Abschied von der »guten« Mutter
Gedanken zum Thema Mutterschaft und weibliche Freiheit
vgl. zum Thema auch: Die symbolische Ordnung der Mutter
Im Gefolge der aktuellen Demografiedebatte wird wieder zunehmend über Mutterschaft debattiert. Zwar hat sich herausgestellt, dass die Geburtenrate dafür eigentlich von eher geringer Bedeutung ist: Erstens ist die durchschnittliche Kinderzahl pro Frau in Deutschland seit über 30 Jahren relativ stabil und wird es wohl auch bleiben. Und zweitens ist der Hauptfaktor für die veralternde Bevölkerung nicht die Kinderzahl, sondern die steigende Lebenserwartung.
Dennoch sind die Debatten höchst aufschlussreich. Das Thema Mutterschaft löst nämlich nach wie vor erstaunliche Emotionalität aus. Egal ob die Mutterschaft »wieder mehr wertgeschätzt« werden soll oder ob dazu aufrufen wird, sie zu »entmythologisieren« – schnell operiert man mit Entrüstung, Polemik und Unterstellungen, und immer ist ganz, ganz viel Moral im Spiel. Es scheint fast, als lasse sich das Thema nicht »ordnungsgemäß« in einen rationalen politischen Diskurs einschließen. In diesem Artikel möchte ich der Frage nachgehen, warum das so ist und dabei den Fokus auf den Zusammenhang zwischen Mutterschaft und weiblicher Freiheit richten. Daraus ergeben sich meiner Ansicht nach konstruktive Denkmöglichkeiten auch im Hinblick auf aktuelle gesellschaftliche Fragen wie etwa die die zukünftige Organisation sowohl von Haus- und Fürsorgearbeit als auch der Erwerbsarbeit.
Aus der Perspektive weiblicher Freiheit ist die Debatte durchaus alarmierend. Denn bei aller scheinbaren Unvereinbarkeit in den Positionen derer, die wieder mehr familiäre Werte unter besonderer häuslicher Verantwortung der Frauen einklagen, und jenen, die bessere Karrierechancen für Frauen, institutionalisierte Kinderbetreuung und die Gleichverteilung elterlicher Pflichten auf Frauen und Männer fordern, sind sie sich doch in der Struktur ihrer Argumente sehr ähnlich: Beide Seiten argumentieren allzu oft mit der Nützlichkeit der Frauen für die Gesellschaft – nur dass die einen meinen, Frauen wären in der Familie, die anderen, sie wären in der Wirtschaft unabkömmlich. Und beide Seiten gehen davon aus, dass das Wohl des Kindes und die Freiheit der Mutter tendenziell miteinander im Konflikt stehen. Sie streiten nur darüber, was dem Kind mehr schadet: zu viel »Fremdbetreuung« oder zu viel »Mutterglucke«.
Während die einen dabei ganz ungeniert auf alte patriarchale Argumentationsmuster zurück greifen und behaupten, die Emanzipation oder gar der Egoismus der Frauen seien Schuld an vielen gesellschaftlichen Problemen, verstehen sich die anderen als feministisch. Sie stehen in der Tradition der zweiten Frauenbewegung der 1970er Jahre, die sich in großen Teilen von überkommenen Mutterbildern distanzieren wollte, um die Frauen von der Verpflichtung und Last der Mutterschaft zu »befreien«. Eine große Rolle dabei spielte Simone de Beauvoirs bereits 1949 erschienene Studie »Das andere Geschlecht«. Beauvoir sah in der Tatsache, dass Frauen Kinder gebären und demnach auch versorgen müssen, die maßgebliche Ursache für ihre gesellschaftliche Benachteilung. Und zwar nicht etwa deshalb, weil eine patriarchale Ordnung die Welt zuungunsten von Müttern organisiert hätte, sondern weil ihrer Ansicht nach die mütterliche Tätigkeit sich grundsätzlich mit den Ambitionen freier, selbstbestimmter Individuen nicht verträgt.
Ein Hauptpunkt war dabei die Trennung zwischen der konkreten Mutterschaft – also Schwangerschaft und Geburt – und der daraus folgenden Fürsorgearbeit. Letztere sollte möglichst vergesellschaftlicht und auch auf die Väter verteilt werden, damit die Mütter »entlastet« (also von einer »Last« befreit) den »eigentlichen« Tätigkeiten eines freien Menschen nachgehen können1.
