Ina Praetorius: Handeln aus der Fülle. Postpatriarchale Ethik in biblischer Tradition. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2005, 19,95 Euro
Ethik auf festem Boden
Was das »gute Leben« sei, auf diese klassische Grundfrage der Ethik haben Philosophen in den letzten drei Jahrtausenden schon eine Menge Antworten gegeben. Allerdings taten sie das meist in einer Sprache und einem Duktus, der wenig mit der Lebenswirklichkeit zu tun hat; was vielleicht der Grund dafür ist, dass theoretische Ethik doch weitgehend als eine Sache von Experten gilt (daher ja auch all die »Ethikkommissionen«), während im Alltag jemand, der »gut lebt« ganz banal für einen gehalten wird, der viel Geld hat.
Die Schweizer Theologin Ina Praetorius wollte das anders machen. Und ihr ist in der Tat das Kunststück gelungen, ein hoch philosophisches Ethikbuch zu schreiben, das sich trotzdem wie ein Krimi an zwei Abenden durchlesen lässt. Dass Philosophie sich nicht kompliziert und abstrakt anhören muss, sondern in den einfachen, geläufigen Worten der Muttersprache formuliert werden kann, ist ja seit dem durchschlagenden Erfolg von »Sophies Welt« bekannt. Während Jostein Gaarder aber lediglich die überlieferten Positionen des einschlägigen Philosophie-Kanons in eine verständliche Sprache übersetzte (und dabei teilweise verflachte), geht es Praetorius um mehr. Bei ihr ist die klare Sprache nur eine der wohltuenden Folgen eines grundlegenderen Wandels, der im Zentrum ihrer Argumentation steht: Dass es nämlich kein außerweltliches, feststehendes und universal gültiges Gesetz gibt – zum Beispiel das der göttlichen Gebote oder der rationalen Vernunft – das dann auf das fleischliche, irdische, konkrete Leben sozusagen nachträglich »angewendet« wird, sondern dass »gutes Leben« aus einem fließenden Prozess des lebendigen Austauschs unter Menschen entsteht: »Es geht darum, einander unterschiedliche Begründungen für gutes Handeln, die auch in Zukunft unterschiedlich bleiben werden, friedfertig und möglichst einleuchtend zu erklären.«
Dass der Abschied vom Dogma der Allgemeingültigkeit bei Praetorius nicht in individualistische, postmoderne Beliebigkeit abdriftet, liegt daran, dass sie ein realistisches Menschenbild hat: Menschen sind für sie keine autonomen Wesen, die über Prinzipienfragen nachdenken, während andere stillschweigend den Abwasch machen. Die Illusion einer androzentrischen Welt, die den erwachsenen, weißen, gesunden Mann zur Norm für das Menschsein erklärte, sei mit der Frauenbewegung obsolet geworden. Spätestens seit dem Feminismus sei bekannt, dass es für das Menschsein keine Norm gibt.
Gemeinsam sei ausnahmslos allen Menschen lediglich eines: Sie sind Geborene, also als kleine, schreiende und ganz und gar abhängige Wesen von einer Frau zur Welt gebracht worden. Ohne Beziehungen können Menschen nicht leben – Robinson Crusoe entlarvt Praetorius als männliches Phantasma. Und muss auch niemand beziehungslos sein, denn die anderen sind immer schon da: die Mutter, die Erwachsenen, die Vorfahren, und mit ihnen nicht nur Nahrung, Kleidung und ein Dach über dem Kopf, sondern auch Regeln, Weisheiten, Meinungen und Ideen.
