Individualität und Solidarität.
Unterschiede zwischen Frauen als Basis weiblicher Politik
Darf Angela Merkel eine andere Meinung haben als wir? Auf diese einfache Frage lässt sich das Thema meines Vortrages ja bringen. In der taz wurde zum Beispiel kritisiert wurde, dass Merkel zu 90 Jahre Frauenwahlrecht einen großen Staatsakt machte und sich letztlich als erste Frau in ihrem Amt feiern ließ, obwohl sie doch gar keine feministische Politik macht. Darf sie das? Oder können wir nicht von ihr erwarten, dass sie als Frau auch etwas für uns tut?
Zwischen diesen beiden Polen bewegt sich die Debatte über weibliche Individualität und Solidarität ja schon ewig und beide Antworten sind problematisch. Denn wenn Frauen einfach nur Individualistinnen sind, dann wäre von der Gleichstellung keinerlei Impuls für eine bessere Welt zu erwarten. Wenn wir sie aber auf Frauensolidarität verpflichten, sprechen wir Frauen ihre Eigenwilligkeit ab.
Die Frauenbewegung schwankt daher zu Recht zwischen diesen beiden Polen, auch wenn sie sich zu widersprechen scheinen. Aber es wäre ja nicht der erste falsche Dualismus, den der Feminismus überwindet. Also: Wie können wir von Angela Merkel und anderen einflussreichen Frauen etwas erwarten und einfordern, ohne sie auf eine bestimmte Vorstellung davon zurechtzustutzen, was eine Frau in der Politik zu tun und zu meinen hat?
Ich glaube, dazu müssen wir zunächst einmal einen Schritt zurückgehen: Warum sollen überhaupt mehr Frauen in der Politik sein? Wobei Politik hier den engen Begriff der »offiziellen« Politik meint, also jener, aus der Frauen früher ausgeschlossen waren. Was Politik generell betrifft, also das alltäglich Aushandeln gemeinsamer Regeln für die Welt – da müssen Frauen nicht erst integriert werden, denn das machen sie ja schon immer. Also: Warum sollen mehr Frauen in Parteien, Parlamenten usw. vertreten sein?
Dass sie das sollen, wird ja im Allgemeinen als selbstverständlich vorausgesetzt. Aber so selbstverständlich finde ich das gar nicht. Denn mit den meisten Gründen, die dafür angegeben werden, bin ich nicht einverstanden. Manche sagen zum Beispiel: Frauen sollen in der Politik sein, weil unsere Demokratie sonst keine Demokratie ist. Ihnen geht es also vor allem um die Demokratie und nicht um die Frauen. Andere sagen: Frauen sollen in der Politik sein, weil sie Dinge anders und besser machen würden als die Männer. Dann aber geht es darum, dass Frauen sich wieder einmal für die Allgemeinheit nützlich machen sollen.
Aus der Perspektive der weiblichen Freiheit würde ich die Frage anders beantworten: Frauen sollen in der Politik sein, weil das eine recht gute Möglichkeit ist – allerdings keineswegs die einzige – , sich aktiv mit den eigenen Wünschen an der Gestaltung der Welt zu beteiligen.
Im Bezug auf Angela Merkel wäre also die interessante Frage nicht: Tut sie etwas für die Frauen oder nicht? Sondern: Tut sie als Bundeskanzlerin das, was sie selbst will oder tut sie das, was andere von ihr erwarten oder was sie glaubt, tun zu müssen? Diese Frage können wir natürlich nicht nur an Angela Merkel stellen sondern an alle Frauen in einem öffentlichen Amt und vor allem natürlich erstmal an uns selber. Wie ist das denn bei uns: Bringen wir in den Ämtern, die wir haben und in den Organisationen, in denen wir uns engagieren, unsere persönliche Subjektivität und unser eigenes Begehren ein? Oder passen wir uns lediglich den Erwartungen anderer an und bemühen uns, professionell und effizient im Rahmen einer vorgegeben Ordnung zu sein?
