Von Muggels und Zauberern –
Magie in Religion und Alltag
Silke: Zaubern ist die Wirklichkeit zu verändern. Wünsche so deutlich werden zu lassen, dass sie wahr werden.
Jürgen: Ich praktiziere das einfach, das heißt, wenn ich irgendwo bei Aldi an der Schlange stehe, dann weiß ich, ich muss da nur so'n bisschen warten und dann macht gleich die nächste Kasse auf. Dann sag ich zum Magier, ich will jetzt nicht warten, ist langweilig, und schon kommt ne Verkäuferin und macht die nächste Kasse auf, und sofort komm ich dann dran.
Duke Meyer: Also Magie ist für mich nicht was, was man im kleinen Kämmerchen betreibt, wo man irgendwelche seltsamen Dinge tut, sondern das ist ne Energie, die ist im Alltag einfach da.
Matthias Pöhlmann: Magie hat immer mit Macht zu tun, die Vorstellung nämlich, dass der Mensch auch bestimmte Wirkungen erzielen kann durch die Einwirkung auf bestimmte Gegenstände und eben auch hier bestimmte Kräfte erzielen und bewirken kann.
Eine Zeitlang sah es so aus, als hätten die westlichen Gesellschaften der Magie den Garaus gemacht. Unsichtbare Kräfte, Zauberformeln und Rituale, mit denen man auf die Welt einwirken kann – das sei doch alles Humbug. Der moderne, aufgeklärte Mensch akzeptierte nur eine Art und Weise, die Welt zu beeinflussen: Sie in ihre kleinsten Einzelteile auseinander zu nehmen und dann nach eigenem Belieben wieder zusammenzusetzen. So entstanden die verschiedenen Wissenschaften, von der Mechanik über die Physik und die Biologie bis zur Psychologie oder Soziologie. Für jedes Phänomen gibt es eine logische Erklärung, eine Ursache. Wenn etwas Übersinnliches, Unerklärbares geschieht, ist es ein Trick oder eben noch nicht gut genug erforscht.
Seit »Harry Potter« gibt es für solche Menschen ein Wort: Es sind die Muggels. Muggels können nicht zaubern, deshalb müssen sie in einer Welt voller technischer Geräte leben. Selbst wenn direkt vor ihrer Nase ein Zauber geschieht, schauen sie weg oder ignorieren ihn einfach, damit ihr Weltbild nicht durcheinander kommt. Ganz anders die Zauberer und Hexen. Sie wissen, dass die Dinge noch auf andere Weise zusammen hängen können, als durch Ursache und Wirkung. Sie wissen um unsichtbare Kräfte, die sie als Energieströme beschreiben oder Göttern zuschreiben, und sie wissen, wie man diese Kräfte beeinflusst. Sie kennen Zaubersprüche und Rituale, mit denen sie Dinge geschehen lassen können, auch wenn sich nicht wissenschaftlich erklären lässt, warum das funktioniert. Manche Zauberer müssen das mühsam lernen, zum Beispiel in der Zauberschule von Hogwards, andere haben ein natürliches Talent dafür, wie eben Harry Potter:
»Du bist ein Zauberer, Harry« – »Was?« – »Ein Zauberer. Und zwar ein verdammt guter, sobald du etwas Übung hast« – »Nein, bestimmt verwechselst du mich. Ich kann niemals ein Zauberer sein. Ich bin doch nur Harry« – »Sag mal, nur Harry: Hast du noch nie etwas geschehen lassen, Unerklärliches oder Rätselhaftes, wenn du wütend warst oder Angst hattest?«
Das Wort Magie stammt aus dem Persischen und war ursprünglich eine Bezeichnung für Priester, die sich nicht nur in einer Religion, sondern in vielen Religionen, Weltanschauungen und Wissenschaften auskannten. Es waren Menschen, die ein umfassendes, ganzheitliches Wissen besaßen, und die deshalb Dinge bewirken konnten, die normale Menschen nicht verstanden. Ursprünglich bildeten Wissenschaft und Magie also keinen Gegensatz, im Gegenteil, sie hingen eng miteinander zusammen. Der griechische Mathematiker Pythagoras zum Beispiel, der um 500 vor Christus lebte, war gleichzeitig auch ein berühmter Magier. Seine mathematischen Formeln verstand er in gewisser Weise als Zauberformeln: Denn sie halfen, ein komplexes Problem auf überraschend einfache Weise zu lösen. Richtig angewendet funktionieren sie mit großer Zuverlässigkeit – und zwar ganz unabhängig davon, ob derjenige, der die Formel anwendet, weiß, warum sie funktioniert.
