Revoluzzer oder Reformer? Die Politik des Philipp Jakob Spener
Revoluzzer oder Reformer? Diese Frage stellte sich mir, als ich mich vor etwa zehn Jahren zum ersten Mal mit Philipp Jakob Spener beschäftigte. Damals stellte Adolf Holl die Themen für seinen Sammelband über »Die Ketzer« zusammen und fragte, ob ich nicht einen Beitrag über Spener beisteuern wollte. Ich war irritiert: Spener, ein Ketzer? Der Mann, der höchste Ämter in der lutherischen Kirche inne hatte, der Begründer des Pietismus – ein Revoluzzer?
Inzwischen ist mir klarer als damals, dass die Gegenüberstellung von Revolution und Reform ein falscher Dualismus ist. In der Politik hat sich ja schon oft sehr eindrücklich bewiesen, dass Revolutionen meist nichts ändern, sondern alles beim Alten lassen, wenn auch unter neuem Namen. Und dass tiefgreifende, wirklich weltbewegende Veränderungen häufig ganz und gar nicht revolutionär daher kommen, sondern oft sogar lange unbemerkt bleiben.
Sie merken schon, ich bin keine Theologin, ich bin auch keine Historikerin, sondern Politikwissenschaftlerin. Und davon ist natürlich auch mein Blick auf Philipp Jakob Spener geprägt. Spener gilt ja im Wesentlichen als »Erfinder« einer ganz bestimmten Art der Frömmigkeit, und zwar der inwendigen Frömmigkeit. Religion hat für ihn nichts mit dem Befolgen äußerlicher Regeln zu tun, sondern ist eine Frage der inneren Haltung. Ich frage mich oft, ob wir heute nicht auch in der Politik mehr Frömmigkeit dieser Art brauchen. Mehr ehrliche, innerliche Überzeugung statt Strategiespielchen und Medienauftritte.
Die Trennung zwischen Religion und Politik, zwischen Glaubens- und politischer Überzeugung ist ja ohnehin eine spätere, zu Speners Zeit fiel beides in eins. Die Frage nach der Religion war immer auch eine Frage nach der politischen Haltung, Religion war nicht, wie heute, Privatsache.
Manchmal ist allerdings gesagt worden, Spener habe die Theologie und die Religion entpolitisiert, weil er die Christen und insbesondere auch die Pfarrer aufgefordert hat, das Christentum nicht nach außen hin als gesellschaftlichen, weltlichen Machtfaktor zu vertreten, sondern den eigenen, persönlichen Glauben zu betonen und der Frömmigkeit im Alltag mehr Raum zu geben. Und in der Tat haben auch Teile des pietistischen Flügels später, vielleicht sogar bis heute, dies als Aufruf verstanden, sich aus der Tagespolitik fernzuhalten – ich erinnere mich noch gut an die entsprechenden, hitzigen Diskussionen zwischen »pietistischen« und »politischen« Christen in den siebziger und achtziger Jahren.
In dieser Perspektive wird Politik gewissermaßen als äußerliches »Geschäft« verstanden, als eine Angelegenheit von Interessensgruppen – Parteien – die instrumentell ihre jeweiligen Anliegen vertreten. Also etwas ganz und gar »Weltliches«, fast schon etwas Schmutziges, dem gegenüber es gilt, einen »reinen«, innerlichen, spirituellen Raum zu schützen.
Ich verstehe Politik jedoch als eine Haltung, der Welt gegenüber zu treten, mit den anderen Menschen, die ich darin vorfinde, über meine Überzeugungen, meine Wünsche, meine Ideen – kurz: über meinen Glauben – zu verhandeln in dem Bemühen, eine gemeinsame Lösung im Hinblick auf den Nutzen für alle zu finden.
So gesehen sind Politik und Religion, mein Auftreten der Welt und ihren Institutionen gegenüber auf der einen Seite und meine innere Überzeugung, meine Spiritualität, mein Verhältnis zu Gott, also das, was mich innerlich bewegt und antreibt auf der anderen Seite nicht voneinander zu trennen. In der Lektüre von Speners Texten und in der Beschäftigung mit seinem Leben habe ich dazu viele Anknüpfungspunkte gefunden. Anders gesagt: Vieles daran erinnerte mich weniger an die heutige Lage der Kirche, als vielmehr an die Lage der Politik und der politischen Institutionen.
Werfen wir aber zunächst einmal einen Blick auf den politischen Kontext jener Zeit: Als Agathe Spener im Januar 1635 im elsässischen Rappoltsweiler ihren ersten Sohn Philipp Jakob zur Welt brachte, herrschte Krieg in Europa. Wenige Monate zuvor hatten die (katholischen) Truppen des Habsburger Kaisers Ferdinand in Süddeutschland einen Sieg über die (protestantischen) Truppen des schwedischen Königs Gustav Adolf errungen, besetzten Städte und Dörfer, plünderten die Bevölkerung aus, vergewaltigten Frauen und töteten alle, die sich ihnen widersetzten. Wer konnte, floh über den Rhein, in die sicheren Mauern des damals noch lutherischen Straßburg. Sonntags versammelten sich die Flüchtlinge im Münster und lauschten den Worten des obersten Straßburger Geistlichen Johann Schmidt: Das Grauen des Krieges, der in Europa tobte, so predigte er, sei das Gericht Gottes für die Sünden der Christen.
Dreizehn Jahre lang sollte der Krieg, den man später den Dreißigjährigen nannte, nach der Geburt des kleinen Spener noch dauern. Ein Krieg, der von den beteiligten Heeren im Namen des Glaubens geführt wurde, was natürlich keineswegs ausschließt, dass vor allem wirtschaftliche und machtpolitische Interessen dahinter gestanden haben. Wie gesagt: Kirche und Politik waren in jenen Tagen nicht zu trennen.
Diese Katastrophe warf nicht nur Europa in wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht um Jahrzehnte zurück, sie veränderte auch das politische und religiöse Gefüge des Kontinents entscheidend. Der dreißigjährige Krieg teilte die konfessionellen Territorien auf. Es war nun weitgehend klar, wo man katholisch, wo lutherisch, wo reformiert zu sein hatte; nach dem Westfälischen Frieden änderte sich daran nur noch wenig.