Wie sich heute herausstellt, hat dieser Weg in eine Sackgasse geführt. Liest man Beauvoirs Buch heute noch einmal, fällt ins Auge, dass sich in der Zwischenzeit zwar sehr vieles im Leben von Frauen verändert hat – vor allem in der Mädchenbildung, aber auch im Bereich der Frauenerwerbsarbeit ist eigentlich nichts mehr so, wie sie es damals schildert. Im Bereich der Verteilung der familiären Haus- und Fürsorgearbeit allerdings hat sich nur wenig getan. Während zum Beispiel Frauen inzwischen 45 Prozent der Erwerbsbevölkerung stellen2 dümpelt der Anteil der Väter an der Kinderversorgung zwischen 5 und 10 Prozent. Neueren Studien zufolge ist das männliche Zeitbudget für Kinderfürsorge, wenn man die überwiegende Mehrheit der Familien in den Blick nimmt, sogar wieder rückläufig3. Und auch wenn die aktuellen Bemühungen, mit Hilfe von »Vätermonaten« und »Wickelvolontariaten« eine Veränderung anzustoßen, sicher interessante Aspekte haben, so konnten sie doch nichts daran ändern, dass die Versorgung von kleinen Kindern nach wie vor ganz überwiegend eine Angelegenheit von Frauen ist (im Übrigen nicht nur innerhalb der Familie, sondern auch außerhalb).
Es ist sicher richtig, in diesem Zusammenhang auf die Schwierigkeiten hinzuweisen, die viele Väter bei der Vereinbarkeit von Beruf und Familie haben. Allerdings stellt sich dieses Problem für die Mütter ja ebenso, nur dass sie sich meistens anders entscheiden und im Zweifelsfall berufliche Kompromisse eingehen. Außerdem hatten es die Frauen bei ihrem Vordringen in die ehemals männlichen Sphären der höheren Bildung und der Erwerbsarbeit auch nicht gerade leicht. Der eigentliche Grund für das Ungleichgewicht scheint vielmehr an anderer Stelle zu liegen, nämlich im (fehlenden) Begehren der Männer: Ihr Wunsch, sich auch an den familiären, traditionell »mütterlichen« Arbeitsbereichen zu beteiligen, scheint bei weitem nicht so groß zu sein, wie es der Wunsch der Frauen war, sich einen Platz in der Erwerbsarbeitswelt zu erobern.
Aber ist das wirklich ein Wunder? Im Kontext einer Argumentation, die Mutterschaft und die daraus resultierenden Verantwortlichkeiten für eine grundsätzliche »Last« hält, bekamen schließlich alle feministischen Bemühungen, die Mutterrolle von biologistischen, naturrechtlichen und schöpfungstheologischen Zuschreibungen zu befreien, einen schalen, weil instrumentellen Beigeschmack: Argumentieren die Frauen nicht vielleicht nur deshalb so, weil sie keine Lust mehr haben, diese Arbeit zu machen? Zwar wird heute zunehmend versucht, den Männern auch positiv die Vorzüge des Kinderbetreuens schmackhaft zu machen. Aber das oft banale Gerede vom »Glück« eines Lebens mit Kindern erinnert doch stark an die Propaganda vom Mutterglück, die früher die Frauen mit ihren häuslichen Pflichten versöhnen sollte. Das hat damals schlecht funktioniert, und tut es heute bei den Männern natürlich auch nicht.
Faktisch wurde die Frage der Mutterschaft vorwiegend zu einer Angelegenheit von Rechten und Gesetzen gemacht. Nicht wenige erhoffen sich zum Beispiel von anderen gesetzlichen Rahmenbedingungen eine bessere Verteilung der Fürsorgearbeiten. Dabei wird oft wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass die Interessen von Müttern, Vätern und Kindern tendenziell gegensätzlich seien. Völlig vernachlässigt wird hingegen die kulturelle Debatte darüber, inwiefern das Phänomen der Mutterschaft (also die Tatsache, dass Menschen nicht als autonome Subjekte auf die Welt kommen, sondern als abhängige, hilfsbedürftige Wesen von einer Frau geboren werden) möglicherweise über ein solches Verständnis der Gesellschaft als Ansammlung von unabhängigen Individuen mit divergierenden Interessen hinausführt.