So gesehen sind Magie und Wissenschaft einfach unterschiedliche Zugänge zur Wirklichkeit. Während die Wissenschaft die Ursachen von Phänomenen erforscht, also die Frage stellt, warum etwas geschieht, beruht Magie eher auf einem Erfahrungswissen darüber, dass etwas geschieht, wenn bestimmte Umstände gegeben sind. Ein solches »magisches« Wissen ist in vielen Kulturen traditionell im Bereich der Religion angesiedelt. Es sind die Priesterinnen und Priester, die sich mit den Riten auskennen, die um die inneren Zusammenhänge der Welt wissen, und die man daher um Rat fragen kann, wenn man selbst nicht mehr weiter weiß. Die Brasilianerin Marcela zum Beispiel ist eine solche Priesterin. Ihre Religion ist der Candomblé, eine mit den afrikanischen Sklaven nach Brasilien gekommene Naturreligion, in der magische Rituale zur Lösung von Problemen eine wichtige Rolle spielen, zum Beispiel Trance-Tänze, Orakelsprüche oder Opfergaben an bestimmte Gottheiten. Marcela ist eine gebildete Frau aus der Mittelschicht, Rationalität und Magie sind für sie keineswegs ein Widerspruch:
Das Wichtigste dabei ist die Erfahrung. Auch ich hatte anfangs viele Zweifel und dachte immer, dafür muss es doch rationale Erklärungen geben. Doch im Lauf der Zeit, mit der täglichen Erfahrung, habe ich akzeptiert, dass es nicht auf die logische Erklärung ankommt. Denn sobald du für eine Sache eine Erklärung gefunden hast, tun sich hunderte von anderen Fragen auf. Je mehr du darüber weißt, wie die Natur funktioniert, desto mehr weißt du, dass du eigentlich nichts weißt. Und es bleiben immer irgendwelche Sachen übrig, die du nicht erklären kannst. Aber trotzdem kannst du sie ein bisschen verstehen. So wie die Kinder, die nicht wissen, wie das Bild in den Fernsehapparat hinein kommt. Sie wissen aber trotzdem, dass sie diesen Knopf da drücken müssen, damit das Bild erscheint. Das ist für sie auch eine unerklärliche Sache, aber sie ist trotzdem real. Es gibt natürlich Leute, die das studieren, und die wissenschaftlich erklären können, wie das Bild in den Fernseher kommt. Aber diejenigen, die einfach nur das Programm sehen wollen, müssen das nicht wissen. Genauso haben wir keine wissenschaftliche Erklärung für viele jenseitigen, spirituellen Dinge, aber wir können sie trotzdem kennen lernen und anwenden. Und es wäre doch dumm, den Fernseher auseinander zu schrauben und zu sagen, guck doch, da ist ja gar kein Bild drin. Viel besser ist es zu lernen, wie man ihn einschaltet. Aber das braucht eben Zeit, Übung und Erfahrung.
Bis vor kurzem galten Naturreligionen wie der brasilianische Candomblé als primitiv und rückständig. Heute jedoch sind sie vor allem in Ländern der so genannten Dritten Welt wieder sehr populär. In Haiti ist der Voodoo-Kult kürzlich sogar als offizielle Religion anerkannt worden, in Brasilien übt die Religion der schwarzen Bevölkerung, die bis in die siebziger Jahre hinein streng verboten war, inzwischen auch große Faszination auf die weiße Mittelschicht aus. In Nordamerika wächst das Interesse an der Religion der indianischen Ureinwohner, und in Afrika treten Ahnenkult und Hexenglaube immer selbstbewusster auf, ebenso wie die Schamanen in Ostasien.