Es geht mir also um die Frage nach dem weiblichen Begehren und ob es in der Politik der Frauen anwesend ist oder nicht. Oder besser gesagt: Nach den Bedingungen, unter denen Frauen ihre eigenen Wünsche und Vorstellungen in die Welt tragen können oder eben daran gehindert werden.
Den Begriff des Begehrens in diesem Sinn haben italienische Feministinnen in die Diskussion gebracht, und er ist seit vielen Jahren auch in Deutschland wichtig geworden. Begehren ist dabei nichts, was sich leicht definieren ließe. Es ist eher ein experimenteller Weg: Zu beobachten, was Frauen tun, was wir tun, was uns wichtig ist, welche Schwerpunkte wir setzen. In dem Nachdenken darüber, in Gesprächen über die Erfahrungen, die wir dabei machen, hat sich gezeigt, dass das weibliche Begehren nicht wie der so genannte freie Wille etwas Vereinzeltes ist, sondern eher eine Bewegung, die eine Beziehung herstellt zwischen der einzelnen Frau, anderen Frauen, die ihr wichtig sind, der Welt, so wie wir sie vorfinden und der Welt, so wie sie gut wäre.
Leicht zu fassen ist das weibliche Begehren nicht. Ich zum Beispiel weiß nicht, ob Angela Merkel in ihrer Politik ihrem eigenen Begehren folgt oder nicht. Ehrlich gesagt weiß ich das auch von mir selbst manchmal nicht.
Auf jeden Fall braucht das Begehren noch eine andere Seite, ein Gegenüber, um in die Welt kommen zu können, und das ist weibliche Autorität: Ich brauche die Beziehung zu anderen Frauen, um meinem Begehren in der Welt folgen zu können. Denn wir leben in einer Welt, die auf das Begehren der Frauen nicht gewartet hat. In den Debatten über die »Gleichstellung« der Frauen wird ja im Allgemeinen ganz offen ihre Anpassung an die männliche Ordnung gefordert, nach dem Motto: Man muss das Spiel erst einmal mitspielen, um es dann möglicherweise zu verändern. Ich kriege als Journalistin haufenweise Bücher zum Rezensieren zugeschickt, die Anleitungen dazu geben, wie frau das am besten anstellt.
Das Problem dabei ist, dass die weibliche Differenz, die eben unter Umständen auch Dissidenz im Bezug auf die männliche Ordnung ist, keineswegs in den Genen oder Gehirnströmen von Frauen oder in einem ominösen »weiblichen Wesen« verankert ist, sondern eine Frage der Kultur und damit veränderbar. Es besteht also die Möglichkeit, und dafür gibt es inzwischen ja auch zahlreiche Beispiele, dass Frauen, die sich den Spielregeln anpassen, am Ende gar kein Bedürfnis mehr danach haben, sie zu verändern, weil es ihre eigenen geworden sind. Wenn wir uns also nur lange genug darauf trainieren, können wir definitiv genauso werden wie Männer. Ich wünsche mir das nicht.
Eine Welt, die nur aus Männern besteht, ist furchterregend. Oder haben Sie etwa (so ein Beispiel von Luisa Muraro) Angst, wenn Ihnen in einem dunklen Park eine Gruppe von Frauen entgegen kommt? All die gesellschaftlichen Krisen, über die derzeit debattiert wird, haben ganz offensichtlich ihre Ursache in einer Überdosis Männlichkeit, auch die Finanzkrise, die die Wirtschaftsexpertin Loretta Napoleoni sehr treffend »Testosteronkrise« genannt hat. Es erscheint mir in dieser Situation reichlich absurd, auf eine Anpassung der Frauen an männliche Denk- und Verhaltensweisen zu setzen.
Bisher ist die weibliche Partizipation an den historischen männlichen Institutionen aber ohnehin trotz aller Gleichheitspropaganda noch schwierig und von gegenseitigem Unbehagen geprägt. Aus meiner Sicht ist das eine kulturelle Ressource und nicht ein Problem. Jedenfalls kann es aus der Perspektive weiblicher Freiheit nicht bloß um unser Recht gehen, gleichgestellt zu sein und uns an den Spielen der Männer zu beteiligen, sondern es muss vor allem darum gehen, dass wir gehört werden und Einfluss haben, auch wenn wir dabei nicht mitspielen und etwas anderes machen das, was als die Männer für normal halten.
