Antje Schrupp im Netz

Wer sucht, der findet?

Wer sucht, der findet? Von wegen. Bei mir jedenfalls funktioniert das nicht. Eher stimmt das Gegenteil: Wenn ich etwas erst einmal suchen muss, dann finde ich es garantiert nicht. Wie neulich den Reisepass. Wochenlang war er auf meinem Schreibtisch hin- und hergewandert, ständig kam er mir zwischen die Finger, wenn ich – auf der Suche nach irgend etwas anderem – in meinen Papieren wühlte. Ich weiß es genau. Und dann wollte ich meiner Freundin das kuriose Visum aus Ghana zeigen, das sich darin befindet – aber der Reisepass war wie vom Erdboden verschluckt. Genauso ist es, wenn ich mir in den Kopf gesetzt habe, eine bestimmte Bluse zu kaufen: Dunkelgrün soll sie sein, weil ich mir vorstelle, dass das gut zum neuen Anzug passt, und nicht zu eng, und aus einem angenehmen Material. Alles in allem nichts extravagantes, eine ganz normale Bluse eben. Bis gestern hingen die Schaufenster auch voll davon – aber jetzt, wo ich mir eine kaufen will, sind plötzlich alle Blusen rot oder gelb.

Natürlich hat meine Mutter recht, wenn sie sagt, ich bin selbst schuld. Ich könnte ja meinen Reisepass besser aufräumen, zum Beispiel immer in eine bestimmte Schublade tun, und dann würde ich ihn auch finden, wenn ich ihn suche. Ein Einwand gegen meine Beobachtung ist das aber nicht: Denn wenn ich genau weiß, wo etwas ist, dann muss ich es ja nicht suchen. Ich nehme es mir einfach. Und das Problem besteht ja in der Regel darin, Dinge zu finden, von denen ich nicht weiß, wo sie sind.

Deshalb behaupte ich: Suchen und Finden, das gehört nicht zusammen, sondern es schließt sich geradezu gegenseitig aus. Und ich weiß auch, warum: Je genauer nämlich meine Vorstellung von dem ist, was ich suche, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich ausgerechnet das finde.

Kaum Chancen hat doch wohl der bedauernswerte Herr, der per Kontaktanzeige eine kluge, finanziell unabhängige und attraktive Frau sucht, zwischen 24 und 30, mindestens 1,67 groß und höchstens 55 Kilo schwer, mit Heiratswunsch und Verständnis für seine häufigen Geschäftsreisen. Selbst wenn es diese Superfrau gibt, wird sie vermutlich einen etwas weniger engstirnigen Mann haben wollen. Ganz anders dagegen die Finder: Für sie ist die Welt voller Möglichkeiten. In einem schrottigen etwas, das nach dem Umzug der Nachbarn auf dem Müll gelandet ist, erkennen sie das Gestell für einen schicken Designertisch. Er hat zwar keine Platte, aber, da sind sie sicher, die findet sich auch noch.

Nun aber zu glauben, die Finder würden sich bescheiden mit dem Vorhandenen begnügen, während die Sucher hohe und ehrgeizige Ziele hätten, das wäre grundfalsch. Denn wer etwas sucht, bildet sich ein, genau zu wissen, was er braucht. Und wird deshalb, anders als der Finder, leicht übersehen, was er schon hat, und welche Gelegenheiten sich rings herum noch so bieten. Er wird niemals etwas bekommen, das seine Vorstellungskraft übersteigt, weil er es nicht sieht, selbst wenn es direkt vor seiner Nase herumspaziert. So wie der Mann aus der Kontaktanzeige, der kleine, dicke Frauen gar nicht erst in Erwägung zieht, und wäre auch die Liebe seines Lebens darunter.

Übrigens: Die rote Bluse, die ich neulich kaufte, weil ich es irgendwann aufgab, nach einer grünen zu suchen, die passt überhaupt nicht zu dem neuen Anzug. Es ist halt leider so, dass es für das Finden keine Garantie gibt, auch wenn man nicht sucht. Doch damit müssen wir uns wohl abfinden.


gesendet im Hessischen Rundfunk, hr1, 1.4.2002