Geschichte einer weiblichen Theologietradition
Die Geschichte der christlichen Kirche stellt sich als eine Geschichte männlicher Vorherrschaft dar: Ein männlicher Erlöser, männliche Jünger und Apostel, eine rein männliche Hierarchie, und erst vor wenigen Jahrzehnten dann zaghafte Versuche, Frauen zu den Ämtern der Kirche zuzulassen. Der Fall scheint klar: Das Christentum ist eine ziemlich patriarchale Erscheinung. Oder doch nicht?
Ist das Christentum eine Religion, in dem allein die Männer das Sagen haben? Aus heutiger Sicht sieht das vielleicht so aus. Im Jahr 1405 jedoch war eine Frau da ganz anderer Ansicht. Christine de Pizan, eine venezianische Theologin und Schriftstellerin, schrieb damals in ihrem »Buch von der Stadt der Frauen«:
»In den heiligen Legenden und Geschichten um Jesus Christus und seine Apostel wirst du selten auf Frauentadel stoßen. Ähnliches gilt für die Geschichten der Heiligen; dort findest du vielmehr Beispiele erstaunlicher Standhaftigkeit und unzähliger Tugenden, mit denen Frauen dank der Gnade Gottes gesegnet sind. Oh, wie wohltätig, barmherzig, unerschrocken, wie umsichtig und freundschaftlich handelten die Frauen im Umgang mit den Dienern Gottes! Auch wenn einige Narren männlichen Geschlechts diese als völlig unbedeutend betrachten, so kann doch niemand bestreiten, daß in unserer Religion solche Werke Leitern sind, die in den Himmel führen.«
Die Werke der Frauen sind Leitern, die in den Himmel führen. Theologische Forschungen haben inzwischen Christines These von der Bedeutung der Frauen für die christliche Geschichte bestätigt – von den Jüngerinnen, die die ersten Zeuginnen der Auferstehung waren, über die Diakoninnen und Predigerinnen der urchristlichen Gemeinden bis hin zu den mittelalterlichen Mystikerinnen. Allerdings scheint das angesichts patriarchaler Übermacht nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Auch an der Haltung ihrer Vorschwestern nehmen moderne Frauen häufig Anstoß. Christine de Pizan etwa schrieb:
«Und deshalb, Ihr meine lieben Frauen, übt Euch in den Tugenden der Demut und der Geduld, auf daß Euch Ehre und der Zugang zum himmlischen Reich geschenkt werden; Denn der heilige Gregorius sagt, die Geduld sei der Weg Jesu Christi und verschaffe Zugang zum Paradies«.
Das scheint nicht gerade ein Vorbild zu sein für kämpferische, nach Emanzipation strebende Frauen von heute. Sie dürfen doch nicht demütig sein, wenn sie mit den Männern und gute Jobs und Machtpositionen konkurrieren, sie dürfen auch nicht geduldig warten, sondern sie müssen forsch sein, sich ihr Recht nehmen, und wenn’s sein muß, auch die Ellenbogen einsetzen. Bei genauerem Hinsehen stellt man allerdings fest, daß es Christine de Pizan gar nicht um eine Auseinandersetzung zwischen Frauen und Männern geht, sondern um das Verhältnis der Menschen zu Gott. Das gilt auch für die Mystikerin Margarete Porete, die am Ende des 13. Jahrhunderts ähnliches schrieb:
«Wer ist denn die Mutter der Tugenden? Die Demut, spricht die Liebe. Und zwar nicht jene Demut, die aus Tugendhaftigkeit Demut ist, denn die ist eine vollblütige Schwester der Vernunft. Jene Demut, welche die Mutter der Tugenden ist, sie ist die Tochter der göttlichen Majestät und stammt aus der Gottheit. Jene Demut ließ wachsen den Stamm wie auch die Frucht der Schößlinge.«
Das ist auch eine deutliche Kritik an den Männern der Kirche gewesen. Die waren nämlich keineswegs demütig, sondern arrogant und herrschsüchtig, jedenfalls die Mächtigen unter ihnen. In der Tat ist Margarete Porete für ihr Buch im Jahr 1310 als Ketzerin hingerichtet worden – und übrigens bis heute offiziell nicht rehabilitiert. Ihre Gedanken aber lebten weiter. Nicht nur Christine de Pizan, auch anderen Theologinnen späterer Jahrhunderte haben sie aufgegriffen und weiterentwickelt. Die meisten von ihnen fordern keineswegs die Gleichstellung von Frauen und Männern, im Gegenteil: Die Männer, jedenfalls die unter ihnen, die nur nach Macht und Einfluß strebten, standen ja gerade im Kreuzfeuer ihrer Kritik. Demgegenüber stellten sie als weiblich geltende Tugenden, wie Demut, Gehorsam, ja sogar Schwäche als die wahre christliche Haltung heraus. Und zwar als eine, die auch von Männern einzufordern ist. Das zieht sich hin bis zur Reformation. So schreibt zum Beispiel die Reformatorin und Pfarrfrau Katharina Zell:
Was schwach ist vor der Welt, das hat Gott erwählt, daß er, was stark ist, zuschanden macht.