Besonders deutlich ist das an den Debatten über die Abtreibung zu sehen, die von der Frauenbewegung ja als Kampf für das »Recht« auf Abtreibung geführt wurde. Bis heute wird darüber gestritten, was mehr zählt, das »Recht« des Kindes auf Leben oder das »Recht« der Frau auf Verweigerung der Mutterschaft? Den Körper einer schwangeren Frau juristisch aufzuteilen in zwei eigenständige »Personen« ist aber offensichtlich absurd4, auch wenn es in einem Denkrahmen, der alle menschlichen Beziehungen unter einer juristischen Perspektive verstehen will, nachgerade plausibel erscheint. Was im Hinblick auf die Abtreibungsfrage aber in Wahrheit verhandelt wurde, das war die der weiblichen, und speziell der mütterlichen Autorität: Wer entscheidet im Zweifelsfall, was getan wird? Die betreffende Frau selbst? Oder das Gesetz, die Kirche, die Ärzteschaft, die »Experten«?
Aus der Perspektive der weiblichen Freiheit ist eine Abtreibung oft eine (meist als schmerzlich empfundene) Notwendigkeit. Die Umstände sind bekanntlich nicht immer so, dass man fröhlich Kinder in die Welt setzt. Doch die Frauenbewegung argumentierte hier defensiv und behauptete zum Beispiel, dass ungeborene Kinder keine vollwertigen Menschen seien oder dass es sich bei Abtreibungen um medizinisch leichte Eingriffe handele. Auf diese Weise hat sie sich auf die Logik derer eingelassen, die Frauen die Fähigkeit zur verantwortlichen, freien Entscheidung über ihre Schwangerschaften absprachen, und stattdessen die inneren Konflikte einer schwangeren Frau ebenfalls als juristische Angelegenheit behandelt.
Nach diesem Muster laufen heute viele Debatten ab, die das Verhältnis von Müttern und Kindern betreffen. Vordergründig wird darüber diskutiert, was gut für das Kind ist. Faktisch geht es aber immer um die Frage, wer entscheidet: die Mutter im konkreten Fall? Oder die Experten anhand von verallgemeinerbaren, abstrakten Maximen?
Das offensichtlichste Symptom dieser Entwicklung sind die dauernden Debatten über das »Kindeswohl« und die ideale Familienstruktur. Die Frage, was eine »gute« Mutter ist, kam historisch nicht zufällig gleichzeitig mit den Emanzipationsbestrebungen von Frauen auf. Solange Frauen in der Familie der patriarchalen Gewalt des Mannes untergeordnet waren, hatten sie als Mütter das zu tun, was dieser wollte. Die Emanzipation der Frauen hat nun aber gerade nicht dazu geführt, dass die Frauen als verantwortliche Akteurinnen selbst darüber entscheiden, wie sie Mutterschaft im konkreten Fall leben und definieren. Vielmehr sind sie nun dem öffentlichen Mainstream verantwortlich, der irgendwie immer besser weiß, was gut für das Kind ist. In gewisser Weise könnte man sagen, dass die patriarchale Kontrolle der Mutter seitens des pater familias heute abgelöst wurde von einer gesellschaftlichen Kontrolle der Mütter durch die Gesetze und die öffentliche Meinung.
Das Problem dabei ist, dass dieses Vorgehen im Falle einer Mutter-Kind-Beziehung nicht wirklich sinnvoll ist. Denn gibt es überhaupt den einen Maßstab für Mütterlichkeit? Kann man darüber, was für ein Kind gut ist, überhaupt abstrakt und allgemein diskutieren (und das Ergebnis in Gesetze gießen), oder ist das Schicksal des Kindes nicht viel zu eng mit dem der Mutter verwoben? Oder anders gefragt: Kann es einem Kind überhaupt gut gehen, wenn es gleichzeitig der Mutter schlecht geht?
Die italienische Philosophin Luisa Muraro hat in ihrem Buch »Die symbolische Ordnung der Mutter« gezeigt, dass sich der Blick auf gesellschaftliche Ordnungen grundlegend verändert, wenn man nicht das (historisch männliche) System von Recht und Gesetz zum Ausgangspunkt macht, sondern – einen Gedanken von Hannah Arendt aufgreifend und weiterdenkend – die Gebürtigkeit der Menschen5. Die traditionelle Gleichsetzung von Freiheit und Unabhängigkeit in der westlichen, männlichen Philosophie, so zeigt Muraro, führte zu einem Verlust an mütterlicher Autorität, weil Freiheit auf diese Weise nur zu erreichen ist durch Trennung und Distanzierung von der Mutter. Eine Tendenz, die sich zum Beispiel in der Frauenbewegung der 1970er ganz deutlich dahingehend manifestierte, dass frau alles werden wollte, nur nicht so wie die eigene Mutter.
