Marta und Maria
Über die Einheit von Handeln und Denken
Lk 10, 38-42: in der Übersetzung der »Bibel in gerechter Sprache«: »Als sie sich aufmachten, ging er – also Jesus – in ein Dorf. Eine Frau namens Marta nahm ihn auf, und bei ihr war ihre Schwester, die hieß Maria. Diese setzte sich zu den Füßen des Herrn und hörte sein Wort. Marta war aber vom vielen Dienst beunruhigt. Sie trat herzu und sagte: »Herr, kümmert es dich nicht, dass meine Schwester mich allein zurücklässt, um zu dienen? Sprich mit ihr, damit sie mit mir zusammen Hand anlegt!« Jesus antwortete und sprach zu ihr: »Marta, Marta, du sorgst dich und lärmst über die Vielheit. Eines aber ist nötig. Maria hat das gute Teil gewählt, das wird man nicht von ihr wegnehmen.«
Diese Geschichte von Maria und Marta ist eine Geschichte über Wirtschaftspolitik. Wirtschaft, das bedeutet nämlich die gemeinsame Organisation der Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse. Und genau um diese Frage geht es in der Geschichte: Welche Bedürfnisse haben die Menschen? Wie können wir sie am besten befriedigen? Wie teilen wir uns dabei die Arbeit auf?
Marta ist beunruhigt, weil sie so viel zu tun hat. Wird das Essen rechtzeitig fertig? Wird es genug sein für alle? Wird es ihnen auch schmecken? Werden alle einen Sitzplatz finden und wird es genug Teller geben? Ihre Schwester hingegen scheint sich darüber keine Sorgen zu machen. Sie setzt andere Prioritäten.
Eine Geschichte über Wirtschaftspolitik ist das, auch wenn Ihnen das vielleicht auf den ersten Blick gar nicht in den Sinn kommen mag. Wir haben uns ja angewöhnt, unter »Wirtschaft« nicht so etwas Alltägliches wie Essen kochen und Tisch decken zu verstehen, sondern etwas eher Abgehobenes. Wirtschaft, das sind Zahlen, Bilanzen, Männer in Schlips und Anzug, die Dinge reden, die wir nicht verstehen.
Diese Welt der »offiziellen Wirtschaft«, wie ich sie gerne nenne ist, wie Sie alle wissen, noch immer eine Männerwelt. Allerdings eine, zu der Frauen heute vehement Zugang verlangen, und das ist auch gut so. Aber es sollte dadurch nicht der falsche Eindruck entstehen, dass Frauen bislang am Rande der Wirtschaft gestanden hätten.
Die Geschichte von Marta und Maria führt uns nämlich vor Augen, dass Frauen schon immer und überall mitten im Zentrum der Wirtschaft stehen, also da, wo Menschen arbeiten, erfinden, herstellen, reparieren, um ihre Bedürfnisse nach Nahrung, Wohnung, Kleidung, Bequemlichkeit und Luxus befriedigen zu können. Was ist das Lebensnotwendige? Welche Bedürfnisse haben Menschen? Und wie können wir sie am besten erfüllen? Das sind die zentralen Fragen, um die Marta und Maria streiten, und es sind eben auch die zentralen Fragen der Wirtschaftspolitik.
In der Geschichte von Maria und Marta wird klar, dass sich die menschlichen Bedürfnisse, die das Wirtschaften, die Ökonomie, befriedigen soll, nicht auf das reine Überleben beschränken. Sowohl Maria als auch Marta streben darüber hinaus. Nachdem das reine Notwendige getan ist, will jede von ihnen noch mehr. Marta will, dass die Gäste nicht nur satt werden, sondern dass es ein schönes Fest wird, dass alle immer genug zu essen und trinken vor sich stehen haben, dass es an nichts mangelt. Maria hingegen will auch geistige Nahrung, interessiert sich für die Ideen und Theorien ihres Gastes.