In politischer Hinsicht begann nun der Aufstieg des Absolutismus. Die Nationalstaaten konstituierten sich unter absolutistischen Herrschern, die ohne Kontrolle anderer gesellschaftlicher Kräfte regieren sollten. In der politischen Theorie hielt man dies damals für überaus vernünftig: Nur durch die unumschränkte Souveränität des Herrschers, so lautet etwa die Hauptthese von Thomas Hobbes, dem wichtigsten Theoretiker des Absolutismus, lasse sich der von der Natur vorgegebene »Krieg aller gegen alle« eindämmen – und natürlich hatte er dabei die Schrecken des konfessionellen Bürgerkrieges vor Augen. In Zeiten, wo von Demokratie und Mitbestimmung des Volkes noch niemand sprach, bedeutete ein solches Plädoyer für die uneingeschränkte Souveränität des Herrschers vor allem die Ablehnung jedes kirchlichen, religiös motivierten Einflusses auf die Politik. Wobei die Kirchen als eine Art Parteien gesehen wurden, die durch ihre konfessionellen Streitereien untereinander die politische Stabilität und Sicherheit gefährdeten.
Hobbes hat nicht etwa die Trennung von Staat und Kirche vorgeschlagen, in jenem aufgeklärten Sinne späterer Jahrhunderte. Sein Vorschlag, auf heute übertragen, würde vielleicht so lauten: Die verschiedenen Parteien mit ihrem kleinlichen Gezänk machen das Regieren unmöglich. Deshalb brauchen wir einen starken Regierungschef, der auch in der Lage ist, unpopuläre Entscheidungen umzusetzen.
Diese Entwicklung hin zum Absolutismus hatte natürlich erhebliche Auswirkungen auf das Personal der damaligen politischen Parteien, der Konfessionskirchen also: Hofprediger wurden durch Hofjuristen ersetzt, als moralisch-ethische Berater hatten die Theologen, die man als Kriegstreiber von einst ansah, abgedankt.
Gleichzeitig hatte die jahrzehntelange Unsicherheit in der Bevölkerung geradezu apokalyptische Stimmungen wachgerufen: Mystischer Spiritualismus und Endzeitfantasien bestimmten die Gefühle vieler Menschen. Erweckungsprediger und Wunderheiler, die endzeitliche Visionen und Prophezeiungen verbreiteten, hatten einen enormen Zulauf – vielleicht fühlen sich auch hier einige an das heute erinnert. In unsicheren Zeiten suchen die Menschen immer ihren Sinn außerhalb der etablierten Strukturen, und zwar in allen möglichen Weltanschauungen, religiösen ebenso wie politischen. Spener wusste, dass unter solchem Wildwuchs an Ideen viel Müll dabei ist, dass sich darin aber immer auch Perlen verbergen, die es wert sind, aufgespürt zu werden, weil sie zum Ausgangspunkt für echte, notwendige Reformen werden können.
Wenn man Speners Theologie als Antwort auf diese zeitgeschichtliche Herausforderung versteht, stellen sich folgende Fragen: Welche gesellschaftliche Bedeutung kann das lutherische Christentum haben in einer Zeit, wo viele Menschen das Vertrauen in die offiziellen Glaubensdogmen verloren haben? Wie kann man die Kirche so erneuern, dass sie die Krise ihres Bedeutungsverlustes übersteht und gleichzeitig den Bedürfnissen der Menschen in einer Weise gerecht wird, die sie daran hindert, sich kirchenfernen Sekten und esoterischen Gruppen anzuschließen? Was kann es bedeuten, »lutherisches« Profil zu zeigen, wenn doch die Verwüstungen der Konfessionskriege noch überall spürbar sind?
Der außerordentliche Erfolg von Speners Reformprogramm ist wohl auch damit zu erklären, dass es ihm gelungen ist, auf diese Fragen plausible Antworten zu geben. Anders als die Mehrheit der lutherischen Orthodoxie, die ihren eigenen Machtverlust lange nicht wahrhaben wollte, hat er schnell auf die neuen Gegebenheiten reagiert: Nicht mehr in der Anerkennung der Fürsten und Machthaber wollte er die Kirche verankert sehen, sondern in der Frömmigkeit des Volkes, im persönlichen Glauben der Einzelnen – daher die Einbeziehung der Laien in die theologischen Diskussionen, daher seine Betonung der Diakonie. Und im Hinblick auf den schwärmerischen Mystizismus vieler Splittergruppen und Endzeit-Gurus versuchte er, deren berechtigte Anliegen und ihren Enthusiasmus in die verfasste Kirche zu integrieren und für eine Erneuerung des Luthertums fruchtbar zu machen, ohne dabei selbst zum Schwärmer oder zum Kirchenspalter zu werden.
Beide Schwerpunkte – das wohlwollend-kritische Interesse für die religiösen Erweckungsbewegungen seiner Zeit und die Auseinandersetzung mit dem Absolutismus – sind bereits in Speners Jugend- und Studienzeit vorgezeichnet: Die Schriften der deutschen und englischen »Erbauungsliteratur« waren in Straßburg durch den bereits erwähnten, langjährigen Kirchenpräsidenten Johann Schmidt eingeführt worden, der Spener tief beeinflusst hat. Und sein Philosophieprofessor an der Straßburger Universität, Jacob Schaller, hat den jungen Studenten dazu angeregt, seine Magister-Dissertation über den englischen Philosophen Thomas Hobbes zu schreiben, der damals auf dem Festland noch ganz unbekannt war.
