Macht und Politik sind nicht dasselbe
In: Graswurzelrevolution, Nr. 374/Dezember 2012
In den Gründungstagen der europäischen Arbeiterbewegung, zur Zeit der Ersten Internationale in den 1860er Jahren, war eine der Kontoversen, die zwischen dem marxistischen und anarchistischen Flügel ausgetragen wurde, die Frage, ob sich die Arbeiterbewegung in Form einer politischen Partei konstituieren soll oder nicht.
Die marxistische Position, die die Gründung von „Arbeiterparteien“ unterstützte – die es in Deutschland oder in England auch bereits gab – argumentierte damit, dass politische Veränderungen sich nur innerhalb der bestehenden Strukturen vollziehen können. Die anarchistische Position war skeptisch im Bezug auf die Erfolgschancen einer Arbeiterparteienpolitik. Ihre Ablehnung war weniger prinzipiell – „Nie darf ein Anarchist Parteipolitik machen!“ – sondern vielmehr von dem Bemühen getragen, neben der Parteipolitik andere Optionen offen zu halten: direkte politische Aktionen, das Entwickeln von Alternativen zum repräsentativen parlamentarischen System und so weiter.
Die Arbeiterbewegung hat sich bekanntlich später vollkommen der Parteipolitik verschrieben. Die etablierten Gewerkschaften verstehen sich heute ausschließlich als „Tarifpartner“, beschränken sich also auf die Rolle der geregelten Interessensvertretung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und verzichten auf politische Einflussnahme, zum Beispiel durch politische Streiks.
Die Frauenbewegung hingegen ist den anderen Weg gegangen. Sie hat sich nie als Partei konstituiert, nicht einmal einen größeren Dachverband oder Lobbyverein hat sie hervorgebracht. Ihre politische Stärke zieht sie gerade nicht aus festen Strukturen, sondern aus Beziehungen und Vernetzung, nicht aus klar umrissenen Programmen, sondern aus der Pluralität der Feminismen, nicht aus Repräsentation (was ja die zentrale Figur des historisch männlichen Parteiensystems ist), sondern aus politischem Engagement in erster Person.
Diese traditionelle Antipathie zwischen Frauen und Parteienpolitik könnte sich heute, wo der Parlamentarismus generell in einer Krise steckt, als fruchtbar erweisen. Auch viele Männer sind ja mit den überlieferten Formen und Ritualen unzufrieden. Die permanenten Krisen in der Finanzwelt lassen daran zweifeln, ob herkömmliche politische Instanzen überhaupt noch in der Lage sind, den – wie es scheint – obskuren und undurchschaubaren Kräften ökonomischer Macht wirksame Rahmenbedingungen vorzugeben.
Was sich in letzter Zeit an Protesten formierte, etwa unter den Stichworten „Occupy“ oder „Wutbürger“, ist nicht einfach nur die Forderung nach anderen (zum Beispiel „sozialeren“, „ökologischeren“ oder „feministischeren“) Inhalten. Sondern hier kommt eine generelle Skepsis der Art und Weise gegenüber zum Ausdruck, wie regiert und entschieden wird.
In dieser Situation ist ein Buch italienischer Feministinnen der Gruppe Diotima interessant, das unter dem Titel „Macht und Politik sind nicht dasselbe“ die Frage nach dem Verhältnis von sozialen Bewegungen und Partei- und Institutionenpolitik neu stellt. Die Autorinnen knüpfen an die Diskurse der autonomen Frauenbewegung der 1970er Jahre an, in denen die Frage nach dem Verhältnis von Frauen und Macht bereits eine zentrale Rolle gespielt hat. Zu Recht betonen sie, dass die Skepsis vieler Frauen gegenüber den Mitteln der Macht keineswegs ein Zeichen für politisches Desinteresse ist, wie häufig behauptet wird. Ganz im Gegenteil zeige sich darin vielmehr ein großes Interesse an wirklicher Politik, deren Ohnmacht nämlich genau darin liegt, dass sie so häufig von einer reinen Machtlogik verdrängt wird.
Unter Politik verstehen die Italienerinnen, dass Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit über die Regeln des Zusammenlebens verhandeln. Politik findet nicht nur in Parteien und Parlamenten statt, sondern überall, an den Arbeitsplätzen, in Projekten oder Vereinen, in Familien und Beziehungsnetzen – immer dann, „wenn man sich ein Problem zu Herzen nimmt, wenn man den Impuls verspürt, aus dem Privatinteresse herauszutreten und sich mit anderen zusammenzutun, und wenn dies Leidenschaft und Reaktionen weckt.“
Macht hingegen bedeutet, dass Regeln in festen Formen und Institutionen festgeklopft werden, dass Einfluss und Entscheidungskompetenzen klar verteilt und in Hierarchien installiert sind. Wer Macht hat, kann über andere bestimmen, „ohne sich mit deren Freiheit und deren Begehren auseinandersetzen zu müssen“.
Macht und Politik lassen sich nicht sauber voneinander trennen; in einer konkreten Situation ist beides fast immer vermischt. Aber dennoch folgen sie einer jeweils anderen Logik. Die Logik der Macht tendiert dazu, wirkliche Politik zu verhindern und zu verunmöglichen, weil der Erhalt (oder das Erringen) von Macht wichtiger wird als die politischen Inhalte selbst. Aber glücklicherweise ist es auch in klaren Machtsituationen möglich, diese Logik zu verlassen und zu politischen Aushandlungsprozessen zurückzufinden. Es sind wir selbst, in erster Person, die den Unterschied ausmachen können.