Diese materielle und geistige Fülle, die allen Menschen, vermittelt durch die Mutter und die Älteren, vom Moment der Geburt an geschenkt wird, macht Praetorius zum Ausgangspunkt für ethisches Handeln. Sie versteht Traditionen, Sitten und Gesetze nicht als Korsett, das die eigene Freiheit beschränkt, sondern im Gegenteil als Voraussetzung für Freiheit: »So wie ein Kochrezept noch keine Mahlzeit und ein Schnittmuster noch kein Kleid ist, wird auch aus moralischer Überlieferung gutes Leben erst durch freies Tun. Ein gutes Essen entsteht, wenn ich die Anweisungen des Rezepts – mehr oder weniger – befolge, um die Nahrungsmittel, die mir hier und jetzt zur Verfügung stehen, sachgerecht zu etwas zu kombinieren, das allen Beteiligten schmeckt und bekommt und das in exakt dieser Zusammensetzung noch nie vorher da war.«
Das Beispiel vom Kochrezept erhellt so manches: Traditionen und Gesetze sind nicht für sich genommen wertvoll, sondern nur, wenn sie zur Gegenwart passen. Nicht die Rezepte stehen im Zentrum der Aufmerksamkeit, sondern das, was nachher auf den Tisch kommt. Und das hängt immer auch von der Köchin und ihren Ideen ab, von den Zutaten, die sie in der Speisekammer hat, und von denen, die mit am Tisch sitzen. Es ist also ganz normal, dass Gesetze verändert werden, dass Sitten sich wandeln, dass Gewohntes in Frage gestellt wird, ebenso wie es normal ist, dass Kinder oft nicht das tun, was ihren Müttern gefällt – ohne dass die mütterliche Autorität dadurch ins Wanken geriete.
Ina Praetorius will daher auch die westliche Tradition, ihre Philosophien, ihre Gesetzbücher, ihre Sitten und Werte keineswegs auf dem Müllhaufen der Geschichte entsorgen, sondern lediglich an ihren Platz rücken: Und der ist – ein weiteres herrliches Bild – wie bei einem alten, mächtigen Schrank nicht in der Mitte des Zimmers, wo er den Blick versperrt, sondern an der Wand. In die Mitte gehört vielmehr der Tisch, um den sich alle Beteiligten versammeln, um zu essen und zu diskutieren und über das gute Leben verhandeln. Bei Bedarf können sie dann durchaus auf die Gesetzbücher, die Bibel oder die Werke früherer Philosophinnen und Philosophen, die in dem alten Schrank aufbewahrt werden, zurückgreifen.
Die Tradition, in die sich Praetorius als christliche Theologin selbst stellt, ist die der biblischen Überlieferung – eine Quelle von Weisheiten und Einsichten, die ihrer Ansicht nach den Vorteil haben, dass sie »jenseits der modernen Idee metaphysikfreier Vernünftigkeit« liegen. Sie leiden auch nicht an der »Geburtsvergessenheit« der westlichen Philosophie, die das angeblich höhere männlich-menschliche »Wesen« von seiner natürlichen, körperlichen Bedingtheit abgespalten hat und so die Welt in eine schier endlose Liste von Gegensätzen aufteilte: Vernunft und Gefühl, Geist und Materie, Gut und Böse, Männlich und Weiblich und so weiter. Allerdings sei ihr Rückgriff auf die biblische Tradition nur deshalb möglich, weil die Kirchen heute »die Deutungshoheit über Bibel und Moral gleichermaßen verloren haben«. Die Bibel gilt – jedenfalls hier zu Lande – heute kaum noch jemandem als allein selig machender Heilsweg (was sie übrigens vom Dogma der rationalen Vernunft unterscheidet). Deshalb, so Praetorius, könne sie jetzt postpatriarchal gedeutet und neu zugänglich gemacht werden.
Eine weitere wesentliche Quelle, aus der Praetorius schöpft, sind die feministischen Diskussionen der letzten Jahrzehnte. Manches von dem, was sie in ihrem Buch so fulminant auf den Punkt bringt, ist in einzelnen Aspekten bereits vorgedacht worden, hat sich schon länger angedeutet – vor allem in der feministischen Theologie, bei Hannah Arendt, bei den Denkerinnen der weiblichen Differenz in Italien und anderswo. Man merkt dem Buch an, dass es nicht von einem einsamen Geist geschaffen wurde, sondern von aus einer Fülle von Gedanken, Texten, Begegnungen und Gesprächen heraus entstanden ist. Wie die Spitze eines Eisberges macht Ina Praetorius für alle sichtbar, wie viel sich unter der Oberfläche einer medial zugerichteten Weltsicht schon in Sachen Postpatriarchat getan hat.
siehe auch: Rezension dieses Buches in der Frankfurter Rundschau: http://www.fr-online.de/in_und_ausland/kultur_und_medien/literatur/literatur_rundschau/literatur_rundschau_dezember_2005/?em_cnt=766312&