Wirtschaft, so lehren uns Maria und Martha, ist mehr als die Sorge für das bloße Überleben. Menschen haben auch das Bedürfnis nach Schönheit, nach Überfluss. Es müssen manchmal Feste gefeiert werden, manchmal muss es verschwenderisch zugehen – und zwar nicht im egoistischen Verprassen, sondern im gemeinsamen Verzehren des Erarbeiteten. Vielleicht haben Sie schon einmal von der Ökonomie der Frauen in Juchitan, in Mexiko gehört, wo es regelmäßig große Feste gibt, zu denen alle eingeladen sind, und die die wohlhabendsten Frauen ausrichten. Eine schöne Art und Weise, zu viel »Kapitalakkumulation« und damit soziale Ungleichheit zu verhindern. Vielleicht ist diese Kunst des gemeinsamen Verschwendens tatsächlich eine eher weibliche Praxis. Inwiefern das Geben, das Verschenken, ebenfalls ein wichtiger Aspekt der Ökonomie ist – neben dem Tausch – und dass diese Kunst des Gebens, wozu auch das Einladen und Bewirten von Marta gehört – ein wichtiger Teil der Ökonomie ist, ohne die auch das Tauschen nicht gut funktionieren kann, hat Dorothee Markert in ihrem Büchlein »Fülle und Freiheit in der Welt der Gabe« beschrieben, für alle, die sich für das Thema weiter interessieren.
Während Marta uns also lehrt, dass zum Wirtschaften nicht nur Effizienz und die Sorge für das Notwendige gehört, lehrt Maria uns, dass die Befriedigung der Lebensbedürfnisse niemals nur eine körperliche, sondern immer auch eine geistige Angelegenheit ist, beide Komponenten kommen dabei zusammen. Essen muss nicht nur zubereitet werden, es muss auch serviert und gegessen werden, das geht nur in Gemeinschaft. Je besser die Gespräche und der geistige Austausch, desto besser schmeckt auch das Essen. Ein noch so köstliches Mahl schmeckt nicht, wenn es mir vom Roboter hingestellt wird. Aber ein einfaches Käsebrot, in fröhlicher und freundschaftlicher Runde zu sich genommen, kann ein wahrer Festtagsschmaus sein.
Die Bibel erzählt nun von einem Konflikt zwischen Maria und Marta. Marta klagt darüber, dass sie ihre mühsame Arbeit für die großzügige Befriedigung der Bedürfnisse aller, alleine tun muss und dass Maria ihr nicht dabei hilft, weil sie lieber hören will, was ihr Gast zu sagen hat. Leider wissen wir nicht, was Maria auf den Vorwurf antwortet. Vielleicht hatten die Schwestern diesen Streit schön öfter, es sieht fast so aus, denn Marta nutzt ja die Gelegenheit, um ihren Gast, also Jesus, sozusagen als Schiedsrichter anzurufen. Er soll Maria auffordern, ihr zu helfen. Allerdings antwortet Jesus anders, als Marta es wohl erwartet hat: Er verteidigt nämlich Maria und sagt, sie habe das gute Teil gewählt.
Die feministische Auslegungsgeschichte dieses Bibeltextes ist zwiespältig. Anfangs, als Frauen darum kämpfen mussten, sich aus der traditionellen Hausfrauenrolle zu befreien, sahen sie diese Geschichte als Bestätigung ihres Kampfes um mehr Gleichberechtigung: Sagt doch sogar Jesus, dass es besser ist, intellektuelle Gespräche mit Männern zu führen, als in der Küche zu stehen.
Später aber kam die Kritik an der implizit damit verbundenen Abwertung weiblicher Tätigkeiten. Die Zurechtweisung Martas und die Bevorzugung Marias hinterließen einen schalen Beigeschmack. Maria geriet sozusagen in den Verdacht, nicht frauensolidarisch zu sein und sich männlichen Werten anzupassen.
In diesem Zwiespalt kommt meiner Meinung nach weniger der eigentliche Konflikt zwischen Maria und Marta zum Ausdruck, als vielmehr ein typisches Problem des Frauseins am Ende des Patriarchats. In gewisser Weise projizieren wir ja immer unsere eigenen Fragestellungen in die alten Biblischen Texte hinein. Und der Konflikt Hausfrau – gelehrte Frau ist eben ein Konflikt, der seit der Neuzeit, also seit etwa dem 17./18. Jahrhundert, unsere Gemüter bewegt.
Die patriarchale westeuropäische Kultur sortierte nämlich Frauen und Männer strikt in getrennte Sphären der Welt ein – die Frauen ins Haus und ins Private, die Männer in den Beruf, die Politik und das Öffentliche überhaupt – und ordnete dann die eine Sphäre der anderen über. Und nur das öffentliche, das männliche, interessierte die Wissenschaftler. Bis heute haben zum Beispiel die Wirtschaftswissenschaften die Hausarbeit überhaupt nicht auf ihrer Rechnung. Weil diese Arbeiten dem weiblichen Gebiet, das als nicht-öffentliches, privates Gebiet definiert wurde, zugeordnet sind, flossen sie einfach nicht in die Bilanzen ein. Nur die Erwerbsarbeit zählte als Arbeit, der ganze Bereich der Fürsorgearbeit, so dachte man, erledigt sich irgendwie von selbst, oder irgendwelche mysteriösen »helfenden Hände« kümmern sich darum.