Die monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam dagegen stehen der Magie im Allgemeinen ablehnend gegenüber. Schon im zweiten Buch Mose steht die Aufforderung: »Die Zauberer sollst du nicht am Leben lassen«. Diese Abneigung gegen Magie beruhte nicht etwa auf der wissenschaftlichen Ansicht, dass Zauberer nur Scharlatane seien, sondern im Gegenteil auf der Angst vor dem mächtigen Wissen der Magier. Man war der Ansicht, sie pfuschten Gott ins Handwerk, rührten an Dinge, die sie nichts angehen – eine Kritik, die sich übrigens genauso gegen die Wissenschaften richtete. So stand man im alten Israel auch Fortschritten in der Medizin sehr skeptisch gegenüber, denn die Entscheidung über Krankheit und Heilung, über Leben und Tod liege letztlich bei Gott allein. Manche Historiker sehen hier eine Parallele zu den aktuellen christlichen Bedenken gegen künstliche Fortpflanzung, Klonen und Gentechnologie.
Aber hat nicht auch Jesus Wunder vollbracht? Bezeugen die Evangelien nicht an vielen Stellen, dass er Menschen heilte, sogar Tote auferweckte? Pfarrer Matthias Pöhlmann:
Der Unterschied ist, bei Jesus sind diese Wunder kein reiner Selbstzweck, es kommt das Wort hinzu und auf der anderen Seite sind diese Taten und Heilungswunder und was sich noch an Wundern ereignet hat, immer auch ein Hinweis auf das anbrechende Reich Gottes. Also er ist kein antiker Wundertäter, die gab es zu seiner Zeit in großem Maße auch, er unterscheidet sich damit, dass er eben sagt, diese Wunder sind nicht die eigentliche Botschaft, die Botschaft ist eine andere, nämlich das Anbrechen des Reiches Gottes und dass sozusagen jetzt in diesen Wundern auch ansichtig wird, dass diese Schöpfung ganz, heil und vollendet werden soll. Das ist der Unterschied.
Die Botschaft hinter den neutestamentlichen Wundergeschichten ist also nicht, dass Magie und Zauberei nicht funktioniert, sondern dass es darauf nicht ankommt. Deshalb findet sich in der Bibel auch die Geschichte vom bösen Zauberer Simon Magus, der von den Aposteln magische Macht für Geld kaufen will. Denn in der antiken Vorstellung ließ sich magisches Wissen ebenso erlernen und damit wirtschaftlich nutzen, wie heute wissenschaftliche, technische oder medizinische Kenntnisse. Doch die jüdisch-christliche Botschaft war: Die Menschen sollen lieber einsehen, dass ihre Macht klein ist angesichts von Gottes Größe. Und das, so Matthias Pöhlmann, sei im wesentlichen auch heute noch die christliche Haltung:
Da würde ich sagen, gerade im Blick auf diesen Machtaspekt, lieber Mensch, nimm dich nicht so wichtig, bleib der Erde treu, du musst nicht Gott spielen, aber gleichzeitig würde ich sagen, du, lieber Mensch, bist auch was wert vor Gott, dieser Gott traut dir auch etwas zu, und diese Botschaft von diesem christlichen Gott hat auch ganz stark zum Inhalt die Befreiung auch, Befreiung von ja selbstischen Bindungen, wenn man so will, von egozentrischen Bindungen, das macht Freiheit vor Gott und dann eben auch vor den Menschen.
Die Freiheit der Menschen gründet nach christlich-jüdisch-muslimischer Ansicht also nicht darin, dass sie die Macht haben, die Welt nach ihren Wünschen zu gestalten, sondern darin, dass sie sich in Gottes Schöpfungsplan eingliedern, dass sie nach Gottes Willen leben und nicht nach ihrem eigenen. Dass es Magie gibt, wurde dabei lange Zeit nicht bestritten. Die christliche Hexenverfolgung zum Beispiel hätte wohl kaum solche Ausmaße angenommen, wenn die kirchlichen Inquisitoren nicht ernsthaft an die magischen Kräfte der Hexen und Zauberer geglaubt hätten, die sie auf den Scheiterhaufen verbrannten. Aber das Christentum macht eben einen Unterschied zwischen Magie und Wundern. Während Magie eine menschliche Fähigkeit ist und damit auch eine Macht, Dinge zu bewirken, sind Wunder etwas, das nur Gott wirken kann. In der katholischen Kirche ist es deshalb bis heute so, dass nur Menschen selig oder heilig gesprochen werden, die Wunder bewirkt haben, in deren Umfeld also Phänomene auftraten, bei denen nachweislich die Naturgesetze außer Kraft gesetzt wurden. Denn das gilt als Beweis dafür, dass es letztlich Gottes Wille war, der das vollbracht hat, und nicht einfach Menschenwerk. So erklärt sich auch das Wort Aberglaube. Ein Aberglaube ist nicht etwa deshalb abzulehnen, weil er unwissenschaftlicher Humbug wäre, sondern weil er ein Aber-Glaube ist, also ein Glaube, der der christlichen Lehre widerspricht.
