interkulturellen Dialog« mit den Männern aktiver als bisher führen, und auch mit den Frauen, die sich der weiblichen Kultur nicht (mehr) zugehörig fühlen (wollen). Und wir müssen denjenigen Frauen laut und öffentlich widersprechen, die für eine weibliche Kultur eintreten, die mehr Wert auf ihre Beteiligung an den Privilegien der Männer legt, als auf eine gute Welt für alle Menschen. Wir müssen also falsche Solidaritäten aufkündigen und neue Koalitionen eingehen.
Ob das genügt, um die Welt aus dem gegenwärtigen Chaos zu ziehen? Das wissen wir nicht. Aber wenn wir davon ausgehen, dass wir mitverantwortlich sind dafür, wie unsere Frauenkultur aussieht, wie Frauen in der Welt in Erscheinung treten und wie andere Frauen darüber sprechen, dann rückt das, was bisher scheinbar so weit weg war und dem gegenüber wir nichts als Ohnmacht empfinden konnten, plötzlich wieder in Reichweite. Wenn wir öffentlich in einen Dialog treten über die Verantwortung von Frauen und Männern für die Welt, dann erst sind wir politisch erwachsen und mündig geworden und können an einer postpatriarchalen neuen Ordnung arbeiten.
aus: Via Dogana Nr. 70, September 2004