Heute ist das Problem, dass diese »helfenden Hände« aussterben. Frauen haben nämlich erfolgreich gegen diese Hierarchien protestiert und ihre Emanzipation erkämpft, sie haben heute Zugang zu den »höheren« Sphären der Erwerbsarbeit, der Politik und der Öffentlichkeit. Allerdings bleibt dabei eine Frage unbeantwortet: Wenn die Frauen jetzt dasselbe machen, wie früher nur die Männer – wer soll eigentlich die Arbeit machen, die die früher die Frauen gemacht haben? Das bleibt noch immer im Dunkeln. Die Emanzipation hat zwar den einzelnen Frauen mehr Chancen und Wahlmöglichkeiten gebracht, und das ist gut so. Sie hat aber an dieser strukturellen Unterordnung des so genannten »Weiblichen« unter das »Männliche« nichts geändert, im Gegenteil.
Es ist sogar so, dass der Glaube an die Erwerbsarbeit als Zentrum der Ökonomie eher noch mehr gewachsen ist. Denn der Kampf der Frauen für den Zugang zum Arbeitsmarkt wurde doch allzu rasch umgemünzt in ihre Einverleibung in das Heer der »Human Ressources«, die der Wirtschaft bitteschön flexibel zur Verfügung stehen sollen. Hausarbeit und Kindererziehung und Fürsorgearbeit gelten weiterhin als Privatsache, und auch der Ausbau von Kinderkrippen ändert daran nichts Grundsätzliches. Nichts deutet zum Beispiel darauf hin, dass dafür auch die Arbeitsbedingungen auf dem Erwerbsarbeitsmarkt ändern. im Gegenteil: Dort wird die Arbeitssituation immer angespannter. Wo wird denn heute noch die 40-Stunden-Woche eingehalten? Überall müssen wir doch flexibler sein, rund um die Uhr leistungsbereit und so fort – also ich stelle es mir sehr stressig vor, voll zu arbeiten und kleine Kinder zu haben. Selbst mit Kinderkrippe und tatkräftigem Ehemann. Es ist ja oft auch ohne Kinder schon stressig, bei der heutigen Geschwindigkeit im Beruf mitzuhalten.
Aller Emanzipation zum Trotz steht im Zentrum unserer »Wirtschaft« weiterhin nicht die Befriedigung der Lebensbedürfnisse der Menschen im Mittelpunkt, sondern der »Markt« der Zahlen und Bilanzen. Und nur wer dort seine Arbeitskraft verkaufen kann, wird überhaupt als wirtschaftender Mensch angesehen und ernst genommen. Das meine ich mit der bleibenden Unterordnung des Weiblichen unter das Männliche, an dem sich trotz aller Gleichstellung der Frauen nichts geändert hat. Fürsorgearbeit ist irgendwie »nebenbei« zu erledigen, vielleicht hilft ja die Oma mit, oder es kommt die ukrainische Putzfrau, oder die Frau macht halt Doppelschichten. Auf die Männer würde ich die Hoffnung eher nicht setzen, jedenfalls zeigen neuere Zeitstudien, dass ihr Anteil an Hausarbeit wieder rückläufig ist, von den ungefähr 5 Prozent »neuer Väter«, die es ja tatsächlich auch gibt inzwischen, einmal abgesehen.
Der Punkt, der für unser Thema heute wichtig ist, ist der, dass Jesus, Maria und Marta von dieser ganzen Diskussion natürlich nichts wissen konnten. In antiken Gesellschaften gab es nämlich noch nicht diesen Unterschied zwischen Erwerbsarbeit und Hausarbeit, den wir vor Augen haben. Damals arbeiteten beide, Frauen und Männer gleichermaßen, wenn es natürlich auch eine geschlechtsspezifische Arbeitsteilung gab. Aber speziell das Dienen zum Beispiel, von dem Marta so beansprucht ist, war eine Aufgabe beider Geschlechter, auch Jesus kam ja, um zu dienen, das griechische Wort Diakonie bedeutete das Arbeiten für andere, für das Gemeinwohl, und es umfasste alle möglichen Tätigkeiten, auch das Leiten einer Gemeinde zum Beispiel. Jesus, Maria und Marta wussten also noch nicht, dass das bürgerliche Patriarchat später den Konflikt der Schwestern, nämlich den zwischen körperlicher-praktischer Arbeit auf der einen und geistiger Arbeit auf der anderen Seite, zu einem Konflikt der Geschlechter machen würde.