Bärbel Wartenberg-Potter, die acht Jahre lang Bischöfin der evangelischen Kirche in Nordelbien war, hat letzte Woche in einem Vortrag daran erinnert, was eigentlich das feministische Anliegen beim Aufbruch der Frauen in die Institutionen war. Sie sagte: »Wir wollten nicht ein größeres Stück vom Kuchen, wir wollten einen anderen Kuchen.« Sie hat aber auch darauf hingewiesen, dass das nicht gelungen ist. Sie selbst habe als Bischöfin über weite Strecken ein Spiel mitgespielt, dessen Regeln nicht von ihr waren, und der Mainstream sei auch in Institutionen, die sich wie die evangelische Kirche klar zur Gleichheit der Geschlechter bekennen, nach wie vor männlich.
Damit sich das subjektive Wünschen und Wollen einer Frau Bahn schaffen kann und sie nicht dem Konformitätsdruck der Welt, so wie sie sie vorfindet, unterliegt, braucht sie einen anderen Maßstab als den, den diese Welt ihr anbietet. Eine andere symbolische Ordnung, einen Haltepunkt, eine Unterstützung, und die kann sie nur in der Beziehung zu einer anderen Frau, zu weiblicher Autorität, finden. Beziehungen unter Frauen, in denen weibliches Begehren und Autorität zirkulieren, sind der Ort, der für die sexuelle Differenz einen symbolischen Maßstab schafft.
Oft sind es zum Beispiel andere Frauen, Freundinnen, die mich gut kennen, die mich darauf hinweisen, dass mein Begehren nicht mehr im Spiel ist. Die mich fragen, ob mir das wirklich Spaß macht, was ich mache, ob ich mit dem Herzen dabei bin. Oder die mich ermutigen, etwas zu versuchen und anzupacken, auch wenn das vielleicht »unvernünftig« erscheint, weil sie sehen, dass es mir wichtig ist. Oder die etwas von mir erwarten und Ansprüche an mich stellen, weil sie mir etwas zutrauen.
Ich selbst mache damit seit vielen Jahren gute Erfahrungen. Wenn ich zum Beispiel ein Buch schreibe oder einen Vortrag wie diesen, dann überlege ich nicht, ob sich das wohl gut verkaufen wird oder ob ich damit zu Talkshows eingeladen werde, sondern was die Frauen, mit denen ich durch politische Beziehungen verbunden bin, dazu sagen würden. Über Mailinglisten, Internetforen, regelmäßige Treffen oder einfach auch den direkten Austausch binde ich meine Überlegungen an ihr Urteil, und das gibt mir Rückendeckung und Selbstsicherheit, um meine Thesen und Ideen auch dann zu vertreten, wenn ich mich vor großem Publikum damit vielleicht unbeliebt mache.
Im Bezug auf die Eingangsfrage, ob es bei feministischer Politik um weibliche Individualität oder Solidarität geht, wäre also zu sagen: Weder noch. Es geht in erster Linie um die Beziehungen unter Frauen. Eine Beziehung stellt eine Verbindung zwischen zwei Menschen her und geht insofern über die Individualität der Einzelnen hinaus. Trotzdem ist sie nicht gleichzusetzen mit Solidarität, weil ich eine Beziehung nicht aufgrund einer abstrakten Gleichheit eingehe, sondern aufgrund eines persönlichen Interesses nicht an den Frauen generell, sondern an dieser Frau.
Dass Beziehungen unter Frauen die Grundlage für weibliche Freiheit sind, ist natürlich kein neuer Gedanke. Er war schon in der Frauenbewegung der 1970er Jahre präsent, die die bewusste Pflege von Beziehungen unter Frauen als politische Praxis erprobt hat. Unter dem Stichwort »consciousness raising«, Selbst-Bewusstsein zu entwickeln, fanden Frauen heraus, dass der Vergleich mit den Männern oder die Abarbeitung an männlichen Bildern der weiblichen Freiheit nicht förderlich ist.