Vielleicht aufgrund ihrer langen Erfahrung mit Wundern und Magie gibt sich die katholische Kirche heute vergleichsweise souverän im Umgang mit magischen Weltbildern. Vor allem in Lateinamerika, wo sich naturreligiöse Vorstellungen durch eine jahrhundertelange Geschichte unauflösbar mit dem katholischen Glauben vermischt haben. Das sei eine Tatsache, die man einfach akzeptieren muss, meint etwa Bischof Dom Jose Carlos aus Brasilien:
Wir sind immer so logisch und intellektuell, wollen die Sachen definieren. Aber hier haben sich Seite an Seite kulturelle und religiöse Werte entwickelt, und wir wissen nicht genau, wie weit das geht, was daran authentisch ist. Wir sollten versuchen, zusammenzuleben, und den Rest Gott überlassen. Es ist nicht meine Art, darüber wissenschaftliche Diskussion zu führen, sondern ich finde es wichtiger, angesichts dieser Realität, einer historisch gewachsenen Situation, eine angemessene pastorale Praxis zu finden.
Die Evangelischen dagegen tun sich mit dem neuen Selbstbewusstsein magischer Religionsvorstellungen sehr viel schwerer. Denn die Reformation fiel zeitlich mehr oder weniger mit dem Aufkommen eines naturwissenschaftlich geprägten Weltbildes in Europa zusammen. Viel mehr als die katholische Kirche sind die Protestanten daher dem aufgeklärten Rationalismus verpflichtet. Doch auch sie sind vor dem Einfluss magischer Praktiken nicht mehr gefeit. Vor allem die pfingstlerischen, Gemeinden in Korea, Afrika und Lateinamerika praktizieren in ihren Gottesdiensten ganz offen magische Rituale. Und inzwischen mehren sich auch in den etablierten Kirchen Stimmen, die mehr Toleranz fordern. Vor allem kirchliche Frauengruppen zeigen eine neue Offenheit für spirituelle Praktiken, die über das hinausgehen, was sich mit dem Verstand erklären lässt. In feministisch-theologischen Zeitschriften wie zum Beispiel der »Schlangenbrut«, wird offen der Dialog mit neuen Heidinnen und Hexen geführt. Ritualgruppen machen sich auf die Suche nach neuen spirituellen Erfahrungen, bei denen Dinge »geschehen«, die sich nicht logisch erklären lassen. Gerade für Frauen, aber auch für manche Männer stellt der Bezug auf eine andere, emotionalere Form der Religiosität eine Alternative dar zu den oft sterilen und wortlastigen herkömmlichen Gottesdiensten.
Inzwischen hat die neue Offenheit für Magie sogar schon die ersten Bastionen der traditionellen Wissenschaft gestürmt. Anerkannte Erkenntnistheoretiker wie Paul Feyerabend sehen im westlichen Rationalismus nur eine Weltanschauung unter vielen, die ebenso von unbeweisbaren Behauptungen ausgehe wie andere. Die Metropolitan University von Leeds in England hat eine Hexe als Seelsorgerin angestellt, die Studierenden bei Prüfungsängsten helfen soll. Und die Universität von Kalifornien in den USA hat Magie als Lehrfach eingeführt und sogar schon akademische Titel für Magier vergeben. Neuere Forschungen in der Philosophie oder der Psychologie, und selbst in der Physik beschäftigen sich zunehmend mit Randbereichen, an denen magisches und naturwissenschaftliches Denken miteinander in Verbindung gesetzt wird. Und schließlich stehen in Westeuropa und Amerika Seminare und Kurse hoch im Kurs, die versprechen, magisches Wissen für den Alltag nutzbar zu machen.