Die für Spener typische Mischung aus Gelehrsamkeit und Pragmatismus, seine Ablehnung jeder scholastischen Spitzfindigkeit und sein lebenslanges Bemühen, theoretische Erkenntnis und Alltagsleben wechselseitig aufeinander zu beziehen, dürften aber schon in seiner Kindheit Wurzeln geschlagen haben, und zwar durch den Einfluss seiner Patin Agatha von Rappoltstein, die zweite Frau des Landherren, bei dem Speners Vater als Archivar beschäftigt war. In ihrem letzten Lebensjahrzehnt – sie starb 1648 – hatte die inzwischen verwitwete Gräfin, wie Spener in seinem Lebenslauf später schreibt, »den guten Funcken, den sie in mir wahrnahm, auffblasen zuhelffen gesucht« . Die Patin hielt den Jungen zum Studium an, überwachte seine Lernfortschritte und schrieb ihn, noch kurz vor ihrem Tod, an der Straßburger Universität ein (wobei sie vermutlich auch für die Studiengebühren aufkam). Dabei war Gelehrsamkeit für Agatha von Rappoltstein immer gepaart mit tatkräftigem, resoluten Lebensalltag, zum Beispiel war sie wegen ihrer heilkundlichen Kenntnisse und handwerklichen Fähigkeiten berühmt, und auch durch ihre Fürsorge für die Armen und die Sorge um die Erziehung der Kinder in ihrem Lehen gab sie dem jungen Spener schon früh ein Beispiel für soziales Engagement. Ihr Tod im Jahr 1648 war für den damals Vierzehnjährigen die erste große Lebenskrise.
In die abstrakt-theoretischen Dispute seiner Kommilitonen an der Universität konnte sich Spener als Student nie so recht einfühlen. Die damals in der Wissenschaft sehr populäre Rückbeziehung auf Aristoteles, die im 17. Jahrhundert das ethische und politische Denken vor allem an den protestantischen Hochschulen dominierte, war ihm von Anfang an wegen ihrer Abstraktheit ein Gräuel. Er durchschaute die dahinter stehende Absicht der lutherischen Orthodoxie, die sich als Spezialisten für eine »wissenschaftliche« Theorie des Staates etablieren wollten, um auf diese Weise trotz Absolutismus einen Fuß in der Tür der Fürstenhöfe zu behalten. Anders gesagt: Die Universitätstheologen versuchten, sich – dem Zeitgeist entsprechend – nicht mehr als Glaubensmahner, sondern als »Staatsspezialisten«, als Experten für politische Theorie (und also als brauchbare Berater am Hofe) zu profilieren. Doch für Spener war Politik niemals das Ausarbeiten von Tabellen, Regeln und Schemata für den guten Staat an sich, sondern immer das konkrete gute Verhalten in einer bestimmten Situation. Politik fand für ihn nicht bei Hofe (heute würde man sagen: im Parlament) statt, schon gar nicht, wenn man dort nur um den Preis der Selbstverleugnung Gehör finden konnte, sondern im Alltagsleben.
Dass es zum Wesen des aufkommenden Absolutismus gehörte, den kirchlichen Einfluss auf die Politik zurückzudrängen, und dass diese Entwicklung nicht durch staatsdienerische Anpassung oder ausgefeiltere scholastische Argumente aufzuhalten war, dürfte Spener durch seine Auseinandersetzung mit den politischen Ideen von Thomas Hobbes klargeworden sein. Hobbes’ 1651 erschienenes Hauptwerk »Der Leviathan« lag 1653, als Spener sich in seiner Magister-Dissertation mit dessen Theorien beschäftigte, auf dem Kontinent zwar noch nicht vor, wohl aber einige andere Schriften, in denen diese Ideen bereits vorgezeichnet sind. In seiner Arbeit setzt Spener Hobbes’ pessimistischer Sicht von der Natur des Menschen als Wesen, das sich im dauernden Kriegszustand mit seinen Mitmenschen befindet, den mäßigenden Einfluss der Gottesidee entgegen. Im naturgegebenen »Urzustand«, so könnte man Speners Position zusammenfassen, sei der Mensch nicht schlecht, wie Hobbes meinte, sondern gut, weil er vom Geist Gottes erfüllt ist. Diese Gottesidee, so Spener, müssten die Menschen nicht aus ihren Erfahrungen herleiten (was ja so kurz nach dem Desaster des dreißigjährigen Krieges auch kaum plausibel gewesen wäre), sondern sie sei ihnen gewissermaßen angeboren.
Dieser Einwand mutet – auch im Vergleich mit der bald darauf einsetzenden, sehr viel differenzierteren Hobbes-Rezeption anderer deutscher Denker – ein bisschen naiv an. Auf theoretischer Ebene hat der junge Spener nicht erkannt, welche Herausforderung Hobbes für das politische Denken darstellte, und Jahre später, in seiner Frankfurter Zeit, schrieb er in der Tat auch selbst, dass er Hobbes’ Ansatz während seines Studiums wohl nicht einmal richtig verstanden habe. Dennoch finde ich hier einen aktuellen Anknüpfungspunkt: Auch heute geht man in politischer Hinsicht ja meist von der Auffassung aus, der Mensch sei von Natur aus ein egoistisches Einzelwesen und Politik bedeute, diesen Egoismus im Zaum zu halten. Müssten die Religionen, die von einer Gottesbeziehung der Menschen, von der Möglichkeit spiritueller Erfahrungen ausgehen, hier nicht für ein anderes Menschenbild plädieren? Sie tun es meiner Meinung nach viel zu selten, vermutlich aus Angst, für naiv gehalten zu werden. Eine Angst, die Spener sicherlich nicht hatte.
Jedenfalls führte seine Auseinandersetzung mit Hobbes Spener zu der Auffassung, dass die drängendste Aufgabe der Zeit für das Luthertum nicht länger die Kontroverse mit dem Katholizismus oder dem Calvinismus sei, sondern die Auseinandersetzung mit dem Atheismus. Heute könnte man vielleicht sagen, die drängendste Aufgabe der Kirche sei nicht die Auseinandersetzung mit dem Islam oder mit der Esoterik, sondern mit denen, die jede spirituelle Dimension, jede transzendente Bindung des Menschen leugnen und die Weltgestaltung ganz den Prinzipien der instrumentellen Vernunft und des Zweckrationalismus unterwerfen wollen.