Damals glaubten aber viele, es genüge die Tatsache, dass es Frauen sind, die sich zusammentun (und nicht Männer). Allerdings entstand schon bald ein Unbehagen an diesem »Wir« der Frauen. Ein solches »Wir« gibt es nämlich nicht Auch Beziehungen unter Frauen sind in der Realität viel mehr von Ungleichheit als von Gleichheit geprägt. Nicht nur, dass es Frauen mit unterschiedlichen sozialen, kulturellen, finanziellen, religiösen Hintergründen gibt – das also, was heute unter dem Stichwort »Diversity« diskutiert wird. Viel wichtiger ist noch, dass Frauen auch ganz unterschiedliche Wünsche und Absichten, Ansichten und Begehren haben. Sie sind eben nicht nur qua Herkunft, also gewissermaßen ohne eigenes Zutun, unterschiedlich, sondern sie unterscheiden sich auch aktiv voneinander. Unterschiede unter Frauen haben ihre wesentliche Ursache nicht in »Diversity«, sondern in weiblicher Subjektivität. Ich will etwas anderes als du. Und doch hat unser Frausein dabei eine Bedeutung. Es kann sich keineswegs um eine rein individuelle Differenz im Sinne eines geschlechtsneutralen Menschseins handeln. Denn der Mann hat sich schon immer als geschlechtsneutraler Mensch verstanden, und jedes Unisex-Modell ist daher nur Wasser auf die Mühlen einer vermännlichten Welt.
Wie können wir nun die Differenz unter Frauen nicht als Problem ansehen, das weibliche Solidarität behindert, sondern zum Hebel für mehr weibliche Freiheit machen?
Die ersten, die eine Theorie dazu entwickelt haben, waren die Frauen des Mailänder Frauenbuchladens mit ihrem 1989 auf deutsch erschienenen Buch »Wie weibliche Freiheit entsteht«. Sie haben dafür das Wort »Affidamento« benutzt, das in etwa so viel heißt wie »sich anvertrauen« und in der deutschen Übersetzung des Buches unübersetzt geblieben ist. Gemeint ist eben, dass eine Frau sich mit ihrem Begehren der Autorität einer anderen Frau »anvertraut« und dadurch frei wird, in der Welt zu handeln. Begehren und Autorität, so die Italienerinnen, sind die beiden Aspekte, auf die es in der Beziehung zwischen zwei Frauen ankommt, und nicht ihre gemeinsamen Interessen oder ihr gemeinsames Opfer-Sein.
Zwei Beispiele: Als ich anfing, meine Dissertation zu schreiben, wollte ich die politischen Ideen von Sozialistinnen im 19. Jahrhundert untersuchen und dabei sozusagen ein alternatives, »weibliches« Konzept von Sozialismus erforschen. Ich hatte also die Haltung der weiblichen Solidarität eingenommen: Ich verhelfe den ungehörten Worten der Frauen zu Sichtbarkeit und arbeite eine weibliche Gegenposition zum männlichen Sozialismus à la Marx und Co. heraus. Nachdem ich mich mit den Quellen vertraut gemacht hatte, musste ich allerdings feststellen, dass es eine solche gemeinsame weibliche Position nicht gab. Die Frauen waren sich schlicht und ergreifend nicht einig, und außerdem hatten sie teilweise auch noch Ansichten, mit denen ich wiederum gar nicht einverstanden war. Was sollte ich nun also schreiben? Die Theorie des Affidamento bot mir einen Ausweg: Ich begann, die Streitpunkte zwischen diesen Frauen genauer zu untersuchen – und ließ die Frage ganz beiseite, wie sich das nun zu den Männern verhält oder nicht. Und das wurde dann sehr interessant.