Bei der Frage, welche kulturelle Bedeutung die Mutterschaft hat, geht es also nicht darum, wer die Windeln wechselt oder den Brei kocht, sondern um die viel weitergehende Frage, wie wir Differenz denken, also die grundlegende Unterschiedlichkeit der Menschen, die sich am Anfang des Lebens so eklatant zeigt. Ob wir erkennen – und das in politisches Handeln einbeziehen – dass es Bereiche des menschlichen Zusammenlebens gibt, die sich nicht sinnvoll durch Gesetze und Moral ordnen lassen. Die Beziehung von Mutter und Kind ist dafür nur ein, wenn auch das grundlegende Beispiel.
Natürlich ist nicht alles, was Mütter machen, gut und richtig. Es geht ausdrücklich nicht um eine Reanimierung alter Weiblichkeitsmythen. Muraro zum Beispiel schreibt durchgehend von der »Mutter oder ihrem Ersatz«. »Mütterliche« Tätigkeiten im Sinne eines verantwortlichen Umgangs mit der Ungleichheit und der Abhängigkeit der Menschen von anderen können nicht nur Mütter übernehmen, sondern alle Erwachsenen. Doch es ändert sich der Fokus: Die Frage ist nicht, ob zum Beispiel Väter ein »Recht« oder eine »Pflicht« zur aktiven Elternschaft haben, sondern ob sie faktisch für Kinder sorgen, welche Wünsche sie dafür haben und welche kreativen Vorstellungen sie dabei entwickeln – vielleicht ja aus Dankbarkeit gegenüber ihren eigenen Müttern, die ihnen das Leben geschenkt haben.
Der Vorteil dieses Perspektivenwechsels liegt nicht nur darin, dass er die Freiheit der Frauen (und nicht ihre Nützlichkeit für andere) ins Zentrum stellt, sondern auch darin, dass die konkreten körperlichen Bedingungen des Mutterseins wieder in den Blick genommen werden können, und zwar ohne daraus biologistische Schlussfolgerungen abzuleiten. Es gibt eben nur eine einzige Person, die bei der Geburt eines Kindes auf jeden Fall dabei ist, und das ist die Mutter. Die Anwesenheit des Vaters zum Beispiel ist durchaus zufällig, schließlich sind seit der Zeugung neun Monate vergangen und in der Zwischenzeit kann viel passiert sein. Vaterschaft kann also immer nur eine sozial vermittelte Beziehung sein, sie versteht sich niemals aufgrund des körperlichen Zeugungsaktes von selbst6.
Als Geborene sind wir am Anfang des Lebens nicht auf irgendeine Person angewiesen, sondern auf eine konkrete Person, die den Namen »Mutter« trägt. Wer auch immer später für das Kind sorgen mag, muss es aus dem Leib der Mutter entgegen nehmen. Es lässt sich also auch nicht leugnen, dass das Geborenwerden eine enorme Machtfülle der Mutter über das Kind beinhaltet – sie hat zum Beispiel grundsätzlich die Möglichkeit, ihr Kind ganz ohne »Aufsicht« seitens der Männer oder des Staates zur Welt zu bringen. Entsprechend hilflos ist die Aufregung, die jedes Mal durch die Medienlandschaft geht, wenn ein Fall von mütterlicher Vernachlässigung oder gar Kindstötung bekannt wird. Dabei zeigen diese, durchaus seltenen Fälle ja nur, dass Muttersein keineswegs automatisch bedeutet, eine »gute« Mutter zu sein. Die Anerkennung mütterlicher Autorität muss einhergehen mit dem Abschied von der Suche nach der »guten« Mutter, also einer verallgemeinerbaren und für alle verbindlichen Vorstellung davon, was eine Mutter zu tun hat.