Das bedeutet aber nicht, dass die konfessionellen Unterschiede unwichtig wären. Spener war zeitlebens ein treuer Lutheraner. Aber seine Wertschätzung der persönlichen Frömmigkeit, der Glaubenserfahrung, seine Abneigung gegen eine nur oberflächliche Identifikation mit der eigenen Konfession haben dazu beigetragen, dass die Bedeutung der formalen Religionszugehörigkeit zugunsten des individuellen, inhaltlich gefüllten Glaubenszeugnisses abnahm. Lieber ein frommer Mensch der falschen Konfession, der falschen Religion, als ein ungläubiger Mensch mit dem richtigen Bekenntnis. Wo Fragen der persönlichen Glaubenshaltung und Lebensführung wichtig sind, da verlieren Streitigkeiten über Kirchenrecht, Verfassung, Liturgie, Institution und Dogma an Bedeutung, das war damals nicht anders als heute. Aber das heißt nicht, dass Spener diese formalen Bekenntnisse für gleichgültig hält. Im Gegenteil. An seiner Kirchenpolitik, die Spener als Senior des evangelisch-lutherischen Predigerministeriums in Frankfurt zwanzig Jahre lang betrieb, lässt sich gut aufzeigen, in welches Verhältnis er innerliche Frömmigkeit und äußere Gesetzlichkeit zu stellen wünschte.
Theologische Fragen waren zu jener Zeit immer vor allem interkonfessionelle Fragen, ebenso wie heutzutage politische Fragen vor allem Streitigkeiten zwischen politischen Parteien sind. Und damals wie heute gesellte sich zu den offiziell etablierten Parteien – damals lutherische, reformierte und katholische Kirche, heute vielleicht Christentum und Islam, aber auch SPD und CDU – eine Menge von Gruppierungen, die außerhalb dieses Systems und ihm kritisch gegenüber standen.
Speners Strategie in dieser Situation könnte man vielleicht als »Verstehen und Sich-Einverleiben« umschreiben. Anders als andere orthodoxe Lutheraner war er Realist genug, um zu sehen, dass eine im Volk so weit verbreitete Bewegung wie der schwärmerische Mystizismus jener Zeit, der Glaube an Wunder, an eine nahende Endzeit, an Wiedergeburt und Erleuchtung, nicht einfach mit einem theoretischen Disput beiseite gewischt werden kann. Speners Bezug auf die Volksfrömmigkeit (heute vielleicht: das Weltverständnis eines Bildzeitungslesers) ist typisch für seine Theologie. Die Sinnsuchenden waren ihm sympathisch, er hielt ihr Anliegen für wichtig, und hatte Verständnis dafür, wenn dabei zuweilen die Grenzen der institutionalisierten Konfessionen gesprengt wurden. Seine Aufgabe sah er darin, beide Seiten in einen Dialog zu bringen, dazu, sich gegenseitig zu befruchten, anstatt gegeneinander Krieg zu führen.
In das Straßburger Luthertum war der gemäßigte Teil solcher Ideen und Bewegungen durch Johann Schmidt bereits bis zu einem gewissen Grade eingedrungen. Spener legte in seinem Studium einen besonderen Wert auf Sprachen und Geschichte, um so einen besseren Zugang auch zu nicht-lutherischen christlichen Ansätzen zu haben. Er wollte sie verstehen und jenseits von dogmatischen Spitzfindigkeiten auf ihre Brauchbarkeit für den Alltag einschätzen können.
So könnte man sagen, dass Speners Studium eine grenzübergreifende Suche war: Noch während seiner Studienzeit schrieb er eine Arbeit über die Waldenser (in der er, sehr zum Ärger der Reformierten, denen sich die Waldenser inzwischen angeschlossen hatten, nachzuweisen versucht, dass die ursprünglichen Waldenser-Lehren mit denen des Luthertums übereinstimmen) und besuchte später den berühmten Waldenserprediger Anton Léger. Er studierte in Basel bei dem Bibelgelehrten Johann Buxdorf rabbinisches Schrifttum und arabische Philosophie, begeisterte sich in Genf für die Predigten des aus dem Katholizismus konvertierten Predigers Jean de Labadie, lernte in Lyon bei dem Jesuiten Claude-Francois Menestrier die neue Wissenschaft der Wappenkunde kennen, vertiefte sich schließlich in Tübingen in die kabbalistischen Studien der für ihre Gelehrsamkeit allgemein bewunderten Prinzessin Antonia von Württemberg (wenn er auch zugab, sie nicht wirklich zu verstehen) und schrieb schließlich, zurück in Straßburg, eine Arbeit über den Islam.
Bei all dem verleugnete Spener jedoch niemals sein Luthertum. Seine besondere Art des interreligiösen Dialogs (wie man heute sagen würde), aber auch: des Dialogs über politische und gesellschaftliche Schranken hinweg, bestand nicht in argumentativen Disputen über die rechten Glaubensgrundsätze auf dieser oder jener Seite, sondern in dem Bemühen, das Wesen der anderen Weltanschauungen von Grund auf und mit persönlichem Engagement kennen zu lernen, um darin ihre berechtigten Anliegen zu erkennen. Vielleicht spielte dabei auch Speners konfliktscheuer Charakter eine Rolle. Nicht nur seine Theologie, auch sein Lebenslauf ist ja geprägt von dem außerordentlichen Geschick, Kontroversen aus dem Weg zu gehen. Diese Grundhaltung hatte gewiss großen Anteil an seiner atemberaubenden Karriere, durch die er sich letztlich eher treiben ließ, als dass er sie geplant betrieben hätte. Es kam ihm in der Auseinandersetzung nie darauf an, zu polarisiseren oder brisante Thesen durchzusetzen, sondern er war immer auf Integration, auf Ausgleich, auf Harmonisierung bedacht.
1666 wurde Spener als Senior an das lutherische Predigerministerium in Frankfurt am Main berufen – ein äußerst ehrenvolles Angebot für den erst 31jährigen Theologen. Die Frankfurter Pfarrer hatten sich zunächst gegen das Vorhaben des lutherischen Rates der Stadt gewehrt, einen promovierten Theologen von außerhalb auf diese Stelle zu berufen. Insbesondere hatten sie davor gewarnt, dass dadurch dem »Synkretismus« Tür und Tor geöffnet werden könnte. Andererseits hatte Spener aber auch wichtige Fürsprecher in Frankfurt – insbesondere den einflussreichen Patrizier Johann Vincenz Baur von Eysseneck, mit dem er sich bereits in Genf angefreundet hatte und der zu einer Gruppe von engagierten Menschen gehörte, die das geschäftsmäßig-oberflächliche Luthertum der Messestadt nicht mehr befriedigte.
