Zur Tötung des Terroristen Ossama bin Laden auf Befehl der US-Regierung
Menschen, die auf der Straße jubeln und tanzen, als sie die Nachricht vom Tod des Terroristen erfahren. Politikerinnen und Politiker, die öffentlich ihre Freude darüber ausdrücken, dass ein Mensch ohne ordentliches Verfahren und richterliches Urteil getötet wurde. Verkehrte Welt?
Die beinahe hollywoodartige Tötung Ossama Bin Ladens zeigt, wie fragil rechtsstaatliche Prinzipien sind. Die spontane Reaktion vieler war: Bin Laden war ein Massenmörder, also gut, dass er jetzt endlich weg ist und keinen Schaden mehr anrichten kann. Nach einer kurzen Weile kam dann das Nachdenken. Denn auch ein Massenmörder hat ja Anspruch auf ein ordentliches Gerichtsverfahren, und außerhalb davon gilt das keineswegs nur christliche, sondern allgemein moralische Gebot: Du sollst nicht töten.
Darf man also Menschen grundsätzlich nur im Rahmen eines rechtsstaatlichen Verfahrens töten? Was aber ist, wenn es sich um wirklich gefährliche Menschen handelt? Wenn rechtlich wasserdichte Maßnahmen nicht in der Lage sind, die Gefahr, die von solchen Menschen ausgeht, wirksam zu bannen? Den Tod wie vieler Unschuldiger muss man in Kauf nehmen, bevor man selbst töten darf?
Die reale Gefährlichkeit Ossama Bin Ladens kann ich nicht beurteilen. Ich hoffe, hinter der Aktion standen entsprechende Annahmen und nicht einfach billige Rachegelüste. Aber selbst, wenn eine von Bin Laden ausgehende Gefahr der Grund für seine Tötung war, so gibt es trotzdem keinen Grund, darüber zu jubeln. Um es mit der Ethik Dietrich Bonhoeffers zu sagen: Es kann vielleicht manchmal notwendig sein, einen Menschen zu töten. Richtig jedoch ist es nie.
Bonhoeffer hatte ja selbst mit einem ähnlichen Dilemma zu tun, und seine Auseinandersetzung ist sehr hilfreich, um es zu verstehen. Angesichts der unglaublichen Unmenschlichkeit des Nazi-Terrors beschloss er, sich aktiv am Widerstand gegen Hitler zu beteiligen, auch an möglichen Attentaten. Er war zu der Überzeugung gekommen, dass ein Christ im Gehorsam gegen Gott und die Wahrheit gezwungen sein kann, nicht nur gegen die Gesetze, sondern auch gegen die Moral und die biblischen Gebote zu verstoßen: »Es ist zwar nicht wahr, dass der Erfolg auch die böse Tat und die verwerflichen Mittel rechtfertigt, aber ebenso wenig ist es möglich, den Erfolg als etwas ethisch völlig Neutrales zu betrachten«, schrieb er.
Das ist eine klare Absage an alle, die sich einfach auf »Prinzipien« zurückziehen und die realen Folgen für die Welt nicht in Betracht ziehen. Allerdings erteilt Bonhoeffer auch jenen eine Absage, die eine solche Tat nach dem Motto »Der Zweck heiligt die Mittel« für legitim halten. »Wer hält stand?« fragte Bonhoeffer an der Wende zum Jahr 1943: »Allein der, dem nicht seine Vernunft, sein Gewissen, seine Freiheit, seine Tugend der letzte Maßstab ist, sondern der dies alles zu opfern bereit ist.«
Das heißt, wer in einer konkreten Situation die Notwendigkeit sieht, einen Menschen zu töten, und entsprechend handelt, verzichtet darauf, ein »Guter« zu sein. Er gibt seine Tugend und seine Freiheit auf und macht sich schuldig. Kein Recht, keine öffentliche Meinung, keine moralphilosophische Spitzfindigkeit kann ihn freisprechen: »Civilcourage kann nur aus der freien Verantwortlichkeit des freien Mannes erwachsen. Sie beruht auf einem Gott, der das freie Glaubenswagnis verantwortlicher Tat fordert und der dem, der darüber zum Sünder wird, Vergebung und Trost zuspricht.«
Vergebung und Trost, aber nicht Freispruch von Schuld. Einen Menschen zu töten bleibt eine Sünde, auch wenn es sich um Adolf Hitler oder Ossama Bin Laden handelt. Genau hier liegt der Unterschied zu denen, die jetzt die Attentäter Bin Ladens als Helden bejubeln. Hat US-Präsident Obama mit seinem völkerrechtlich und moralisch fragwürdigen Einsatzbefehl Zivilcourage bewiesen oder einfach Wilder Westen gespielt? War die Gefahr, die von Bin Laden ausging, tatsächlich so groß, dass der Verzicht auf alle humanistischen Prinzipien notwendig war? Kann der Präsident einer der mächtigsten Länder der Welt überhaupt Tyrannenmord begehen? Und: Wenn rechtsstaatliche Prinzipien faktisch nicht in der Lage sind, konkrete Probleme und Bedrohungen zu lösen, müssten wir dann nicht auf einer politischen Ebene Alternativen entwickeln? Solche Fragen sollten jetzt diskutiert werden. Und zwar über die beiden allzu einfachen Alternativen von Richtig und Falsch hinaus.
Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus führte im Juli 1944 zu einem missglückten Attentat auf Hitler. Zu diesem Zeitpunkt war Bonhoeffer bereits im Gefängnis. Bei der Verfolgung der Attentäter wurden aber Dokumente gefunden, die seine Beteiligung bewiesen. Bonhoeffer wurde zum Tode verurteilt und am 9. April 1945 hingerichtet.
Er sah sich dabei keineswegs als unschuldiges Opfer. Denn er wusste, dass er schuldig war – und zwar nicht nur dem Gesetz nach, sondern auch vor Gott. Doch er lebte nun einmal in Zeiten, in denen es nicht möglich war, unschuldig zu bleiben. Ein solches Schuldbewusstsein fehlt bei denen, die Bin Ladens Tötung planten, durchführten und jetzt bejubeln. Und das, nicht die Aktion als solche, ist das Problem.
in: Wendekreis Nr. 6, Juni 2011