Jesu Urteil, Maria habe das gute Teil erwählt, ist deshalb auch keine Aufforderung an Frauen, männlichen Idealen nachzustreben. Und wenn er die Klagen Martas zurückweist, hat das nichts mit der Geringschätzung von weiblicher Haus- und Familienarbeit zu tun. Ich glaube eher, dass Jesus folgendes sagen will: Wenn etwas sehr Wichtiges geschieht, muss man diese Gelegenheit nutzen. Dann kann die Alltagsarbeit auch mal liegen bleiben. Er will sagen, dass man sich bei all dem Funktionieren im Alltag offen halten soll für Unvorhergesehenes, für Neues. Dass zwischen dem Vielen, das Menschen wie Marta beunruhigt, den Details und den Anforderungen und der Komplexität der Welt, das Eine, das Maria wählt, nicht aus den Augen verloren werden darf: Der Sinn, den das Ganze hat. Warum machen wir all das, was wir machen? Ist es wirklich so wichtig, wie es uns scheint? Oder haben wir uns nur einfach so dran gewöhnt, dass wir es uns gar nicht mehr anders vorstellen können?
Marias Handeln ist auch ein Sinnbild der Fülle, der Verschwendung. Man könnte sagen, die Geschichte geht darum, wer die bessere Verschwenderin ist, Marta oder Maria. Also diejenige, die immer noch ein Faß Wein und noch einen Braten auf den Tisch bringt, oder diejenige, die sich an Worten, an Gedanken und an Diskussionen berauscht.
Vor allem der Evangelist Johannes macht diesen Aspekt stark. Er identifiziert unsere Maria mit derjenigen Maria, die Christus gesalbt hat – also die Verschwenderin der Bibel par excellence. Vielleicht erinnern Sie sich an die Geschichte: Eine Frau kommt kurz vor der Verhaftung Jesu und salbt ihn mit kostbarem Öl, die Jünger beschweren sich: Was für eine Verschwendung, hätte sie doch das Öl verkauft und das Geld den Armen gegeben. Und Jesus antwortet: Die Armen habt ihr jederzeit, mich aber nicht. Er stellt sich also auch in dieser Geschichte auf die Seite der Verschwenderin, und Johannes will uns auf diese Parallele aufmerksam machen, indem er beide Frauen zu einer Person macht.
Aber mal abgesehen davon, ob die beiden Verschwenderinnen wirklich historisch die ein und dieselbe Person sind, wird klar, worum es geht: Maria hört Jesus zu, statt noch mehr Essen für die Gäste zuzubereiten. Sie verschwendet kostbares Öl, um Christus zu salben, statt das Geld den Armen zu geben. Das heißt: Wenn man immer nur funktioniert, immer nur die Erwartungen der anderen erfüllt, immer nur die Notwendigkeiten und Sachzwänge im Blick hat, es immer nur allen recht machen will, könnte man möglicherweise den Messias verpassen. Maria, die Verschwenderin ist es, die in Jesus den Gesalbten, also den Messias erkennt – gerade weil sie nicht auf den Pfennig schaut, weil sie sich nicht für alles zuständig fühlt, weil sie nicht glaubt, dass die ganze Welt auf ihren Schultern ruht. Den Messias zu sehen, Gott zu erkennen, das heißt, zu wissen, dass es einen Sinn gibt, der außerhalb des Funktionierens liegt. In der Faszination für neue Ideen, für fremde Menschen, in der Begegnung mit dem Unvorhergesehen, im Träumen hin auf das noch nicht Dagewesene, in dem Begehren, das uns nicht in den Grenzen des schon Gedachten und schon Erprobten festhält, sondern uns darüber hinaus führt.