Aus dem nahezu rein lutherischen Straßburg kam Philipp Jakob Spener also, inzwischen Ehemann und Familienvater (er hatte kurz zuvor die Straßburger Patriziertochter Susanne Ehrhardt geheiratet) in das schon damals »multikulturelle« Frankfurt. Die Stadt war zwar lutherisch regiert und auch die Mehrheit der damals Einwohnerinnen und Einwohner waren lutherischen Bekenntnisses, es gab aber eine starke katholische Minderheit mit gewissen Rechten (unter anderem auch dem, Gottesdienst abzuhalten), zahlreiche Reformierte, die zwar nicht in Frankfurt selbst, aber im benachbarten Bockenheim Gottesdienste hielten, und schließlich einige hundert jüdische Familien, die im Ghetto an der Judengasse, gleich hinter der Stadtmauer, lebten.
Hier war nun Speners Überzeugung, die innerkonfessionellen Streitigkeiten müssten überwunden werden, um dem schwindenden politischen Einfluss des christlichen Glaubens allgemein zu begegnen, einer echten Bewährungsprobe ausgesetzt. Er fand sich im Spannungsfeld wieder zwischen einem lutherischen Stadtrat, dem es weniger um den authentischen Glauben als um den möglichst reibungslosen Fortgang der (vor allem geschäftlichen) Dinge ging, einem skeptischen Pfarrerkollegium, das den Neuling ohnehin des Synkretismus verdächtigte, den um Einfluss ringenden anderen Konfessionen und Religionen, und einer starken Gruppe religiös bewegter, einflussreicher Männer und Frauen, die Spener zu ihrem Schützling machten, aber auch von ihm erwarteten, dass er ihre Anliegen vorantreiben würde.
Es wurde bald klar, dass sich Speners Bemühen, die konfessionelle Zugehörigkeit an das persönliche Bekenntnis zu binden, also letztlich in die Innerlichkeit zu verlegen, keineswegs auf bloße Überzeugungsarbeit und beispielhaftes Handeln beschränkte, sondern sich gerade auch in praktisch-politischen Forderungen äußerte. Schon bald griff Spener nämlich ein Thema auf, das im Luthertum selbst damals kontrovers diskutiert wurde (und das ja heute wieder brandaktuell ist): die Sonntagsruhe. Waren die einen – mit Luther selbst übrigens – der Ansicht, den Sonntag zu heiligen sei eine Anforderung an die Einzelnen und falle in den Bereich der evangelischen Freiheit, so wollten andere die Sonntagsruhe durch Gesetze und Verordnungen sicherstellen. Dass Spener zu letzteren gehörte, ist auf den ersten Blick verwunderlich, wenn man ihn ihm den großen Verinnerlicher von Frömmigkeit sieht. Auf den zweiten Blick aber lässt sich an diesem Thema gerade das Besondere seiner Position deutlich machen – die nämlich keineswegs darin bestand, andere Konfessionen und Religionen einfach zu tolerieren, sondern eher mit der Absicht auftrat, möglichst alle zu guten Lutheranern zu machen. Wer den eigenen Glauben nicht nur auf dem Papier, sondern im Alltagsleben wichtig nimmt, so Speners Argumentation, der kann auch in politischer Hinsicht keine Gelegenheit auslassen, diesen Glauben in Gesetzen und Verordnungen zum Ausdruck zu bringen, wenn er die Mehrheit im Magistrat schon einmal hat.
Spener war der Ansicht, man könne durch Gesetze die Bereitschaft der Menschen, sich religiös zu bilden und einen persönlichen Glauben zu entwickeln, anregen. Heute wäre er definitiv ein Befürworter von Zwangs-Deutschkursen für Migranten, vermutlich würde er sie sogar noch zu Unterricht in Staatsbürgerkunde, Verfassungsprinzipien und ähnlichem verpflichten. Zu seiner Zeit trat er dafür ein, der jüdischen Bevölkerung den Besuch lutherischer Gottesdienste vorzuschreiben – was aber die in dieser Hinsicht liberalen Frankfurter Stadtgesetze nicht zuließen. Bei diesem Bemühen sieht sich Spener übrigens in direktem Gegensatz zu antisemitischen Traditionen im Luthertum. Öffentlich kritisiert er, dass vor seiner Ankunft die lutherischen Prediger nicht deutlich genug Stellung bezogen hätten, wenn in Frankfurt Juden verspottet oder belästigt wurden. Für christlich motivierten Judenhass hatte er überhaupt kein Verständnis. Er wollte aber die Juden missionieren – und der erste Schritt dazu war eben, selbst als Lutherische glaubwürdig und fromm zu leben. Dazu gehört auch, dass man versucht, die anderen, wo es nur geht, zu überzeugen – was Speners Meinung nach aber nur möglich ist, wenn man sie zunächst zwingt, einem wenigstens zuzuhören.
Wenn auch Spener, weil er das Wesen des Absolutismus früher als andere Kirchenführer verstanden hat, der Meinung war, das Paktieren und Buhlen um die Gunst der Fürsten sei nicht der richtige Weg, um der Kirche wieder zu mehr Einfluss zu verhelfen, so war er doch (oder vielleicht auch eben drum) der Ansicht, die Kirche müsse von einem Fürsten, der sich lutherisch nennt, auch verlangen, dass er sich entsprechend verhält. Anders gesagt: Gerade weil Spener wahrhafte Frömmigkeit nicht davon abhängig machte, ob man zur »richtigen« Konfession oder Partei gehört, sondern davon, ob man im persönlichen Alltag auch wirklich im Sinne der religiösen Überzeugungen lebt, bedeutete lutherisch zu sein für ihn, dem Luthertum überall da zum Durchbruch zu verhelfen, wo es in der eigenen Macht steht. So absurd es auch klingen mag: Gerade indem er sich für die gesetzliche Verankerung lutherischer Lebensweise einsetzte, griff Spener die Allianz zwischen Kirche und Obrigkeit, so wie sie damals üblich war, an. Denn er sagt nichts anderes, als dass ein Fürst, der sich zwar lutherisch nennt, sich aber selbst in seinem persönlichen und politischen Leben nicht entsprechend verhält, kein guter Christ – und auch kein guter Fürst ist. Und er greift die Theologen an, die solches Verhalten durch intellektuelle Spitzfindigkeiten auch noch legitimieren, weil es ihnen nur noch um den Einfluss der Kirche als solchen (und um ihre gutbezahlten Posten) geht, und nicht mehr um die Sache des Glaubens.