Ein zweites Beispiel: Vor einiger Zeit nahm ich an einer Konferenz zum Grundeinkommen teil. Es waren etwa 40 Personen da, davon vielleicht 6 oder 7 Frauen. Die Diskussionen fand ich sehr langweilig, sie drehten sich hauptsächlich um Finanzierungskonzepte und die Frage, wer bei der Bewegung mitmachen darf und wer nicht. Ein oder zweimal habe ich auch etwas gesagt. Es ging niemand weiter darauf ein, aber als ich in der Pause aufs Klo ging, kam eine der anderen Frauen auf mich zu und sagte, sie hätte ja gerne mit mir über meine These diskutiert, die sie falsch finde. Aber sie habe mich nicht öffentlich kritisieren wollen, weil wir Frauen angesichts der Männerdominanz auf dieser Konferenz doch solidarisch sein sollten. Ich finde, das war ein Fehler: Hätten wir unsere Themen, also unseren Konflikt miteinander öffentlich gemacht – und zwar als einen Konflikt unter Frauen – dann wäre die ganze Konferenz vielleicht weniger langweilig und ertragreicher gewesen.
Indem wir also bei unserem öffentlichen Sprechen die Wichtigkeit dessen, was eine andere Frau sagt, herausstellen und gleichzeitig unsere Differenz zu ihr sichtbar machen, erweitern wir den Spielraum für die Freiheit der Frauen, schaffen Raum für weibliche Subjektivität, und zwar ohne uns dem männlichen Konzept von autonomer Subjektivität anzupassen und ohne die Bezogenheit zum Frausein selbst aufzugeben.
Dieser Gedanke, dass Freiheit nicht aus Autonomie, sondern aus einer Beziehung heraus entsteht, ist natürlich der westlich-männlichen Philosophie, die letzten Endes ja auch unsere ist, denn wir sind in dieser Kultur aufgewachsen, vollkommen entgegengesetzt. Üblicherweise denken wir Beziehungen nicht als Grundlage von Freiheit, sondern Freiheit wird im Gegenteil als Loslösung des Subjekts von den Beschränkungen durch Beziehungen verstanden, nach dem Motto: Meine Freiheit endet da, wo sie die Freiheit der anderen beginnt. Zu denken, dass das Anderssein der anderen die Basis meiner Freiheit bilden – das steht völlig quer zu unserer Kulturgeschichte und schon gar im Bereich der Politik, wo wir es ja mit Parteien und Fraktionen zu tun haben, gegen die wir uns profilieren müssen und wo also jedes Eingehen auf die Anderen als Schwäche interpretiert wird.
Auch dazu noch ein Beispiel: Ich bin befreundet mit einer Frau aus Bosnien, die wegen des Bürgerkriegs nach Deutschland gekommen ist und sich heute für bessere Chancen von Kindern aus Zuwanderungsfamilien engagiert. Sie ist eine Kritikerin von »Multikulti«, kritisiert den Islam – ihre eigene Religion – als frauenfeindlich und fordert Migranten und Migrantinnen auf, sich in die deutsche Gesellschaft zu integrieren. Ich hingegen finde, dass gerade die angeblich so schlimme »Frauenunterdrückung« im Islam häufig nur als Pseudoargument benutzt wird, um von der Nicht-Anerkennung weiblicher Freiheit im Westen abzulenken, und bin besorgt über eine sich ausbreitende Islamfeindlichkeit. Ich denke, Sie erkennen in diesen beiden Positionen einen gegenwärtig sehr diskutierten politischen Konflikt wieder.
In der Logik der Partei- und Standpunktpolitik könnten meine bosnische Freundin und ich uns nun auf den entgegen gesetzten Seiten dieser Front einrichten und uns wechselseitig vorwerfen, unfeministisch zu sein oder überhaupt eine falsche Meinung zu haben. Aber indem wir uns zueinander in eine Beziehung setzen, heben wir diese ganze Auseinandersetzung auf eine andere Ebene. Wir interessieren uns nämlich wirklich für die Argumente und Einwände der anderen, auch und gerade, wenn wir sie nicht teilen.