Silke: Es ist ja auch im täglichen Leben so. Was man sich irgendwo wünscht, das wird irgendwo auch wahr. Es ist ne Sache, positives Denken beispielsweise, ist ne magische Technik. Wenn man immer nur pessimistisch ist und alles schwarz sieht, dann erscheint einem auch alles so, und es passieren auch genau die Dinge, die einem in dieser Sicht auch bestätigen. In dem Sinne formt man sein Universum. … Wenn man damit arbeitet und sagt ok, ich werde stark, und ich bau Selbstbewusstsein auf und werd selbstbewusst, dann sehen einen die anderen auch so. Und dann kann man auch so handeln. Das ist ne ganz einfache Form von Alltagsmagie. Ist ne magische Technik.
Silke ist eine Wicca, gehört also zu einer internationalen Hexen-Vereinigung und praktiziert magische Rituale bei sich zu Hause und in einer Frauengruppe. Für sie ist die Magie ein Zugang zum Verständnis der Welt, der eine Alternative darstellt zur rationalen, wissenschaftlichen Methode:
Um etwas wahr werden zu lassen, muss man sich sehr sehr klar darüber sein, was man will. Und es sich als Bild vorstellen, nicht als Gedanken. Das Unbewusste liebt Bilder, findet das klasse, damit kann's was anfangen, aber nicht wenn man sagt ich möchte einfach nur und bobobo, man muss es sich vorstellen können, es muss greifbar werden. Es ist egal, welche Technik man dazu benutzt, es gibt viele Techniken. Je stärker man in Trance kommt, um so leichter wird es natürlich den Zauber zu wirken, die Wirklichkeit zu verändern. Ne innere Wirklichkeit zu verändern, weil dann verändert sich auch die äußere. Das was sich in einem verändert, verändert sich auch außen. Das ist eigentlich Magie.
Während einzelne Pfarrerinnen, feministische Theologinnen und kirchliche Frauengruppen sich für solche heidnischen, magischen Zugänge zur Spiritualität interessieren und den offenen, wenn auch durchaus kritischen Dialog mit Frauen wie Silke suchen, gilt offiziell in den westlichen Kirche noch die Devise: Magie gibt es nicht. Die meisten hiesigen Christen und Christinnen teilen wohl die Einschätzung von Matthias Pöhlmann, der als Referent der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen in Berlin für das Phänomen »Okkultismus« zuständig ist. Er glaubt, dass sich magisch-spirituelle Erfahrungen in der Regel soziologisch oder psychologisch erklären lassen:
Dahinter steckt natürlich auch, gerade bei diesen magischen Erwartungen, die Sehnsucht nach einer leicht erklärbaren Weltsicht, dass ich etwas tue und damit zeigt sich eine Wirkung…. Und das ist für viele natürlich ein faszinierender Gedanke. Das Sichtbare allein macht nicht satt, man möchte mehr, und viele sehnen sich nun auch nach vielleicht übernatürlichen Fähigkeiten, um das Leben in den Griff zu bekommen, oder auch selbst sozusagen, heil zu werden, das ist ganz klar.
Doch dieser kirchliche Konsens, wonach man neuen esoterischen und magischen Tendenzen zwar mit Verständnis, aber doch höchst skeptisch gegenüber stehen soll, gilt nur noch in westlichen Gesellschaften. Christinnen und Christen aus anderen Teilen der Welt treten immer massiver für eine Öffnung gegenüber heidnischen Praktiken ein. Zum offenen Streit darüber kam es 1991 bei der Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen im australischen Canberra, als die koreanische Theologin Chung Hyun Kyung im Eröffnungsgottesdienst nach schamanischen Ritualen die Geister anrief und damit einen Skandal provozierte.
Am Anfang gab es darauf sehr heftige Reaktionen, aber vor allem von Frauen aus aller Welt bekam ich sehr enthusiastische Zustimmung, und auch viele Männern aus der Dritten Welt fanden gut, was ich da gemacht hatte. Aber die orthodoxen und konventionellen Kirchen mochten es natürlich gar nicht und erklärten meine Ideen für radikal oder häretisch. Das Interessanteste an dieser großen Debatte darüber, wie weit man in solchen Dingen gehen kann, war aber, dass offensichtlich wurde, wie sehr die Christen in Afrika, Lateinamerika oder Asien mit mir überein stimmten. Es ist die Religionsvermischung, die das Christentum lebendig hält. Ich würde sogar sagen, es ist das Heidentum, die Einbeziehung heidnischer Kulte, die das Christentum in die verschiedenen Kulturen eingliedert. Dieser Gottesdienst war für mich eine gute Erfahrung, denn jetzt weiß ich, dass es sehr viele Menschen gibt, die meine Position verstehen und mich bei dem, was ich tue, unterstützten.
