Antje Schrupp im Netz

Die weibliche philosophische Gemeinschaft Diotima

»Wir sind keine Gruppe«, steht auf der Homepage der italienischen Philosophinnengemeinschaft Diotima, »sondern einzelne Frauen, die sowohl als Einzelne wie auch gemeinsam geprägt sind von einer Geschichte der Beziehungen, angefangen bei der Beziehung zu unserer Mutter, die weitergeführt wird von der Beziehung, die uns untereinander verbindet und die Diotima heißt: ein gemeinsamer Name für Beziehungen unter Frauen, die Philosophie treiben.«

Bild Auch meine Geschichte mit Diotima beginnt mit einer Beziehung. »Ich habe Chiara Zamboni kennen gelernt«, notierte ich am 10. Oktober 1995 in mein Tagebuch, »und wir haben uns supergut verstanden. Ihre Theorie ist voll passend für mich.« Eine so euphorische Reaktion auf die simple Tatsache, dass ich eine nette Frau kennen gelernt und mich einen Abend lang mit ihr unterhalten habe, mutet auf den ersten Blick merkwürdig an: Ist eine philosophische Theorie etwa dazu da, passend für mich zu sein? Geht es nicht vielmehr darum, dass sie objektiv wahr, richtig, innovativ, wegweisend für alle ist?

Heute weiß ich, dass mein Tagebucheintrag intuitiv traf, was ich in der Begegnung mit Chiara Zamboni (Foto) erlebt hatte: Sie wollte mich nicht einfach von irgendeiner feministischen Theorie überzeugen (in diesem Fall vom Denken der Geschlechterdifferenz, denn damals war ich eher eine »Gleichheitsfeministin«), sondern sie hatte eine Antwort auf mein Begehren – in diesem Fall auf meinen Wunsch, aus der beobachtenden Rolle als Journalistin, die über »Frauenthemen« schreibt, hinauszutreten und selbst, persönlich, involviert zu sein. Indem Chiara mir nicht etwas erklärte, sondern mir etwas erklärte, konnte ich nicht mehr objektiv bleiben, sondern musste eine Bindung eingehen. Es war eine Art »Ansteckung« – um das Bild einer anderen Diotima-Philosophin, Luisa Muraro, zu gebrauchen. Die Ansteckung nicht mit einer bestimmten »Theorie«, sondern vor allem mit einer Praxis: dem Vertrauen auf das Gespräch zwischen zwei Frauen, in dem das Begehren der einen auf die Autorität der anderen trifft.

Diotima hat sich im Jahr 1984 als weibliche Diskussions- und Forschungsgemeinschaft in Verona gegründet. Den Kern bilden etwa 10 bis 15 Frauen, die sich einmal im Monat treffen, seit 1988 veranstalten sie jedes Jahr ein öffentliches »großes Seminar« an der Universität, aus dem regelmäßig Bücher hervorgehen und dessen Themen bei halbjährlichen Wochenendseminaren, zu denen Frauen aus ganz Italien und auch aus dem Ausland hinzukommen, erarbeitet werden. Gemeinsamer Wunsch dabei war es von Anfang an, so Chiara Zamboni – die neben Luisa Muraro und Adriana Cavarero eine der Gründerinnen von Diotima ist – »auf eine Weise Philosophie zu machen, die dem eigenen Frausein treu bleibt, die Frage der weiblichen Differenz einführt und sie immer offen hält.« Dies wird auch im Namen deutlich: Diotima hieß eine weise Frau aus dem antiken Griechenland, von der Sokrates in Platons »Gastmahl« sagt, sie habe ihn »das Wesen der Liebe« gelehrt, die aber weder bei diesem Gastmahl von Männern noch in anderen antiken Quellen anwesend ist, ebenso wenig wie die weibliche Differenz in der männlichen Philosophiegeschichte.

Was die Veroneser Philosophinnengemeinschaft von anderen politischen Gruppen unterscheidet, ist die Abwesenheit von festen Strukturen: Es gibt keine formale Mitgliedschaft, kein gemeinsames Programm, keine für alle verbindlichen Regeln. Diotima ist keine Gruppe, der eine beitreten könnte, sondern es ist eine Aktivität: »fare Diotima«, Diotima machen. Zugehörigkeit konstituiert sich über die »duale Beziehung«, also die persönliche Beziehung zu einer oder einigen Frauen, aus denen dann immer wieder konkrete Projekte, Begegnungen, Veranstaltungen hervorgehen können. Auf diese Weise hat sich das »Diotima machen« weit über die Grenzen Italiens hinaus ausgebreitet, es bestehen intensive Kontakte nach Frankreich, Spanien, in die USA und auch nach Deutschland.

Der Weg dahin war keineswegs einfach. In den Gründungsjahren beruhte die Gemeinschaft auf der Autorität Luisa Muraros, die anfangs von allen anerkannt wurde. Doch nach einigen Jahren kam es hierüber zu Konflikten, zu Neid, gegenseitigen Vorwürfen und Rückzügen. Diotima ist es gelungen, an diesen Konflikten nicht zu zerbrechen – wozu es sicher gekommen wäre, wenn sie sich auf feste Regeln (und damit Machtstrukturen) einerseits oder auf die Ablehnung jeder Autorität andererseits zurückgezogen hätten. Aber sie entwickelten ausgehend von dieser zunächst negativen Entwicklung neue Autoritätsstrukturen, eben jene der »dualen Beziehungen«, die die Gemeinschaft bis heute tragen und sich bewährt haben. Dass das gelungen ist, liegt vor allem an dem großen Realismus ihrer Philosophie, die immer auf das achtet, was tatsächlich geschieht, und Ideologie vermeidet. Giannina Longobardi schreibt: »Wo es an der realistischen Wahrnehmung einer Situation fehlt, wo eine falsche Lesart sich über die realen Beziehungen legt, wird schließlich auch die Freiheit eher proklamiert als praktiziert.«

Mich jedenfalls hat diese Praxis stark beeinflusst: Bei den Diotima-Treffen, an denen ich teilgenommen habe, war ich fasziniert von der Art und Weise, wie hier geredet und gemeinsam gedacht wurde (was mir eindrücklicher in Erinnerung blieb als die Inhalte, von denen ich bei den schnellen italienischen Debatten oft nicht alles verstand): Zwanzig Frauen, die um einen Tisch herumsitzen oder im Raum herumlaufen, ohne Diskussionsleitung, ohne Tagesordnung, ohne Regularien – ganz und gar nicht »zielführend«, wie man heute sagt. Die einander auch mal ins Wort fallen, sich offen gegenseitig kritisieren und Gedanken ungeschützt zur Verfügung stellen. Und die auf diese Weise in ihrer nunmehr 21-jährigen Geschichte schon viele wertvolle Ideen und Texte in die Welt gebracht haben.

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In: Schlangenbrut, August 2005