Dass er mit seiner Haltung auch tatsächlich in erster Linie nicht die Reformierten oder die Juden im Blick hatte, sondern vor allem die Lutherischen selbst, darüber konnte es spätestens seit jener berühmt gewordenen Predigt von 1669 keinen Zweifel mehr geben, in der Spener wortgewaltig das äußerliche Gewohnheitschristentum der Frankfurter Kirchgänger angriff und es mit der falschen Gerechtigkeit der Pharisäer gleichsetzte. Sie dürften ihr Vertrauen nicht länger auf ein äußerliches Bekenntnis zur rechten orthodoxen Lehre setzen, also auf den Kirchgang, die Taufe, die Teilnahme am Abendmahl, sondern es komme darauf an, im Herzen einen wahren und lebendigen Glauben zu haben. Die Predigt war, gelinde gesagt, ein Skandal und rief in der Tat sehr kontroverse Reaktionen im Publikum hervor. Doch offensichtlich war die Fraktion derer in Frankfurt, die schon länger auf eine Erneuerung der laschen und oberflächlichen Glaubenshaltung des Rates gedrängt hatten, stark genug, dass Spener sich diesen Generalangriff erlauben konnte.
Führend in dieser Gruppe waren vor allem der Magistratsjurist Johann Jakob Schütz, der bereits erwähnte Johann Vinzenz Baur von Eysseneck, dessen Frau Juliana, der Theologiestudent Johannes Anton Tieffenbach, Maria Juliana von Hynsberg und einige andere. Diese zum Teil sehr einflussreichen Leute aus dem Frankfurter Patriziertum stärkten Spener bei seiner Kritik am Magistrat den Rücken. Allerdings forderten sie von ihm auch, dass er noch deutlicher für ihre Anliegen Stellung beziehen sollte – und dazu war er bis zu einem gewissen Grad durchaus bereit: Auch wenn er selbst viel zu nüchtern war, um ihre schwärmerischen Ideen zu teilen, und wenn er ihnen auch in ihrer radikalen Kirchenkritik nicht folgte, so sah er doch die Berechtigung und Ernsthaftigkeit dieser Anliegen.
Ab Mitte der siebziger Jahre wurde die Gruppe jedoch immer radikaler. Viel dazu beigetragen hat der Briefkontakt zwischen Schütz und Anna Maria van Schurmann, einer überzeugten Anhängerin des populistischen Predigers Jean de Labadie, der nach seinem Ausschluss aus der reformierten Kirche in Amsterdam eine separatistische Hausgemeinde gegründet hatte. Der Einfluss Schurmanns war wohl maßgeblich dafür, dass Speners Förderer sich innerlich zunehmend von der etablierten Kirche lösten, die sie für nicht mehr reformierbar hielten, und dass sie stattdessen eine neue Kirche für die wirklich reinen und frommen Männer und Frauen gründen wollten. So eine Art APO also, eine außerhalb der Institutionen agierende Opposition.
Neben der Schurmann spielte dabei auch Eleonore von Merlau eine wichtige Rolle, die 1675 nach Frankfurt kam und bei der inzwischen verwitweten Juliana Baur von Eysseneck im Saalhof einzog. Ihre Visionen und Prophezeiungen einer zukünftigen Heiden- und Judenmission weckten Endzeiterwartungen, von denen sich zwar auch Spener selbst zeitweise beeinflussen ließ, die aber mit der offiziellen Kirchenlehre nur noch schwer vereinbar war.
Insbesondere strebten die Frankfurter »Saalhof-Pietistinnen und Pietisten« nun dezidiert die Gründung kleiner, exklusiver Hauskreise an, zu denen nur zugelassen werden sollte, wer wirklich fromm und gläubig sei. Dieses Konzept hatten sie schon 1670 mit der Gründung der berühmten Collegia Pietatis durchsetzen wollten, damals aber hatte Spener sich noch erfolgreich gegen ein solches Exklusivmodell gewehrt und dafür gesorgt, dass alle Interessierten hier Zugang hatten – und das durchaus nicht nur aus Angst vor Häresie-Verdächtigungen, sondern vor allem deshalb, weil alles andere seinen Vorstellungen von Laienbildung und Volksmission geradezu entgegengesetzt gewesen wäre. Einige Jahre später wurde Spener gar nicht mehr gefragt, die Gruppe traf sich regelmäßig – und häufig auch ohne Spener – im Saalhof und knüpfte verstärkt Kontakte zu radikaleren Kirchenreformern auch außerhalb der Stadt: 1677 war hier zum Beispiel der Quaker William Penn zu Gast.
Speners Toleranz gegenüber schwärmerischen Ideen hängt auch damit zusammen, dass er die Orthodoxie, die verfasste Kirche, selbst dafür mitverantwortlich machte. Die im Volk verbreitete Tendenz zu Aberglauben und Sektiererei ist nach Speners Überzeugung nicht diesen Leuten selbst anzulasten, sondern eine Folge davon, dass sich die Theologen nicht genug um die religiöse Bildung der Menschen gekümmert haben. Mit ihrem akademischen Kauderwelsch und ihren argumentativen Spitzfindigkeiten hätten sie sich nur in ihren eigenen, abgeschlossenen Zirkeln bewegt und müssten sich daher nicht wundern, wenn sich Aberglaube breit macht und die Menschen Zuflucht in Esoterik und Wunderglaube suchen.