Wenn jemand von den üblichen Verdächtigen islamfeindliche Anfälle bekommt, irritiert mich das nicht. Es ist das, was ich von diesen Leuten erwarte, und es bestärkt mich eher in meinem Urteil. Aber wenn meine Freundin die Multikulti-Szene kritisiert, ist das anders. Denn ich halte sie für klug, und vor allem weiß ich, dass sie sich wirklich um die Welt und diese Gesellschaft sorgt und nicht nur auf einer zeitgeistigen Strömung mitschwimmt. Sie bringt mich dazu, meine eigene Meinung zu überdenken und damit auch zu verbessern. Sie kann mir also gerade, weil sie eine andere Meinung hat als ich, in meinem Begehren helfen, eine Lösung für die Herausforderungen der Interkulturalität zu finden. Was im Übrigen keineswegs bedeutet, dass wir am Ende doch einer Meinung sind. Die Differenzen bleiben meistens bestehen, aber sie verändern sich, weil das Zirkulieren von Begehren und Autorität Neues hervorbringt.
Es geht bei »Affidamento« also nicht bloß darum, dass Frauen sich untereinander fördern, dass sie aufmerksam sind für die weibliche »Diversity«, dass sie Netzwerke bilden und ihre unterschiedlichen Ressourcen kombinieren. Sondern es geht um den sehr revolutionären Gedanken, dass Freiheit nur möglich ist, wenn ich eine Beziehung habe zu einer, die wirklich anders ist als ich. Es geht immer auch um einen Konflikt. Autorität erkennen wir daran, dass wir das, was eine Frau sagt, wichtig und hilfreich finden, obwohl wir ihr nicht zustimmen. Nur diese Differenz ermöglicht es mir nämlich, Neues zu entdecken, aus vorgegebenen Denkmustern und Bahnen auszubrechen – Freiheit also.
Eine solche Beziehung, in der weibliches Begehren und weibliche Autorität aufeinandertreffen, ist niemals abstrakt, sondern immer konkret. Sie lässt sich nicht herstellen, einklagen oder einfordern. Sie ist da oder sie ist nicht da – worauf es ankommt, ist dass wir sie erkennen und arbeiten lassen, dass wir sie wertschätzen, und vor allem unserem Begehren auf der Spur bleiben. Autorität kann im Übrigen auch in Gruppen »zirkulieren«. In Gesprächen können Worte von Autorität fallen, die aber immer nur von derjenigen als solche wahrgenommen werden, die ein entsprechendes Begehren hat. Autorität ist immer von der Situation, vom Kontext abhängig, sie muss immer wieder neu in einer Beziehung begründet werden, sie kann sich nicht in Rangabzeichen oder Titeln festschreiben.
Das ist übrigens auch der große Unterschied zwischen Autorität und Macht. Macht ist abhängig von der Mehrheit. Sie gerinnt in Positionen und Status. Macht kann man einklagen, sich auf sie berufen. Autorität hingegen braucht keine Mehrheiten. Sie braucht nur die Beziehung zwischen zwei Frauen. Deshalb macht Autorität auch von der Macht unabhängig – ich kann zum Beispiel einer Frau Autorität zusprechen, die von der Mehrheit überhaupt nicht anerkannt ist, die aber Antworten auf mein Begehren hat, die mir hilft, mit meinen Wünschen und Absichten in der Welt zu handeln. Und so kann Autorität die Macht aushebeln – im Übrigen ganz konkret. Die originellsten weiblichen Denkerinnen kommen nämlich im Allgemeinen keineswegs aus den Institutionen – ich denke nur an Dorothee Sölle, die wohl die wichtigste und einflussreichste deutsche Theologin der Nachkriegszeit war und niemals einen Lehrstuhl an einer deutschen Uni hatte. Ich selbst mache jedenfalls die Erfahrung, dass die interessantesten Ideen und Diskussionen nicht an den Unis oder in den Zeitungen oder in den Fernsehtalkshows stattfinden, sondern anderswo.
