Den richtigen Satz finden
»Es hängt immer davon ab«, sagt Maria Schwenn, »ob man den richtigen Satz findet«. Aber was ist der richtige Satz zu einer Mutter, deren Kind todkrank auf die Intensivstation eingeliefert wurde? Was ist der richtige Satz zu einem jungen Mann, der gerade erfahren hat, dass er an Krebs leidet?
Seit 25 Jahren arbeitet Maria Schwenn als Seelsorgerin in der Frankfurter Uniklinik. Und noch immer sind solche Situationen für sie keine Routine. Oft findet sie den richtigen Satz nicht. Aber manchmal eben doch. Und dann kann es passieren, dass wildfremde Menschen ihr ihre Lebensgeschichte anvertrauen, dass sie erzählen von ihren Ängsten und Hoffnungen, dass Gespräche möglich werden, wo vorher nur Wut und Enttäuschung waren.
Die »Seelsorge« an Kranken ist eines der ältesten Arbeitsfelder der Kirche. Denn Krankheit hat nicht nur eine körperliche, sondern immer auch eine seelische, eine spirituelle Seite. Weil sie Fragen aufwirft nach dem Sinn der eigenen Existenz, nach Leben und Tod, nach Gott. Über zwanzig hauptamtliche Seelsorgerinnen und Seelsorger arbeiten derzeit im Auftrag der evangelischen Kirche in Frankfurter Krankenhäusern, unterstützt von zahlreichen Ehrenamtlichen, dazu kommen die etwa ebenso vielen katholischen Kolleginnen und Kollegen. Sie gehen durch die Stationen, sprechen mit Kranken, mit Angehörigen, mit Pflegerinnen. Bieten Hilfe und Rat an, hören zu, sind im Notfall rund um die Uhr erreichbar. Nicht nur Pfarrerinnen und Pfarrer. Maria Schwenn zum Beispiel war früher Lehrerin, hat dann aber eine Zusatzausbildung zur Seelsorgerin gemacht hat. »Es ist ein schöner Beruf«, sagt sie mit Überzeugung.
Natürlich wird dabei von den Kranken und ihren Angehörigen immer wieder eine Frage gestellt: Warum lässt Gott das zu? »Ich habe darauf auch keine Antwort«, bekennt Pfarrerin Elisabeth Knecht, die wie Maria Schwenn an der Frankfurter Uniklinik arbeitet. »Ich glaube aber nicht, dass es Gott ist, der die Krankheiten schickt.« Sehr häufig stecke hinter dieser Anklage gegen Gott in Wirklichkeit ein Schuldgefühl. »Die Menschen fragen oft: Warum will Gott mich strafen? oder wenn Kinder betroffen sind: Warum straft Gott dieses unschuldige Kind und nicht mich?« Die Vorstellung, dass Krankheit etwas mit Schuld zu tun hat, ist in unserer Gesellschaft tief verankert. Daran ist die Kirche, historisch gesehen, vielleicht nicht ganz unschuldig – auch von den Kanzeln wurden Krankheiten in früheren Jahrhunderten als Gottes Strafe gepredigt. Die Zeiten sind zwar längst vorbei, doch heute haben Lifestyle-Magazine und sogar manche Gesundheitspolitiker diesen Part übernommen: Wer sich nur gesund ernährt, nicht raucht und genug Sport treibt, predigen sie, dem ist Gesundheit garantiert.
Die Wirklichkeit ist aber anders. Krankheiten kommen, und oft ohne sichtbaren Grund, ohne Vorwarnung. »Bei der Frage nach der Gerechtigkeit gerate ich auch an meine Grenzen«, bekennt Maria Schwenn, »es gibt immer noch Krankheitsgeschichten, da könnte ich heulen, da denke ich, das darf doch nicht wahr sein.« Dennoch ist eine gewisse professionelle Distanz nötig. »Es ist ein sehr großer Unterschied, ob man persönlich betroffen ist, zum Beispiel als Angehöriger, oder nicht«, sagt Elisabeth Knecht. Als Fremde hat sie keine eigenen Interessen, »es geht nicht um die Frage, was ich brauche oder will, sondern darum, was dem Kranken hilft und gut tut.«
Oft kann das für die Patientinnen und Patienten auch der Anstoß sein, sich der eigenen Situation zu stellen und wirklich offen über Dinge zu sprechen, die sonst im Verborgenen bleiben. Gerade in Krisensituationen brechen oft lange schwelende Konflikte auf, etwa in der Familie oder im Beruf, dann kommt alles zusammen. Da kann das Gespräch mit einer Außenstehenden, die man nicht kennt und nach der Entlassung auch nicht wieder sehen wird, genau richtig sein. Obwohl sich Patient und Seelsorgerin oft nur wenige Tage, höchstens mal ein paar Wochen kennen, ergeben sich deshalb zuweilen Gespräche, die richtig tief gehen. »Manche erzählen uns Dinge, die nicht mal die Ehefrau weiß.« Wichtig sei dabei, nicht so zu tun, als ob man die Kranken »verstehen« könne. »Ich kann nicht verstehen, wie es einem Menschen geht, der zum Beispiel einen Hirntumor hat. Das wäre gelogen.« Was die Seelsorgerin aber tun kann ist, ein Gespräch anbieten: Zuhörend, offen, aber auch mit theologischem Hintergrundwissen.