Deshalb forderte Spener auch eine Reform des Theologiestudiums, was angesichts der wirklich desaströsen Verhältnisse in Ausbildung, Anstellung und Beurteilung der lutherischen Geistlichkeit ein längst überfälliges Bestreben war, mit dem Spener in seiner Zeit auch keineswegs alleine da stand. Neben besseren Kontrollen für den Berufs- und Lebenswandel der Pfarrer schlug er unter anderem vor, dass die theologischen Vorlesungen an der Universität nicht mehr auf lateinisch, sondern auf deutsch gehalten werden sollen, damit die Pfarrer später in der Lage wären, sich ihren Gemeindemitgliedern verständlich zu machen – eine Forderung, die auch heute noch eine gewisse Aktualität hat. Und zwar nicht nur, was die Predigten betrifft oder die Vermittlung eines religiösen Grundwissens. Die Sprache, in der sich die politischen Eliten heute verständigen, ist für die meisten Menschen genauso unverständlich, wie die lateinischen Theologievorlesungen zur Zeit Speners. Drei Viertel der Deutschen sind nicht in der Lage, die Tagesschau zu verstehen, hat kürzlich eine Studie ergeben.
Die Kluft zwischen Obrigkeit und Untertanen (heute würde man sagen, zwischen politischer Klasse und dem normalen Volk) war damals wie heute enorm groß. Und es ist ein Beweis dafür, wie wenig weltfremd Speners Verständnis von »innerlicher« Frömmigkeit war, dass es sich nicht nur in theologischen Überlegungen, sondern auch in sozialem Engagement äußerte. Im August 1674 machte er in einer Bußpredigt mit deutlichen Worten diejenigen, die nicht auf Abhilfe des Bettelns sinnen, für den verwahrlosten Zustand der Bettler verantwortlich. Die Predigt brachte den Frankfurter Bürger Johann Moritz Altgeld dazu, 2000 Gulden für ein Armenhaus zu spenden, das – nach langen Verhandlungen – 1679 schließlich eröffnet wurde. In einigen seiner Predigten stellte Spener aus der Sicht des gläubigen Christen das weltliche Eigentumsrecht in Frage und forderte fast so etwas wie Gütergemeinschaft: Auch das kann in der Handelsmetropole Frankfurt sicher nicht allen gefallen haben.
Neben materieller Fürsorge war es ihm aber auch um Volksbildung zu tun, und diese Ideen hat er, wie Sie wissen, in Frankfurt selbst umzusetzen versucht: Er veranstaltete Kurse, die auch den Laien theologische Grundkenntnisse vermitteln und ihnen einen eigenen Zugang zur Bibel ermöglichen sollten. Dass dazu auch Handwerker und Dienstmädchen zugelassen wurden, ja dass sie sogar das Wort ergriffen, war für viele wohl ebenso unerhört wie die Tatsache, dass Spener persönlich (immerhin war er ja der wichtigste Pfarrer der Stadt) Katechismuskurse für Kinder abhielt, in denen er sie mit dem Grundwissen des lutherischen Glaubens bekannt machte. Diese Lektüre umfasste nicht nur die Bibel, sondern auch andere Schriften, die sich mit dem eigenen Glauben, dem Verhältnis zu Gott, und den daraus folgenden konkreten Anleitungen für das eigene Leben beschäftigten. Ich sehe darin den Versuch, den Menschen zu ermöglichen, Zugang zu den eigenen weltanschaulichen Grundlagen zu bekommen. Sie zu befähigen, bewusst in der Welt zu handeln, ihre eigenen Urteile zu fällen, anstatt von der Anleitung und Interpretation anderer abhängig zu sein.
Damit könnte man in Spener immerhin so etwas wie einen Vorläufer aufklärerischen Denkens sehen. Wenn er sich dem – auch von der Geistlichkeit zuweilen unterstützten – Glauben an die geheimnisvoll, auf magisch-unverstehbare Weise wirkende Kraft des Taufsakraments widersetzte und betonte, Christ zu sein bedeute schon etwas mehr, dann erinnert mich das an meine eigene Abneigung dagegen, dass heute politisches Handeln sich im Verständnis vieler Menschen auf die Teilnahme an Wahlen beschränkt. Diesem alle vier Jahre stattfindenden Ritual an den Wahlurnen wird ja zuweilen auch ein fast schon magisches Wirken zugesprochen – als werde man allein durch regelmäßiges Abstimmen zum guten Demokraten.
Spener stellte dem formalistischen Verständnis von Christsein ein zwar nicht intellektuell-akademisches, aber eben doch verstandesmäßig erfassbares entgegen, und zwar nicht nur bei den oberen Schichten und den ohnehin Gebildeten, sondern bei allen. Bei all dem war er aber Realist genug, um sich nicht zu einem Führer der Entrechteten und Verfolgten zu stilisieren, wie so manch anderer Erweckungsprediger in diesen Jahren. Dazu war er viel zu vorsichtig, viel zu konfliktscheu, vielleicht auch zu feige. Das liegt natürlich auch daran, dass er selbst ganz im Leben der Oberschicht seiner Zeit beheimatet war. Wenn auch selbst nicht adliger Herkunft, so war er doch mit dem Grafenhaus der von Rappoltsteins aufs Engste verbunden, hatte an der wegen ihres hohen Anteils adliger Studenten als »Prinzenuniversität« bekannten Straßburger Universität studiert, und war, wie ich kürzlich von Herrn Telschow gelernt habe, auch durch sein Faible für die Wappenkunde mit dem deutschen Adel bestens bekannt. Seine Wahrnehmung der Zeitumstände ist ganz durch diese Perspektive geprägt. Spener griff die Oberschicht nicht aus der Perspektive der Unterschicht an, sondern gehörte selbst dazu. In diesen höherstehenden Kreisen grassierte damals die Mode, wie ein Historiker schreibt, einen »bewusst räsonnierenden und reflektierenden Atheismus und Skeptizismus dem Einflusse der Kirche« gegenüber zur Schau zu tragen – die Parallele zu den intellektuell-bornierten Feuilletons unserer Tage drängt sich hier doch geradezu auf. »Es ist die Haltung einer Generation, die selbst die Schrecken des dreißigjährigen Krieges nicht mehr erlebt hatte, und die sich durch betontes Desinteresse an religiösen Fragen von der Geisteshaltung ihrer Väter abgrenzen wollte«, heißt es da weiter über die Zeit Speners, aber es könnte genauso gut von den Alt-68-ern die Rede sein.