Eine große Vordenkerin für die Notwendigkeit des Überschreitens der vorgegebenen Grenzen, wäre in diesem Jahr 100 Jahre alt geworden, Simone de Beauvoir. Simone de Beauvoir hat dieses Begehren nach etwas anderem, dieses Hinauslehnen aus der bestehenden Welt, in eine sehr radikale Philosophie gegossen, den Existenzialismus. Während die Religionen dieses Jenseits, das über die vorgegebenen Grenzen der Welt hinausgeht, Gott nennen, hat Beauvoir es innerhalb der Menschen selbst angesiedelt. Denn sie hat gesehen, dass Religionen allzu oft Gott als Vorwand nehmen, um gerade nicht die Offenheit für das Unbekannte, das Andere zu predigen, sondern um im Gegenteil Menschen innerhalb ihrer Grenzen festzuhalten: Indem Kirchen oder Religionsoberhäupter, meistens Männer, behaupten, sie wüssten ganz genau, was Gott will, welches seine Gebote sind und was wir tun müssen, um uns gottgefällig zu verhalten. Das ist blasphemisch, weil sie nämlich die Offenheit des Göttlichen, seine Unverfügbarkeit, nicht akzeptieren, und deshalb viele Menschen in der Religion gerade keine Befreiung finden, keinen Wagemut, kein Überschreiten, sondern im Gegenteil zum bloßen Funktionieren verführt werden.
Simone de Beauvoir hat daher gesagt: Es liegt an uns Menschen selbst, diese Welt zu transzendieren, zu überschreiten. Und sie hat dies vor allem den Frauen ans Herz gelegt, die nämlich zu ihrer Zeit ganz besonders zum bloßen Funktionieren angeleitet wurden, durch eine Mädchenerziehung zum Beispiel, die den Mädchen einredete, ihr Lebensinhalt sei es, sich für andere aufzuopfern, statt die Welt verantwortlich zu gestalten und auch zu verändern.
Simone de Beauvoir sah das wesentliche Handicap der Frauen in ihrer Verantwortung für Erziehung, für Fürsorge- und Hausarbeiten. Sie dachte, wenn Frauen erst wie Männer hinausziehen in das Erwerbsarbeitsleben, hätten sie sehr viel bessere Möglichkeiten, aktiv Welt gestaltend zu handeln. Heute müssen wir das wohl etwas skeptischer sehen. Denn die Verführung des einfach nur Funktionierens ist keineswegs nur im Haushalt zu finden. Manchmal habe ich den Eindruck, dass heute sehr viele Menschen, Männer und Frauen, gerade am Arbeitsplatz nur noch funktionieren und die Erwartungen anderer erfüllen. Ihnen allen, Männern wie Frauen, stellt Jesus Maria als Vorbild hin: Bleibt bei allem Alltagstrott aufmerksam und offen für die Möglichkeit, dass etwas Außergewöhnliches geschieht. Nehmt euch dann die Zeit dafür und schiebt nicht vermeintlich dringendere Aufgaben vor. Findet einen Sinn im Leben, der die reine Sorge für die Bedürfnisse anderer, der Kinder, der Familie, aber auch für die Aktenberge, die ungelesenen Emails, die Erwartungen von Chefs und Kollegen, die aktuellen Bilanzen und Zahlen und Projektpläne, überschreitet.
Vielleicht ist es doch kein Zufall, dass in der Bibel diese Geschichte am Beispiel zweier Frauen, von Maria und Marta, erzählt wird. Denn ich glaube, dass Frauen gerade hier wichtige Vordenkerinnen sind. Einerseits neigen sie offenbar nicht so sehr wie Männer dazu, bei all der Sinnsuche und dem Streben nach Höherem die konkreten Notwendigkeiten zu vergessen. Denn diese Gefahr besteht natürlich. Über Jahrhunderte hinweg hat die männliche Philosophie Freiheit als Unabhängigkeit und Autonomie definiert, hat also geglaubt, dass der Mensch nur dann frei ist, wenn er von seinen Bedürfnissen, vor allem auch den Körperlichen, unabhängig ist. Daraus folgten eine Menge falscher Gegenüberstellungen, von Körper und Geist, von Kultur und Natur, nicht zuletzt eben auch von Männlichem und Weiblichem. Die weibliche, feministische Philosophie hingegen arbeitet daran, Freiheit anders zu verstehen, für eine »Weltsicht der Freiheit in Bezogenheit«, wie zum Beispiel ein Buchtitel heißt. Die Körperlichkeit des Menschen, die Abhängigkeit von anderen, in der wir allesamt ein Leben lang stehen, das Eingebundensein in ein »Bezugsgewebe der menschlichen Angelegenheiten«; wie Hannah Arendt es genannt hat – all das ist nach Überzeugung vieler Philosophinnen keineswegs ein Hindernis, ein Handicap für die Freiheit. Sondern nur in dieser Abhängigkeit können wir frei sein – und das gilt dann auch für alle, die für andere sorgen, die Fürsorgearbeiten leisten, und die insofern »co-abhängig« sind, wie es die amerikanische Philosophin Marta Fineman formuliert.
