Warum leben wir im Patriarchat?
In: Publik Forum, 28.9.2023
Menschliche Kulturen existieren in allen Formen und Farben – von friedfertig bis kriegerisch, von egalitär bis hierarchisch, zentral oder dezentral organisiert. Aber es gibt eine Konstante: Fast überall dominieren die Männer. „Die männliche Vorherrschaft”, schreibt die britische Journalistin Angela Saini in ihrem aktuellen Buch „Die Patriarchen”, „ist universal.”
Ist das Patriarchat also bereits in der Natur vorgegeben? Göttlicher Schöpferwille? Lange wurde das so gesehen, selbst von Feministinnen wie Simone de Beauvoir: Die Tatsache, dass Männer keine Kinder gebären, hätte ihnen automatisch einen Vorteil vor den Frauen verschafft, schrieb sie in „Das andere Geschlecht”.
Angela Saini ist anderer Ansicht. Das Patriarchat, so argumentiert sie, sieht von Fall zu Fall „so unterschiedlich aus, dass es kaum eine universelle Ursache geben kann.” Saini versteht die Geschichte als eine Verkettung unglücklicher Umstände und sozialer, also menschengemachter Entwicklungen, die zur Vorherrschaft der Männer geführt hätten. Sicher ist jedenfalls: In dem Moment, als die ersten Gesellschaften mit Schrift, Geld, Religion und Staatlichkeit entstanden – ungefähr 3000 Jahre vor Christus – saß das Patriarchat bereits fest im Sattel.
In der Archäologie sehr verbreitet ist die These, dass der wichtigste Faktor bei seiner Entstehung die Erfindung der Landwirtschaft war, etwa 10.000 Jahre v.Chr. Die mit dieser „neolithischen Revolution” möglich gewordene sesshafte Lebensweise habe zu einem starken Anstieg der Geburtenraten geführt – gut für die Gesellschaft, schlecht für die Frauen. Trotzdem bleiben viele Fragen offen: Warum haben die Frauen sich nicht gewehrt? Woher kam die Motivation der Männer, zu herrschen? In welchen zeitlichen Dimensionen hat sich das abgespielt? Kurz: Was passierte in der Zeit zwischen 10.000 und 3000 vor Christus genau?
Der Evolutionsbiologe Carel van Schaik und der Historiker Kai Michel glauben, dass damals in Europa und im Nahen Osten aufgrund von Klimaveränderungen das Großwild ausstarb und damit die Möglichkeit verloren ging, sich durch Jagd soziale Reputation zu erwerben. Von dieser Veränderung seien Männer, die häufiger Großwild gejagt hätten, stärker betroffen gewesen als Frauen, und zum Ausgleich hätten sie sich männlichkeitsverehrende Religion geschaffen, die zur Grundlage für die späteren patriarchalen Religionen wurde. Als Beleg führen van Schaik und Michel die Ausgrabungsstätte Göbekli Tepe in Anatolien an, die vermutlich ein sakraler Ort war und wo zahlreiche Penisdarstellungen aus der Jungsteinzeit gefunden wurden. Ihre Überlegungen sind auch religionsgeschichtlich interessant, weil sie eine sehr frühe Unterscheidung in weibliche und männliche Spiritualität nahelegen: Während Männer zu Ehren der Götter phallische Riesen-Monumente schufen, hätten Frauen ihre Religiosität im Alltag gelebt, mit kleinen Figurinen, dezentralen Altären und lebensbegleitenden Ritualen.
Damit widersprechen sie einer der bekanntesten Theorien zu Entstehung des Patriarchats, die die Archäologin Marija Gimbutas aufgestellt hat. Die Harvard-Professorin erforschte in den 1950er und 1960er Jahren neolithische Kulturen in Südosteuropa und kam zu der Überzeugung, dass es im „Alten Europa”, wie sie es nannte, ursprünglich matrilinear organisierte, friedliche Kulturen mit einer Religion der „Großen Göttin” gegeben habe, die zwischen 4300 und 2800 v. Chr. von patriarchalen Kriegerkulturen aus dem Osten verdrängt worden seien. In den 1980er und 1990er Jahren inspirierte diese Idee viele Frauen, die nach der zweiten Welle der Frauenbewegung in Aufbruchstimmung waren. Vor allem die Ausgrabungsstätte von Çatalhöyük in Anatolien wurde zu ihrem Wallfahrtsort. Diese Großsiedlung, die ihre Blütezeit um 7000 v. Chr. erlebte, gilt als erste Stadt der Weltgeschichte, und es wurden dort Figurinen mit Brüsten und Vulva gefunden, die als Muttergottheiten interpretiert werden können.