Weibliche Freiheit, die auf mütterlicher Autorität gründet, ist ebenso wenig vor problematischen Aspekten gefeit, wie es bekanntlich die männliche Freiheit ist, die auf der Autonomie und Unabhängigkeit der Individuen aufbaut. Nur können eben die Regeln und Institutionen, in deren Rahmen über Letztere politisch verhandelt wird, nicht einfach auf Erstere übertragen werden. Was das konkret für die künftige Organisation der Gesellschaft bedeutet, muss erst noch erarbeitet und diskutiert werden. Sicher ist nur, dass Frauen hierbei gehört werden müssen, und zwar auch und gerade dann, wenn sie andere Vorstellungen vom guten Leben haben, als die Mehrzahl der Männer. Bei diesem Diskurs geht es nicht länger vornehmlich um den Abbau von Diskriminierungen und Benachteiligungen, unter denen Frauen bei ihrem Vordringen in ehemals männlich dominierte Sphären leiden. Sondern es geht vor allem darum, was sie an Ideen und Wünschen und Erfahrungen für eine gesellschaftliche Neuordnung einzubringen haben.
Dabei müssen auch grundlegende Begriffe der politischen Sphäre, wie zum Beispiel der der Pflicht, neu bestimmt werden. In einem Internetforum fand ich kürzlich den Beitrag eines Bloggers namens »Franklin«, der sich über einen Vortrag mokierte, in dem ich das Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern bei der unbezahlten Fürsorgearbeit behandelt hatte. Er schrieb: »Frauen ziehen also immer noch den Kürzeren. Sie müssen sich um Kinder, Alte und Haushalt kümmern (die Haustiere hat sie dabei noch vergessen). Wer sagt eigentlich, dass sie müssen? Wer zwingt sie dazu? Das Patriarchat, verkörpert durch den Herrn und Gebieter daheim?«7 Ganz offensichtlich hat »Franklin« ein sehr eingeschränktes Verständnis von »müssen«: Er versteht es, wie wohl viele Männer, in erster Linie als äußeren Zwang. Viele Frauen hingegen empfinden häufig Notwendigkeiten, die ihnen Pflichten auferlegen, auch wenn ein solcher äußerer Zwang nicht existiert. Eine Mutter »muss« sich ja nicht deshalb um ihr Kind kümmern, weil irgendein Dritter sie dazu zwingt oder sie ansonsten Sanktionen zu befürchten hat, sondern weil die innere Logik der Situation dies erforderlich macht.
Wie Mutterschaft jeweils konkret gefüllt wird, das ist ebenso sozial und kulturell auszuhandeln, wie die Pflichten und Rechte eines Vaters. Es darf keineswegs darum gehen, in alte Klischees von Mütterlichkeit zurückzufallen oder neue Dualismen aufzustellen. Aber genauso falsch ist es, ein quasi geschlechtsneutrales, vom weiblichen Körper und den konkreten Frauen, die Kinder geboren haben, abstrahierendes Verständnis von Mutterschaft dagegen zu setzen.
Dass dies so schwer zu denken scheint, liegt vermutlich daran, dass das Phänomen der Mutterschaft in der Regel aus der Perspektive der Mutter (und ihrer Rechte und Pflichten) angeschaut wird, und nicht aus der Perspektive des Tochter- oder Sohn-Seins. Mit dem Muttersein jedoch haben nur einige Menschen Erfahrung, nämlich diejenigen Frauen, die Kinder geboren haben. Allen Menschen gemeinsam ist hingegen die Erfahrung, von einer Frau zur Welt gebracht worden zu sein: Wir alle sind Töchter und Söhne, das heißt, wir verdanken die eigene Existenz einer ganz konkreten Frau. Eine Tatsache, die die patriarchale Kultur lange verdrängt hat, weil sie schlechterdings nicht mit der westlichen Vorstellung von der Autonomie des Individuums vereinbar war. Die aus der Hilfebedürftigkeit der Menschen folgenden Fürsorgetätigkeiten wurden keineswegs zufällig aus dem Bereich der politischen Verhandlungen verdrängt und in den familiären Bereich abgeschoben. Sie waren den Frauen (und zwar allen Frauen, nicht nur den Müttern!) als angeblich naturgegebene Pflicht auferlegt, eine Pflicht, mit der – da sie als unpolitisch definiert war – keinerlei öffentliche Autorität verbunden war.