Deutsche Kirchenleute sehen so viel interreligiöses Durcheinander dagegen noch immer überwiegend skeptisch. Matthias Pöhlmann:
Ich denke, es ist sicherlich verfehlt, wenn man sagt, man übernimmt das jetzt kritiklos, denn diese religiösen Praktiken sind ja sehr häufig auch verbunden mit einem bestimmten Gottes- und Menschenbild, und die Frage ist, ob man bestimmte Praktiken einfach so übertragen kan. Ich denke, es wäre sinnvoll zu sagen, diese Praktik hat eben ihren Ort, ihre bestimmte Tradition in einem religiösen Zusammenhang, und da hat sie sich entwickelt, Gleichwohl muss man sich natürlich die Frage stellen, was finden Menschen in anderen Religionen bei diesen Praktiken, z.B. um welche Bedürfnisse geht es denn hier.
Die brasilianische Religions- und Kulturwissenschaftlerin Antonietta Nunes von der Universität in Salvador de Bahia sieht in solcher Skepsis jedoch eher einen Ausdruck des typisch westlichen Wunsches, immer alles im Griff zu behalten, sich dem Unerklärbaren gegenüber nicht wirklich öffnen zu wollen.
Es geht letztlich um eine Frage von Verstand gegen Gefühl. Unsere Religionen sind viel emotionaler als die in Europa und den angelsächsischen Ländern. Dort gibt es eine Überbewertung des Rationalen. Sich auf eine Sache einzulassen, die wesentlich auf Gefühlen und Emotionen beruht, erscheint westlich geprägten Menschen einfach nur verrückt. Sie stellen sich dann vor, dass sie dabei den Kopf verlieren, dass sie sich nicht mehr unter Kontrolle haben. Es ist eine Frage von unterschiedlichen Kulturen. Die westlichen Leute tun sich einfach schwer mit solchen Praktiken, und deshalb können sie sie auch nicht verstehen. Das ist, als ob man verschiedene Sprachen spricht.
Ganz abgesehen von solchen kulturellen Unterschieden, bei denen auch die meisten Kirchenleute heute für einen offenen und toleranten Dialog plädieren, sorgt sich Pöhlmann jedoch um den aktuellen Magie-Boom unter deutschen Jugendlichen, der nichts mit altem kulturellen Wissen um den Zusammenhang der Welt zu tun hat, sondern eher mit wirtschaftlichen Interessen und der Vermittlung von Illusionen.
Neuerdings, das ist so der neue Trend im Bereich der Jugendkultur, der Jugendszene, erscheinen immer mehr Hexenbücher für die Girlie-Hexe von heute, werden dann auch richtige Rezeptbücher gegeben, angefangen vom Liebeszauber, was man da tun kann, was kann man tun bei Schulproblemen z.B., wie bekommt man den Dreamboy, und diese Bücher erscheinen jetzt also auch in bekannten Taschenbuchverlagen, und werden offenbar auch gekauft und gelesen.
Auch im Internet gibt es jede Menge Hexen- und Magieforen, in denen Gleichgesinnte miteinander diskutieren. Zum Beispiel darüber, wie man das eigene Zimmer »magisch« gestalten kann: Kräuterbüschel am Fenster, Räucherkram, in der Ecke einen Altar. Aber auch ernste Fragen werden dort diskutiert: Liegt es an einem unbedachten Fluch, dass der Vater plötzlich Haarausfall kriegt? Wie kann ich den neuen Freund wieder loswerden, den ich per Liebeszauber an mich gebunden habe, der mir jetzt aber doch nicht gefällt? Auf jeden Fall ist der neue Magie-Boom ein gutes Geschäft für Buchverlage und Internet-Shops. Die verkaufen Ritualsets mit Kerzen, magischen Ölen, Weihrauch und Räucherkohle, detaillierte Anleitung für ein Ritual inklusive. Zaubersets gibt es für die Steigerung des Selbstbewusstseins, zur Förderung von Gesundheit und Kreativität, natürlich auch für mehr Geld oder für die Liebe. Die Preise sind auch für den Geldbeutel der Schülerin erschwinglich, je nach Umfang und Größe muss man 10 bis 40 Euro berappen. Ganz bewusst spielen diese Angebote mit einem ironischen Unterton, es bleibt offen und unverbindlich, ob das alles wirklich ernst gemeint ist.