Wer das weiß, kann aus der falschen Alternative ausbrechen, die die strukturelle Antipathie zwischen „Revolution“ und „Parteiensystem“ bisher nahelegte: nämlich entweder Machtpositionen anzustreben und sich dabei zähneknirschend den vorgefundenen Spielregeln anzupassen oder aber sich von Orten der Macht gänzlich fernzuhalten.
Die Diotima-Philosophinnen glauben, dass es möglich ist, Politik auch dort einzubringen, wo eigentlich die Logik der Macht vorherrscht. Ihr Buch soll dafür auch eine Art Handwerkszeug sein. Wie diese Verschiebung funktionieren kann, analysieren sie anhand von konkreten Erfahrungen, die die Autorinnen in politischen Parteien, Gewerkschaften, sozialen Bewegungen gemacht haben.
Allerdings bestehen sie darauf, dass es nicht möglich sei, die Mittel der Macht instrumentell für einen „guten Zweck“ einzusetzen. Was sie stattdessen vorschlagen ist, sich auch innerhalb von Machtstrukturen schlicht nach einer anderen Logik zu verhalten. Sie veranschaulichen das am Bild eines Spielbretts, auf dem gleichzeitig zwei verschiedene Spiele gespielt werden: Schach (das Spiel der Macht und der Strategien) und Dame (das Spiel der Politik und der Beziehungen). Jedes Spiel hat seine eigenen Regeln, die miteinander nicht kompatibel sind. Und als Spielerin habe ich bei jedem Zug erneut die Wahl, welches davon ich eigentlich spielen möchte, und in welcher Rolle ich mein Gegenüber sehe.
Voraussetzung für ein solches Engagement ist das, was die Italienerinnen „symbolische Unabhängigkeit“ nennen. Eine Unabhängigkeit, die Frauen leichter erreichen können als Männer, die aber nicht exklusiv weiblich ist. Aber Frauen sind allein schon aufgrund ihrer historischen Rolle dem Parteiensystem nicht verpflichtet, das ja ausdrücklich als eine für Männer reservierte Ebene entstanden ist.
Der explizite Ausschluss der Frauen aus dem System der repräsentativen Demokratie schon in der griechischen Antike wiederholte sich bekanntlich in der Französischen Revolution und auch in der Pariser Kommune, und das war keineswegs bloß dem damals herrschenden patriarchalen Zeitgeist geschuldet. Nur über die Ungleichheit der Frauen und ihren „Einschluss“ in eine häusliche Sphäre konnte nämlich die männliche Illusion der „Gleichheit“ überhaupt zum bestimmenden Maßstab werden, an dem Männer ihr Verhältnis zueinander klärten. Die „gleichen“ Männer, die im öffentlichen Bereich „auf Augenhöhe“ miteinander konkurrierten (um Arbeitsplätze, um Wählerstimmen) benötigten eine Sphäre der Ungleichheit, wo Frauen sich um all jene kümmerten, die diesem Ideal nicht entsprechen konnten – Kinder, Kranke, Alte. Die US-amerikanische Soziologin Carol Pateman nennt das den „Geschlechtervertrag“, der unseren westlichen Kulturen unausgesprochen zugrunde liegt.
Mit ihrem Anspruch auf politische Teilhabe kündigten Frauen diesen Geschlechtervertrag auf, und deshalb ist es kein Wunder, dass genau diese Frage – wer kümmert sich dann um den Rest? – im Zentrum der feministischen Kämpfe stand. Das Hauptargument der Antifeministen von Proudhon bis zum Widerstand gegen das Frauenwahlrecht noch im 20. Jahrhundert war immer die Warnung davor, politisch aktive Frauen würden ihre häuslichen Pflichten vernachlässigen. Auch in den 1970er Jahren stand die Frage nach dem Verhältnis von „Privat“ und „Politisch“ nicht zufällig im Zentrum der Debatten der neuen Frauenbewegung.
Den überwiegenden Strömungen des Feminismus ging es aber nie um eine bloße „Gleichstellung“ der Frauen im Rahmen des Bestehenden – die, wie die Antifeministen ganz zu Recht bemerkt haben, überhaupt nicht möglich ist – sondern darum, das Grundgefüge dessen zu verändern, was unter „Politik“ zu verstanden wird. Es ist nicht ihre Aufgabe, die repräsentative Demokratie zu retten. Dieses Wissen ist heute wichtiger ist denn je, wo ja in allen Parteien die Hoffnungen darauf, Frauen an der Spitze würden sie aus ihrer Krise führen, unübersehbar sind.
Die Italienerinnen lehnen es klar ab, die kriselnden demokratischen Institutionen mit weiblichem Engagement zu „verbessern“. Stattdessen empfehlen sie politisch aktiven Frauen eine Perspektive „weiblicher Souveränität“, die sich diesen historisch männlichen Prinzipien nicht unterordnet, sondern davon unabhängig eigene Maßstäbe für politisches Handeln findet und im politischen Diskurs behauptet.
Ob das innerhalb oder außerhalb von Parteien geschieht, ist dann keine Frage des Prinzips mehr, sondern eine der persönlichen Vorlieben und Begabungen. „Es gibt keine besseren und schlechteren Orte, um Politik zu machen“, schreiben die Italienerinnen. Sondern worauf es ankommt ist, Politik nicht länger mit Macht zu verwechseln und gleichzusetzen.
Diotima: Macht und Politik sind nicht dasselbe. Übersetzt und mit einem Vorwort versehen von Dorothee Markert und Antje Schrupp. Ulrike Helmer Verlag, Sulzbach 2012, 194 Seiten, 19,95 Euro.