Doch gerade wegen dieser feministischen Begeisterung für ihre Forschung wurde Marija Gimbutas als Wissenschaftlerin von ihren männlichen Kollegen in der Archäologie zu Lebzeiten abgelehnt und belächelt. Inzwischen ist sie größtenteils rehabilitiert. Seit Mitte der 1990er Jahre – Gimbutas starb 1994 – lässt sich mit Hilfe von DNA-Analysen nicht nur das Geschlecht vorgeschichtlicher Skelette bestimmen, sondern auch genetische Verwandtschaftsbeziehungen nachvollziehen. Diese Analysen zeigt in zahlreichen spektakulären Fällen, dass vermeintliche Krieger- oder Herrschaftsgräber in Wahrheit Grabstätten für Kriegerinnen und Herrscherinnen waren. Und sie bestätigen in der Tat, dass etwa um 2200 v.Chr., also nur wenig später als von Gimbutas vermutet, in großer Zahl Menschen von Osten kommend nach Europa eingewandert sind. Und dass es sich dabei ganz überwiegend um junge Männer gehandelt hat – schätzungsweise kamen auf eine Frau 5 bis 14 Männer. Die Neuankömmlinge mischten sich mit den lokalen Bevölkerungen, und es ist durchaus anzunehmen, dass sich dabei auch Gewohnheiten, religiöse Überzeugungen und Machtverhältnisse verschoben.
Aber reicht das aus, um die Entstehung einer generellen männlichen Dominanz zu erklären? Angela Saini bleibt skeptisch. Die Ausgrabungen von Çatalhöyük interpretiert sie nicht als Hinweis auf eine matriarchale Kultur mit Weiblichkeit und Mutterschaft im Zentrum, sondern als Beispiel für eine Gesellschaft, in der Geschlecht keine große Rolle spielte. Figurinen mit Brüsten und Vulven, argumentiert sie, können schließlich auch einfach „normale“ Menschen darstellen, ohne dass deren Gebärfähigkeit eine spezielle Bedeutung haben muss: Nur in einem Mindset, das Frauen bereits abwertet, ist es bemerkenswert, wenn ein Körper Brüste und Vulva hat. Ohne „Patriarchat im Kopf“ ist das einfach ein normaler Körper. Saini hält es jedenfalls für fraglich, allein aus der Chromosomenverteilung von Bevölkerungsgruppen bereits auf kulturelle Konflikte entlang von Geschlechterlinien zu schließen.
Zumal es auch andere Möglichkeiten gibt. Denn die DNA-Analysen haben noch etwas viel Interessanteres gezeigt: Zwischen 5000 und 3000 v. Chr. gab es in Europa, aber auch in Teilen Asiens und Afrikas ein „genetisches Nadelöhr“: Nur vergleichsweise wenige Männer haben in dieser Zeit eigene Nachkommen gezeugt, die allermeisten blieben kinderlos. Die Biologin Maike Stoverock erklärt sich das so, dass damals für Menschen das im Tierreich vorherrschende Prinzip der „Female Choice” außer Kraft gesetzt war, also die Praxis, dass Weibchen sich ihre männlichen Sexualpartner und damit Mit-Erzeuger ihres Nachwuchses aussuchen. Stattdessen konnten offenbar einige wenige Männer den Zugang zur Reproduktion für sich monopolisieren. Das Patriarchat, so Stoverocks Schlussfolgerung, entstand nicht als Herrschaft „von Männern über Frauen”, sondern als Herrschaft von wenigen Männern über alle Frauen und die Mehrzahl der anderen Männer.
Das passt auch zu den Überlegungen von Angela Saini. Sie glaubt, dass die soziale Unterscheidung von Menschen in Hinblick auf ihre Gebärfähigkeit – also die Entstehung einer sozialen Geschlechterdifferenz – erst im Zusammenhang mit der Bildung von Staaten wichtig wurde, und zwar aus bevölkerungspolitischen Gründen. Die Macht eines Herrschers habe nicht auf der Größe seines Territoriums beruht, sondern auf der Anzahl von Menschen, die unter seiner Herrschaft lebten. Staatliche Machthaber, so argumentiert sie, hatten Interesse an hohen Geburtenzahlen, und in der Folge seien Menschen mit Uterus „frauisiert“ worden, also in eine eigene Kategorie geraten. Ein Indiz dafür könnte sein, dass sich im Indogermanischen tatsächlich erst spät, etwa um 2500 v. Chr., ein grammatisches Femininum herausgebildet hat.
Die Zufuhr von Menschen als „Subjekte”, als Untertanen also, erfolgte allerdings nicht nur über höhere Geburtenzahlen, sondern auch durch Kriege, die zum Ziel hatten, Angehörige anderer Gruppen zwecks Ausbeutung ihrer Arbeitskraft gefangen zu nehmen. Sklaverei ist, ähnlich wie Patriarchat, ein globales Phänomen: Schätzungen zufolge machten Gefangene bis zu einem Drittel der griechischen Bevölkerung in der Antike aus, 10 bis 20 Prozent des römischen Italiens, 15 bis 20 Prozent vieler frühislamischer Staaten, 10 Prozent im Skandinavien des 11. Jahrhunderts und sogar 50 bis 60 Prozent im Korea des 17. Jahrhunderts.