Was schwach ist, das hat Gott erwählt, damit er das Starke zuschanden macht. Dieser Grundgedanke weiblicher Theologie war in Umbruchzeiten wie der Reformation auch für Männer attraktiv, er wurde zeitweilig sogar zu einem politischen Programm. Wenn es darum ging, eingefahrene Kirchenstrukturen zu kritisieren, die Amtskirche und die starren Hierarchien zu verändern, dann waren Frauen immer bei den treibenden Kräften. So auch in der pietistischen Bewegung im 17. Jahrhundert, die gegen eine erstarrte lutherische Orthodoxie aufbegehrte, weil es auch bei den Lutheranern inzwischen mehr um Macht und politischen Einfluß ging, als um reformatorische Ideale der Frömmigkeit. Zu den führenden Pietistinnen gehörte die Frankfurterin Juliane Baur von Eysseneck. Sie schrieb in ihrem Testament:
«Mein ernstlicher und letzter Wille an euch ist dieser, daß ihr nicht lieb habt die Welt und was darinnen ist, sondern daß ihr aus allen Kräften der Welt und allen ihren Werken tot sein und blieben sollet. Es ist Gottes Wahrheit: Wer der Welt Freund sein will, der muß Gottes Feind sein. Saget nicht: Mein Stand erfordert das, was euch Christus verboten! Was ist euer Stand? Aus Dreck seid ihr geboren, wie alle Menschen, Könige und Bettler. Das ist euer Stand und kein anderer. Und wehe euch ewig, wenn ihr Ehre und Reichtum sucht, die der Schmach Christi zuwider sind.«
Diese Aufforderung erging an Frauen und Männer gleichermaßen. Die Reihe der Beispiele ließe sich beliebig fortführen. Feministische Theologie und feministische Kirchenpolitik, das hieß in den vergangenen zweitausend Jahren meistens: Die Machtstrukturen der Amtskirche und die Selbstverständlichkeiten männlicher Gelehrsamkeit in Frage zu stellen. Und zwar indem ihnen weibliche Tugend und Frömmigkeit als gutes Beispiel entgegengestellt wurde. Dieser Gedanke zieht sich in den Schriften christlicher Theologinnen vom Mittelalter durch bis in die Neuzeit. Am Ende des 19. Jahrhunderts schrieb die Karmeliterin Therese von Lisieux:
«Mein Herz wandte sich schon bald dem Seelenführer vor allen anderen zu. Und er war es, der mich in diese Wissenschaft einwies, die den Klugen und Weisen verborgen bleibt, und die er den Kleinsten in seiner Güte offenbart.«
Die männliche Amtskirche hat dies verständlicherweise kaum gewürdigt, ja, es scheint, als habe sie das Anliegen der Frauen gar nicht verstanden. So wurden manche von ihnen als Ketzerinnen verurteilt, andere dagegen heilig gesprochen, selbst wenn ihre Auffassungen an wesentlichen Punkten ähnlich waren. Und manchmal hat es den Anschein, daß auch die Frauen diese Tradition lieber verleugnen. »Gute Mädchen kommen in den Himmel, böse überall hin« – so hieß das Buch, das bis vor kurzem über zwei Jahre lang auf Platz eins der deutschen Bestsellerliste stand. Die wichtigsten christlichen Theologinnen der vergangenen Jahrhunderte jedoch wollten gar nicht überall hin, sie wollen in den Himmel. Und genau dafür schien es ihnen von Vorteil, eine Frau zu sein. Denn wie hat es Christine de Pizan vor fast sechshundert Jahren formuliert: Die Werke der Frauen sind Leitern, die in den Himmel führen.
Diese Sendung lief im Hörfunk, (hr2) am 25.11.1998