Dieses Konzept der vom eigenen Begehren getragenen Differenzbeziehungen als Grundlage von Politik ist weiblich, insofern es Frauen sind, die es entwickeln und verbreiten. Aber es ist natürlich ein allgemeines Konzept, das letzten Endes Antworten auf die Pluralität des Menschseins gibt. Es schlägt vor, den Raum des Politischen nicht länger als Ansammlung von Individuen zu verstehen, die ihre jeweiligen Interessen gegeneinander durchzusetzen versuchen und sich daher zu Parteien vereinigen, um in diesem Krieg der Meinungen schlagkräftiger zu werden, sondern als einen Ort, an dem an dem Pluralität verhandelt wird. An dem es nicht um Macht und Lobbyismus geht, sondern um das allgemeine Wohl. An dem es möglich ist, Differenzen und Konflikte offen auszutragen, also weder unter den Teppich zu kehren, noch für eine unüberwindliche Mauer zu halten.
Nur in konkreten Beziehungen kann das gelingen. Sie überwinden den unfruchtbaren Streit zwischen Universalismus und Relativismus, zwischen Moderne und Postmoderne, mit dem sich die männliche Philosophie schon so lange herumschlägt, und zwar im Begriff der Relativität, des sich-in-Beziehung-setzens. Ich kann nur dann hoffen, jemanden von meinen Ansichten zu überzeugen, wenn ich zunächst einmal offen bin für das, was er oder sie gerade an anderem zu sagen hat. Einen Dialog kann ich nur führen, wenn ich bereit bin, meine eigenen Positionen aufs Spiel zu setzen – aber genau dann ist er eben auch möglich, und es besteht eine gute Chance, dass am Ende alle dazu gelernt haben, auch wenn sie sich vermutlich niemals ganz einig werden.
Wenn ich, eine Frau, öffentlich spreche und auftrete, dann spreche ich jedenfalls nicht »als Frau«, als Repräsentantin einer bestimmten Gruppe, sondern ich spreche als ich, als Antje Schrupp. Aber um zu verstehen, was ich sage, ist es keineswegs unerheblich zu sehen, dass ich eine Frau bin, denn das bedeutet, dass die Maßstäbe, die eine männliche symbolische Ordnung für das öffentliche Auftreten eines Mann-Menschen vorgibt, nicht meine Maßstäbe sind. Wie schwierig und irritierend das ist und wie böse eine dabei auf die Schnauze fallen kann, hat das Scheitern von Andrea Ypsilanti gezeigt, das aber in meinen Augen weniger ihr Scheitern war, als vielmehr das Scheitern dieser männlichen Ordnung, die schon lange nicht mehr in der Lage ist, die Welt sinnvoll zu regeln. Sie hat sich nämlich wieder einmal der Möglichkeit zur Veränderung und Erneuerung beraubt, indem sie die weibliche Differenz ausgeschlossen hat.
Die Geschlechterdifferenz ist nichts, dessen Ursachen man untersuchen und analysieren müsste, sondern ein Faktum, und wir können ihr gewissermaßen bei der Arbeit zuschauen. Dazu gehört nicht viel, bloß eine banale Einsicht: Das, was Frauen tun und denken, ist interessant und wichtig. Es ist oft, aber nicht immer, etwas anderes, als das, was Männer machen. Und auch das ist interessant. Ob die Ursachen dafür in den Genen oder in der Erziehung oder sonstwo liegen, ist völlig irrelevant – die Ursachen für das andere Verhalten von Männern sind ja schließlich genauso fremdbestimmt oder auch nicht.
In gewisser Weise ist das, was wir brauchen, eine Art interkultureller Dialog zwischen den Geschlechtern. Um diesen interkulturellen Dialog ist es allerdings gegenwärtig nicht gut bestellt. Ich beobachte vielmehr einen schleichenden Rückzug von Frauen aus der Öffentlichkeit. Es ist zum Beispiel immer schwerer, Frauen zu finden, die für Ämter kandidieren, die bereit sind, den Preis zu zahlen, den das innerhalb einer männlichen symbolischen Ordnung kostet. Der Typus des charismatischen Machers in der Politik wird wieder ganz ungeniert hochgehalten – im Übrigen auch bei den Grünen. Frauen sind zwar gleichberechtigt, aber die Unterordnung des Weiblichen unter das Männliche besteht weiterhin, wie wir schon daran sehen, dass Medien und öffentliche Diskurse sich nach wie vor fast vollständig im Rahmen einer männlichen symbolischen Ordnung abspielen.