Dass Patriarchat und Sklaverei gemeinsame historische Wurzeln haben, schrieb schon 1986 die Historikerin Gerda Lerner in ihrem Buch „Die Entstehung des Patriarchats”. Lerner glaubte, dass die frühgeschichtliche Unterdrückung von Frauen in der patriarchalen Familie das Modell für die spätere Sklaverei und andere Formen der Unterdrückung geliefert habe. Angela Saini hält hingegen die Versklavung fremder Volksgruppen für ursprünglicher: „Vielleicht war es die Praxis der Sklaverei, die nach und nach die Institutionen der Ehe prägte.” Staatlichkeit als Ursache des Patriarchats würde auch sein globales Vorkommen erklären: Herrschaftsgefüge entstanden ja nicht nur in Mesopotamien, wo sie später in die ägyptisch-jüdisch-griechisch-römische Antike mündeten, sondern unabhängig davon auch in Amerika (die Maya, die Azteken), in der Karibik, in Asien (Indien, China). Allerdings gab es gleichzeitig immer auch Kulturen, die sich nicht staatsförmig organisierten, wie der Kulturanthropologe David Graeber und der Archäologe David Wengrow in ihrem Monumentalwerk „Anfänge” akribisch dargelegt haben. Staatliche Herrschaft ist zwar ein globales Phänomen, aber nicht die einzige Form, in der menschliche Zivilisation funktioniert.
Ein entscheidender und ebenfalls global nachzuweisender Faktor für die Verbreitung und Stabilisierung patriarchaler Strukturen ist laut Angela Saini die Verdrängung matrilokaler Familienstrukturen durch patrilokale. Patrilokalität bedeutet, dass Frauen mit Eintritt der Gebärfähigkeit ihre Familien verlassen müssen, um in die Familien ihrer Männer zu ziehen. In matrilokalen Gesellschaften, von denen es auch heute noch einige gibt, bleiben Menschen hingegen ihr ganzes Leben im Haus ihrer Mutter ansässig. Aus ganz verschiedenen Regionen der Welt ist belegt, wie lange Gesellschaften sich gegen die Abschaffung der Matrilokalität gewehrt haben. Und die ebenfalls global verbreitete Praxis des Brautraubs zeigt, dass der Wandel oft nicht einvernehmlich war, und wie schmal der Grat zwischen Sklaverei und patrilokaler Eheschließung.
In einer patrilokalen Ehe werden junge Frauen qua die Heirat zu Außenseiterinnen ohne soziales Unterstützungsnetz. Sie verlieren ihre soziale Macht, was sich auf Dauer unweigerlich auf das Kräfteverhältnis zwischen den Geschlechtern auswirkt. Nicht nur in der Bronzezeit, sondern alle seitherigen Jahrtausende hindurch und besonders auch im Zuge der von Europa ausgehenden Kolonialisierung großer Regionen Afrikas, Südamerikas und Asiens war die Zerstörung matrilokaler Familienstrukturen das entscheidende Mittel zur Durchsetzung herrschaftsförmiger Geschlechterverhältnisse. Sehr häufig haben sich die betroffenen Gemeinschaften lange und zäh dagegen gewehrt; im indischen Bundesstaat Kerala wurde die Mutterfolge erst im Jahr 1976 endgültig per Gesetz abgeschafft.
Gleichzeitig gab es immer auch Kollaboration seitens derer, die von dem neuen System profitieren.
Denn auch das scheint leider eine Konstante der menschlichen Geschichte zu sein: Wenn man jemandem Macht anbietet, wird sie angenommen. „Die Männer” haben das Patriarchat vielleicht nicht erfunden, aber viele haben davon profitiert, ebenso wie Schwiegermütter, die Macht über die jungen weiblichen Neuankömmlinge in der Familie ausüben konnten. Es gehören eben immer viele gesellschaftliche Kräfte dazu, um eine Bevölkerungsgruppe zu entrechten und zu unterdrücken.
Wie genau die männliche Vorherrschaft auf der Erde entstand, wird sich wohl nie restlos klären lassen. Doch Naturgesetz oder gar göttlicher Schöpferwille ist sie mit Sicherheit nicht. Sie ist genauso wie Sklaverei und andere Unterdrückungsstrukturen menschengemacht, und genau deshalb ist es wichtig, sich damit zu beschäftigen. Wie Angela Saini schreibt: „All unsere Bemühungen, die Ursprünge des Patriarchats zu finden, sagen vielleicht weniger über die Vergangenheit als über die Gegenwart aus. Aber vielleicht ist es ohnehin die Gegenwart, die wir verstehen wollen.”
Literatur:
Angela Saini: Die Patriarchen. Auf der Suche nach dem Ursprung männlicher Herrschaft. München 2023.
Carel van Schaik, Kai Michel: Die Wahrheit über Eva. Die Erfindung der Ungleichheit von Frauen und Männern, Hamburg 2020.
Marija Gimbutas: Die Sprache der Göttin, Frankfurt 1995.
Meike Stoverock: Female Choice. Vom Anfang und Ende der männlichen Zivilisation, Berlin 2021.
Gerda Lerner: Die Entstehung des Patriarchats, Berlin 2022 (Neuauflage).
David Graeber, David Wengrow: Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit, Stuttgart 2022.