Wenn heute, der Frauenbewegung sei Dank, dieses Modell nicht mehr funktioniert, ist es wichtig, diese symbolischen Zusammenhänge zu berücksichtigen. Gerade für Frauen ist das wichtig, deren Geschlecht ja als »das gleiche« der Mutter definiert ist, und die von jeder Abwertung mütterlicher Autorität daher unweigerlich betroffen sind. Wenn wir die weibliche Freiheit ernst nehmen, dann bedeutet das, zu akzeptieren, dass Frauen ganz unterschiedliche Vorstellungen davon haben, was sie als Mütter tun: Die einen werden die Arbeit mit einem Mann teilen wollen, die anderen nicht. Die einen werden vier Kinder wollen, die anderen nur eines oder auch gar keins. Die einen werden die Betreuung ihrer Kinder öffentlichen Institutionen anvertrauen, die anderen sie selbst übernehmen. Die einen werden zum Kindergeburtstag Apfelkuchen backen, die anderen nach dem Meeting schnell zum Bäcker gehen. Und nichts davon ist per se besser oder schlechter, denn das, was für eine Mutter und ein Kind in einer konkreten Situation gut oder schlecht ist, lässt sich nicht abstrahieren und in eine allgemeine Regel gießen.
Ganz abgesehen davon, dass ja auch manche, und vielleicht irgendwann sogar viele dieser »mütterlichen« Menschen Männer sein werden. Nicht weil ein Gentest die Übereinstimmung ihrer DNA mit der des Kindes bewiesen hat oder weil das Gesetz ihnen irgendwelche »Väterrechte« zuspricht, sondern ganz einfach weil sie aktiv und eigensinnig auf eben jene mütterliche Weise des »Müssens« Verantwortung für kleine Menschen übernehmen.
In: Forum Sexualaufklärung und Familienplanung, Hrsg. von der BZgA, 3/2008
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Diese negative Einschätzung der Mutterschaft war anfangs nur einer von vielen feministischen Argumentationssträngen. Gerade im Umfeld der Kinderladenbewegung teilten viele die Analyse Beauvoirs nicht und schlugen einen anderen Weg der Vergesellschaftung vor: Nämlich ausgehend von den Erfahrungen und Vorstellungen konkreter Mütter, Erzieherinnen, Lehrerinnen einen gesellschaftlichen Umbau in Angriff zu nehmen, der die Fürsorge für Kinder als selbstverständlichen Teil des öffentlichen Lebens versteht. Die reale Benachteiligung von Müttern ist ihrer Ansicht nach lediglich eine Folge patriarchaler Strukturen, und die Lösung des Problems sehen sie daher in einer Aufwertung des mütterlichen zivilisatorischen Beitrags. Diese Argumentationsfigur ist zwar immer wieder einmal vorgebracht worden – etwa mit dem »Müttermanifest« einer Gruppe von »Grünen«-Politikerinnen im Jahr 1986, oder auch in den vielfältigen Initiativen rund um die Matriarchatsforschung. Doch letztlich stehen diese Versuche immer im Verdacht, auf ein essenzialistisches Weiblichkeitsmodell zurückzugreifen und alte, gegen die weibliche Freiheit gerichtete Müttermythen fortzuführen. ↩
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Nach dem Gender Datenreport des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend von 2004, vgl. www.bmfsj.de. ↩
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So Dagmar Vinz von der Ruhr-Universität Bochum bei einen Vortrag im August 2007 in der Evangelischen Akademie Arnoldshain. Dass es insgesamt einen leichten Anstieg des männlichen Zeitbudgets für Hausarbeit gibt, liegt ihren Forschungen zufolge daran, dass eine kleine Gruppe von cirka fünf Prozent der Männer heute hauptverantwortlich Familienarbeit leistet. Diese heben den Schnitt für die Männer insgesamt leicht an. Rechnet man aber diese »neuen Väter« heraus, so ergibt sich für den Rest der Männer wieder eine rückläufige Entwicklung. ↩
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Vgl. dazu insbesondere Barbara Duden: Der Frauenleib als öffentlicher Ort. Vom Missbrauch des Begriffs Leben, Mabuse-Verlag, Frankfurt 2007. ↩
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Luisa Muraro: Die symbolische Ordnung der Mutter. Christel-Göttert-Verlag, Rüsselsheim 2006 (Erstausgabe 1991). Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben. Piper, München 1998 (Erstausgabe 1958). ↩
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Dass es kulturell noch aussteht, »Vätern einen Platz zu geben« und dass es dafür nicht reicht, Vaterschaft einfach mit Mutterschaft gleichzusetzen, hat kürzlich Andrea Günter ausgearbeitet. Andrea Günter: Vätern einen Platz geben. Christel-Göttert-Verlag, Rüsselsheim 2007. ↩
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http://www.femdisk.com/includef.php?path=forum/showthread.php&threadid=1046, 26.6.2008. ↩