Aber Frauen haben, so wie unsere Kultur sich entwickelt hat, noch einen anderen Vorteil. Sie sind auch offener für das Unvorhergesehene, sie überschätzen sich nicht so leicht selbst. Auch dies wird in der Geschichte von Maria und Marta deutlich. Das neue, das Unvorhergesehene, das, was die Grenzen der Welt, so wie ich sie vorfinde, sprengt, das findet Maria nicht in der Forschung, nicht in der Wissenschaft, nicht im Teleskop, sondern im Gespräch, in der Beziehung zu einem anderen Menschen. Die männliche Wissenschaft hat in der Vergangenheit bekanntlich bei ihrem Streben nach Grenzüberschreitung so manche Zerstörung angerichtet, weil ihr Forschen sehr abstrakt, sehr losgelöst vom konkreten Alltagsleben war. Das Suchen im Detail ließ ihnen oftmals den Sinn für das Ganze und den Zusammenhang abhanden kommen.
Doch das Neue, das Unbekannte, das, was diese Welt vielleicht besser macht, das wartet auf uns nicht im Atomkern oder auf dem Mars oder in der Entschlüsselung der Gene, und wir finden es auch nicht im Genie des originellen Denkers, der alleine an seinem Schreibtisch sinniert, während seine Frau ihm das Essen kocht und das Kindergeschrei vom Hals hält. Sondern wir finden es mitten im Leben, zwischen uns, im Gespräch mit anderen Menschen. Wir müssen dafür kein Personal anstellen, keine illegalisierte Klasse von zweitrangigen Menschen erfinden, keine unterbezahlten und ausgebeuteten Krankenschwestern und Putzfrauen, auf die wir die Probleme der Bedürftigkeit und der Körperlichkeit heute abschieben, so wie früher auf die rechtlosen Hausfrauen. Das wäre ja so, als würden Jesus und Maria Marta von ihrem Gespräch ausschließen, als würden sie Marta in die Küche verbannen, damit sie selbst in Ruhe diskutieren können ohne sich um ihren Hunger und um ihren Körper kümmern zu müssen. Nein, Marta ist eingeladen, mitzudiskutieren, und dann tun es heute auch mal Butterstullen, weil die Diskussion gerade so interessant ist. Dann bleibt dieser Aktenstapel heute mal unbearbeitet, dann bleibt das Handy mal ausgeschaltet, dann geht das neue Angebot eben erst morgen raus.
Aber, und das ist wichtig: Diese Freiheit habe ich nur, wenn ich weiß, dass diese Pflichten bleiben, dass der Aktenstapel irgendwann bearbeitet werden und das Angebot geschrieben werden muss, dass man nicht jeden Tag Butterstullen essen kann, und dass die Wäsche nicht von selber wieder sauber wird. Auch Maria muss irgendwann wieder dienen, arbeiten, die Teller müssen gespült werden, und auch die Diakonie, die Sorge für die Armen, bleibt uns erhalten und lässt sich nicht wegdiskutieren. Die Freiheit für das Neue können wir uns nur leisten, wenn wir wissen, dass wir gleichzeitig alle diese anderen Arbeiten machen müssen, oder aber diejenigen, die dafür zuständig sind, gut bezahlen. Wenn also die Haus- und Fürsorgearbeit einen zentralen Platz in der Wirtschaftspolitik hat, anstatt immer weiter in den Bereich des Privaten verbannt oder ganz dem freien, neoliberalen Markt ausgeliefert zu werden.
Menschliche Verantwortung für die Welt bedeutet, dass beides in eine Balance gebracht werden muss, und zwar von jedem und jeder von uns. Dass wir nach Höherem streben können, ohne den Alltag aus den Augen verlieren müssen, und dass der Alltag uns keineswegs davon abhält, in Freiheit für eine Änderung der Verhältnisse einzutreten.
Und das heißt auch, dass es nicht darum geht, welche Frau die Bessere ist, Maria oder Marta sondern darum, diesen Streit der beiden, das Ringen um eine gute wirtschaftliche Praxis nämlich, auch in unserem eigenen Leben immer wieder neu zu führen.
Predigt in der Reihe »Gotteskünderinnen« in Aalen, 3.3.2008, und
Vortrag am 30.4.2008 im Bibelhaus Frankfurt