Nicht nur mit Patienten und Angehörigen reden die Kirchenleute im Krankenhaus, sondern auch mit den Pflegekräften. Die sind heute zunehmend überlastet, hätten lieber mehr Zeit, mit den Kranken zu reden. Für sie bietet Elisabeth Knecht einmal im Monat eine »Ethik«-Gruppe an, bei der Themen wie Sterbebegleitung, Aufklärung von Angehörigen, Umgang mit Behinderung und ähnliches diskutiert werden. Kaum Interesse haben dagegen die Ärzte an einer Zusammenarbeit mit der Krankenhausseelsorge. »Die setzten in der Regel nur auf Diagnostik und ihre Apparate«, sagt Elisabeth Knecht.
Dass hinter der »Niere Nummer Soundsoviel« ein Mensch mit einer individuellen Geschichte, mit Ängsten und Hoffnungen steht, das gerät in der Krankenhausroutine oft aus dem Blick. Auch wenn heute viel von »Ganzheitlichkeit« in der Medizin die Rede ist, die Realität spricht noch immer eine ganz andere Sprache. Endlos scheinende Gänge mit unzähligen Türen links und rechts und tickende Apparaturen prägen die Atmosphäre. Sogar in der neu gebauten Kinderabteilung der Uniklinik, in der Pfarrerin Elisabeth Knecht ihren Arbeitsschwerpunkt hat. Betrübt zeigt sie auf die lieblos hingestellten Wartestühle vor den Behandlungsräumen, wo Eltern warten müssen, während ihre Kinder untersucht werden. »Ein Arzt hat mir mal gesagt, die Leute kämen hierher, weil sie beste medizinische Versorgung suchen, es sei ihnen nicht wichtig, dass sie’s schön haben.«
Hier gegenzusteuern, andere Werte und Perspektiven in den Klinikbetrieb einzubringen – auch das ist die Aufgabe der Krankenhausseelsorge. Die Arbeit wird von der Kirche finanziert, nicht von den Kliniken, das gewährleistet ihre Unabhängigkeit. Seit einigen Jahren gibt es am Frankfurter Markuskrankenhaus zudem ein evangelisches »Zentrum für Ethik in der Medizin«, das solche Fragen nicht nur im Alltag am Krankenbett, sondern auch in Veranstaltungen, Fortbildungen und Gesprächen mit Ärzten und Klinikleitungen aufwirft.
Zu solchen ethischen Fragen gehört auch die nach dem Umgang mit Leid, mit Tod, mit Ausweglosigkeit. Denn trotz allem technischen Fortschritt klappt es eben mit der medizinischen Hilfe nicht immer so, wie geplant. In den Krankenhäusern wird diese Möglichkeit aber so gut es geht verdrängt – zum Schaden der betroffenen Patienten und ihrer Angehörigen. So darf zum Beispiel ein Faltblatt, das Eltern, deren Kinder tot geboren werden oder kurz nach der Geburt sterben, Hilfen und Informationen anbietet, in der Uni-Kinderklinik nicht ausliegen. Ebenso musste der Brief einer Mutter, die den Pflegerinnen für ihre Unterstützung in der schweren Zeit vor dem Tod ihres Kindes dankte, vom schwarzen Brett abgehängt werden. »Hier wird nicht gestorben«, lautet die Parole der Klinikleitung. »Zum Glück werden ja auch viele wieder gesund«, sagt Pfarrerin Knecht, »aber die Zeit, bis man das sicher weiß, ist trotzdem hart.« Und Hilfe benötigen auch die, bei denen es nicht gut ausgeht.
erschienen in: »Evangelisches Frankfurt«, Nr. 6/2003