Ich denke, in unserem Alltag sind wir ja auch ohnehin sehr empfänglich für magische Vorstellungen. Man muss nicht meinen, dass das jetzt unbedingt so fernab von uns ist. Die Frage ist, wann beginnt Magie, wann hört sie auf, denken wir nur mal daran, dass man ein best Kleidungsstück vielleicht anzieht und sich darin wohl fühlt und denkt damit hat man also mehr Wirkung oder hat mehr Erfolg im Beruf, manchmal sind das ja auch so Irrationalismen,
Und es sind keineswegs nur Jugendliche, die solch augenzwinkernde Faszination für alles Magische verspüren. Da gibt es Lehrerinnen, die nicht mehr ohne einen bestimmten Stein in der Hosentasche aus dem Haus gehen, weil sie davon überzeugt sind, er mache sie selbstbewusster. Der Maler Pablo Picasso soll jedes Mal, bevor er das Haus verließ einen kleinen Ritus abgehalten haben, damit er auch ja gesund zurück kehrt. Auch völlig unreligiöse und un-esoterische Menschen schwören Stein und Bein auf ihre kleinen magischen Hilfsmittel, wie etwa der Sozialarbeiter Jürgen, der behauptet: Seit er eine Kette mit einer kleinen magischen Figur um den Hals trägt, findet er immer prompt einen Parkplatz. Warum, das interessiert ihn nicht, Hauptsache es funktioniert.
Ich möchte darüber keine Bücher lesen, weil wenn ich ein Buch darüber lese, wo das eigentlich erklärt wird, warum das so funktioniert, dann denk ich, dass ich da nicht mehr dran glauben würde. Weil eigentlich glaub ich, dass man das so rational nicht erklären kann. Es funktioniert einfach. Man muss einfach dran glauben, das ist alles.
Eine solche Herangehensweise an Zauberei, frei nach dem Motto: ‚Wenn’s funktioniert, ist es gut, wenn nicht, auch egal’, ist jedoch das genaue Gegenteil von echter Magie. Denn die zeichnet sich gerade dadurch aus, dass sie nicht mal so eben erlernt werden kann, sondern dass dahinter ein in Jahrhunderten erworbenes und von Generation zu Generation weiter gegebenes Wissen und lange persönliche Erfahrung steht. Deshalb kann auch Fabio, ein Anhänger des brasilianischen Candomblé-Kultes, solche westliche Mode-Magie nicht wirklich ernst nehmen
Nur die Priesterinnen wissen genug über die Religion, um den Kult ausführen zu können. Die Zusammenhänge zwischen den einzelnen Riten sind so komplex, es gibt dabei so viele Dinge zu beachten, es ist fast unmöglich, alle Geheimnisse, alle Riten, alle Erscheinungen und Opfergaben zu kennen. Für jeden Anlass gibt es ein anderes Essen, andere Rituale, andere Gesänge, das ist nicht so, dass du das mal eben in einem Buch oder in einer Broschüre nachlesen kannst und dann weißt, wie es funktioniert. Du musst wirklich damit leben. Es gibt Leute, die schon sehr lange in einer Candomblé-Gemeinde leben, und noch immer nicht genug Wissen haben, um einen Ritus richtig auszuführen, denn es ist sehr schwierig.
Geradezu entsetzt über den unbefangenen westlichen Umgang mit magischen Vorstellungen war auch eine Afrikanerin, nachdem sie den Film Harry Potter gesehen hatte. All die Geister, die dort beschworen wurden, sagte sie: Wie wollt ihr die eigentlich wieder los werden? Das Beispiel zeigt, dass der derzeitige Zauber-Boom in der Folge von Harry Potter und Co. tatsächlich nur beweist, dass in den westlichen Gesellschaften noch immer kaum jemand wirklich glaubt, dass Magie funktioniert. Aber die Faszination ist unbestreitbar groß – vielleicht gibt es ja doch mehr zwischen Himmel und Erde, als unser Verstand sich vorstellen kann.
Radiosendung, hr2, 19.6.2003