Aber wie dem auch sei – Statt auf das Volk stützte sich Spener eher auf die einflussreichen Bürger und Bürgerinnen Schütz, Eysseneck und Co., also letztlich auf die Elite der Stadt. Durch ein Bündnis mit ihnen versuchte er darauf hinzuwirken, den Elan der religiösen Erweckungsbewegungen in die verfasste Kirche zu integrieren und zum Hebel für eine Reform zu machen, die das Luthertum standfest genug machen würde, um den Erfordernissen der Zeit entgegentreten zu können. Doch die Interessen der religiös engagierten Oberschicht lagen keineswegs beim Volk, bei den ungebildeten und orientierungslosen Massen. Entsprechend wenig Wert legten sie auf Volksbildung und soziale Arbeit. So empfahl Anna Maria von Schurmann den Frankfurterinnen und Frankfurtern, sich von jeder »Fleischlichkeit« freizumachen, und darunter verstand sie auch so weltliche Dinge wie soziale Einrichtungen. Armenhäuser zu gründen sei zwar eine durchaus lobenswerte Initiative, habe aber nichts mit dem Weltenheil zu tun. Anders als Spener unterschieden seine vornehmen Unterstützerinnen und Unterstützer, wenn sie die zunehmende »Gottlosigkeit« in der Stadt verurteilten, nicht zwischen den einflusslosen Unterschichten und den einflussreichen Führungsspitzen, sondern sie zogen die Grenze zwischen ihrem kleinen Kreis von Standhaften und Aufrechten und dem ganzen üblen Rest.
Spätestens Anfang der achtziger Jahre kam Spener nicht mehr umhin, diesen Bruch einzugestehen: Dass die »Saalhof-Pietisten« nun sogar den Gottesdienstbesuch verweigerten und die Gültigkeit des lutherischen Abendmahls nicht mehr anerkennen wollten, ließ sich beim besten Willen nicht mehr integrieren. Jetzt bezog Spener deutlich Stellung gegen die Gruppe, deren Mitglieder aus Frankfurt ausgewiesen wurden, einige wanderten in die USA aus. Dass Spener in diesem Fall mit seinem Versuch, Erweckungsbewegung und offizielle Kirche miteinander zu vereinbaren, gescheitert ist, spricht jedoch nicht gegen sein grundsätzliches Anliegen, sondern macht es nur deutlich: Die Suche nach der Balance von Beständigkeit und Erneuerung, das Bemühen, radikale, revolutionäre Anstöße von außen in die etablierten Institutionen zu integrieren, der Ausgleich zwischen weltlicher Verantwortung und innerlicher Erweckung – an all diesen Punkten lässt sich bei Spener die Grundüberzeugung herauslesen, dass hilfreich nicht die Zementierung von Alternativen ist, dass es nicht um ein Entweder-Oder geht, sondern dass die Wahrheit in der Vermittlung liegt. Und dass es im Streitfall darum geht, die Gemeinsamkeiten und berechtigten Anliegen beider Seiten zu erkennen.
Spener war, alles in allem, sicher kein revolutionärer Vordenker der Geistesgeschichte des 17. Jahrhunderts. Er steht noch ganz im Kontext eines Denkens, in dem die wichtigen Angelegenheiten zwischen weltlicher und geistlicher Obrigkeit, zwischen Kirche und Fürstentum, verhandelt werden. Seine eher intuitive Erkenntnis von der Bedeutung der Volksfrömmigkeit äußert sich noch sehr in fürsorglich-patriarchaler, nicht in emanzipatorischer Tendenz. Dabei mag auch seine grundsätzliche Abneigung gegen offen ausgetragenen Streit und gegen Kontroversen eine Rolle spielen – was sicher in seiner Persönlichkeit gründet, aber eben auch eine Lehre aus den Erfahrungen des dreißigjährigen Krieges war, der gezeigt hatte, wie blutig solche Kontroversen verlaufen können. Und so tat Spener zeitlebens keinen Schritt, ohne sich nicht vorher gewiss zu sein, die jeweils entscheidenden Mehrheiten bereits auf seiner Seite zu haben. Gerade durch diese Vorsicht jedoch wurde sein Reformprogramm weitaus einflussreicher, als so manch revolutionärer Schritt.
Spener war immer ein Angepasster, ein Integrativer, immerhin ja auch ein hoher Kirchenrepräsentant, der stets umsichtig vermied, unter Häresieverdacht zu geraten, ohne aber dabei seinen Überzeugungen untreu zu werden. Und auf diese Weise ist es ihm gelungen, den schweren Tanker der lutherischen Orthodoxie für die harten Zeiten des Absolutismus tauglich zu machen.
Was können wir heute von Spener lernen – und mit wir meine ich jetzt nicht die Kirche und ihre internen Fragen, sondern die Gesellschaft, die Politik, uns alle. Wer sind die Fürsten und Machthaber von heute, um deren Anerkennung wir buhlen? Die Medien? Die global Players in der Wirtschaft? Wer sind die Schwärmer von heute, die Endzeittheoretiker, die Saalhof-Pietisten? Sind es die Weltverbesserer in den etablierten NGOs? Oder die besserwisserischen Zeitungsredakteure mit ihrem ständig erhobenen Zeigefinger? Und wer ist das orientierungslose, Sinn suchende Volk? Sind es die Neonazis in Sachsen? Die vor dem Fernseher abgestumpften Menschen, die sich für Politik nicht mehr interessieren? Die Kinder, die in der Schule nichts mehr lernen wollen, weil ihnen niemand vermittelt, welchen Sinn das hat?
Vielleicht finden sie diesen Brückenschlag zwischen dem Kirchenreformer Spener und der heutigen Politik etwas gewagt. Wahrscheinlich ist er das sogar. Und ich möchte diese politische Interpretation Speners auch gar nicht als Alternative zu dem verstehen, was in theologischer Hinsicht über ihn gesagt werden kann. Doch ich glaube tatsächlich, dass wir Christinnen und Christen von Spener nicht nur lernen können, wie wir mit unseren internen Angelegenheiten umgehen sollen. Ich jedenfalls finde in seinem Beispiel auch Inspiration dafür, in der Welt, in die Gesellschaft hinein politisch aktiv zu werden.
Vortrag am 24.2.2005 im Dominikanerkloster in Frankfurt/Main.