Die Männer sind durchaus bereit, uns größere Stücke von ihrem Kuchen abzugeben, solange bloß die Rezepte dieselben bleiben. Aber die Phase, in der Frauen mit Begeisterung beweisen wollten, dass sie alles Mögliche »auch« können, sind längst vorbei. Es stellt sich heute verstärkt die Frage, ob sie das auch wollen. Und immer mehr Frauen beantworten diese Frage für sich mit nein. Sie bleiben weg, und die Männer machen so weiter wie bisher und es scheint ihnen überhaupt nichts zu fehlen. Im Gegenteil, die alten männlichen Institutionen haben mehr Legitimation denn je, denn Frauen dürfen ja mitmachen. Die Gefahr ist groß, dass sich auf diese Weise unsere westlich-moderne Welt wieder »vermännlicht«, und zwar gerade auf der Grundlageder angeblich durchgesetzten Gleichheit und Emanzipation der Frauen.
Ich halte das für gefährlich, und zwar vor allem gefährlich für die Welt, der diese ständigen Überdosen Männlichkeit überhaupt nicht gut tun. Aber wir können das Problem nicht lösen, indem wir an die Frauen appellieren, sich doch für die gute Sache aufzuopfern und zum Beispiel zu kandidieren und sich durchzubeißen, auch wenn sie danach gar kein Begehren haben. Sinnvoller finde ich, dieses ganz offensichtliche Fehlen des weiblichen Begehrens im Bezug auf das, was Männer für bedeutsam halten (die Posten, das große Geld, den Status, die Herrschaft über andere) offen zu benennen und für bedeutsam zu erklären.
Ein Politikverständnis, so wie ich es hier zu beschreiben versuchte, könnte vielleicht diesem Trend begegnen: Wenn ich mein eigenes Begehren an weibliche Autorität binde, also an konkrete andere Frauen mit denen ich in Beziehung bin, dann bin ich handlungsfähig, auch in schwierigen Umständen. Ich bin frei von den Mehrheitsmeinungen der Welt, ohne dadurch aber orientierungslos und auf mich allein gestellt zu sein. Und das ist der erste Schritt, um angesichts der Tatsache, dass es diese Machthaber und Mehrheitsmeinungen nun einmal gibt, überhaupt sinnvoll handeln zu können.
Indem wir unser Begehren nicht an die Anerkennung der Mächtigen, sondern an die Autorität anderer Frauen binden, gewinnen wir außerdem auch die Verhandlungsstärke, die wir dringend brauchen, um die Auseinandersetzungen mit der männlichen Ordnung durchzustehen – und solche Auseinandersetzungen sind unvermeidlich. Die Hoffnung vieler junger Feministinnen, dass das Verhältnis zu den Männern eigentlich gar nicht konfliktreich sei, weil wir doch alle an einem gender-egalitären Strang ziehen, halte ich nämlich für eine Illusion. Meiner Erfahrung nach sind harte und anstrengende Konflikte mit der gegebenen Ordnung unausweichlich, wenn eine Frau ihrem Begehren folgt. Was natürlich nicht heißt, dass es nicht auch Männer gibt, die an unserer Seite stehen.
Die Freiheit der Frauen, unsere Freiheit, hängt jedenfalls nicht von äußerlichen Rechten oder Rahmenbedingungen ab, sondern davon, ob wir einen Weg finden, die Welt nach unseren Wünschen zu gestalten. Sie muss uns nicht von irgendwem gegeben oder zugestanden werden, sondern sie ist schon da, in der Stärke unseres Begehrens und in der Fülle möglicher Beziehungen zu anderen Frauen, die uns etwas voraus haben. Wenn wir das verstehen, können wir die leidige »Frauenpolitik« endlich hinter uns lassen, bei wir qua Geschlecht immer nur Objekte der Politik sind, und uns auf das konzentrieren, worauf es wirklich ankommt: auf eine »Politik der Frauen«, auf weibliche Subjektivität und Dissidenz, auf eine feministische Revolution jenseits der Emanzipation.
Vortrag bei der Grünen Frauenkonferenz Bayern am 21.3.2009 in Augsburg