Im Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten
Oder Freiheit von der Bedürftigkeit her denken
in: Frauenrat, 2/2012
„Plädoyer für die Freiheit“ – so nennt Joachim Gauck einen Essay, der pünktlich zu seiner Nominierung als Bundespräsident auf den Buchmarkt kam. Er stellt darin zwei Arten von Freiheit gegenüber: Die „jugendliche“, revolutionäre Freiheit, die vor allem auf Autonomie und Unabhängigkeit setzt, also „Freiheit von etwas“ ist. Und dann die „erwachsene“, Verantwortung übernehmende Freiheit, die die Welt gestaltet, also „Freiheit zu etwas“ ist.
Damit umreißt Gauck den Konsens, den die westeuropäische männliche Philosophie seit langem tradiert: Freiheit wird aus der Perspektive des erwachsenen, mündigen, gesunden, eigenverantwortlich handelnden Mannes gedacht (der heute freilich auch eine Frau sein kann).
Doch was bedeutet Freiheit für Menschen, die in ihren körperlichen oder geistigen Fähigkeiten eingeschränkt sind? Was bedeutet Freiheit für Kinder? Was bedeutet Freiheit für Menschen, die von Armut betroffen sind? Was bedeutet Freiheit für Angehörige von Minderheiten oder von sozial diskriminierten Gruppen? Aber auch: Was bedeutet Freiheit für Menschen, die Verantwortung für andere tragen und die deshalb unweigerlich weniger Handlungsoptionen haben als andere?
Im klassisch-männlichen Freiheitskonzept bedeuten solche Abhängigkeiten eine Einschränkung der Freiheit. Wer auf andere angewiesen ist, kann nicht wirklich frei sein, so wird behauptet, und damit entsteht ein prinzipieller Widerspruch zwischen Freiheit und Sicherheit. Das Ergebnis ist etwa ein neoliberaler Diskurs, der uns einreden will, verlässliche soziale Sicherungssysteme wären mit einer „eigenverantwortlichen“ Lebensgestaltung nicht zu vereinbaren.
Schon viele Philosophinnen haben jedoch die Gleichsetzung von Freiheit mit Autonomie und „Eigenverantwortung“ in Frage gestellt. Hannah Arendt zum Beispiel dachte Menschsein von der Gebürtigkeit her und betont, dass Freiheit daraus entsteht, dass man in ein „Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten“ eingebunden ist. Iris Murdoch vertrat die Ansicht, dass menschliche Entscheidungen niemals „frei“ in diesem klassischen Sinne sind, weil unser Handeln in einer konkreten ethischen Situation immer eine Konsequenz dessen ist, was uns in der Vergangenheit bereits geprägt hat. Und Simone Weil war überzeugt, dass Menschen nur dann frei handeln können, wenn sie bereits die Erfahrung der Freiheit gemacht haben.
Heute zeigt sich noch deutlicher als zu ihren Zeiten, dass die Gleichsetzung von Freiheit und Autonomie eine stillschweigende Voraussetzung hatte, die heute obsolet geworden ist, und zwar das, was Carol Pateman den „Geschlechtervertrag“ genannt hat. Demnach war das „freie, unabhängige Handeln“ in der Öffentlichkeit den Männern vorbehalten, während alles, was mit Abhängigkeiten zu tun hatte, in eine „weibliche Sphäre“ ausgelagert, entpolitisiert und den Frauen übertragen wurde: die Sorge um Kinder, um Alte, um Kranke.
Heute ist diese Aufgabenteilung – auch dank der Frauenbewegung – in Auflösung begriffen. Das bedeutet aber nicht nur, dass jetzt auch Frauen „frei“ und autonom sein können. Sondern das klassische Freiheitsmodell muss grundsätzlich hinterfragt werden. Wenn niemand mehr qua Geschlecht für die Sorge um die Bedürftigkeiten von Menschen zuständig ist, dann kann dieser Aspekt auch nicht mehr aus dem öffentlich-politischen Leben „ausgelagert“ werden. Freiheit muss also von der Bedürftigkeit selbst her gedacht werden. Zum Beispiel so: Menschen sind frei, nicht obwohl, sondern weil sie von anderen Fürsorge und Zuwendung bekommen.
Simone Weil hat in diesem Zusammenhang von „Einwurzelung“ gesprochen und betont, wie wichtig die Verbundenheit in einer Kultur und in einer Gemeinschaft ist. Freiheit ist ihrer Ansicht nach nicht die Abwesenheit jeglicher Zwänge, nicht die Möglichkeit, alles zu tun, was einem in den Sinn kommt – eine Möglichkeit, die angesichts der prinzipiellen Bezogenheit der Menschen nämlich nicht existiert. Sondern frei sind Menschen, wenn ihr Handeln mit ihrem Denken übereinstimmt, wenn sie also das, was sie für richtig erachten, auch in ihrem Handeln zum Ausdruck bringen können. Nicht das Angewiesensein auf andere als solches macht Menschen demnach unfrei, sondern Konformismus und Anpassungsdruck sowie ein gesellschaftliches Klima, das Menschen als statistische Masse und nicht in ihrer Individualität wahrnimmt.
Ein solcher Paradigmenwechsel im Freiheitsverständnis hätte sehr konkrete politische Auswirkungen. Ein bedingungsloses Grundeinkommen zum Beispiel würde nicht mehr bedeuten, Menschen zu „alimentieren“, sondern wäre eine schlichte ökonomische Umsetzung der Tatsache, dass es zum Menschsein dazu gehört, von anderen etwas zu bekommen – ganz unabhängig von einer „Gegenleistung“. So wie wir alle es als Kinder erlebt haben.
Auch für die so dringend notwendige Umstrukturierung von gesellschaftlicher Fürsorgearbeit würden sich neue Ansätze ergeben. Denn sie hätten eine ganz andere Basis, wenn gesehen würde, dass nicht nur einige, sondern buchstäblich alle in diesem Sinne bedürftig sind: „We all live subsidized lives“ ist die Formel, die das die US-amerikanische Juristin und Sozialwissenschaftlerin Matha Fineman gebracht hat – wir leben alle auf Kosten von anderen.
Nur wer sich diese prinzipielle Bedürftigkeit, die eigene Abhängigkeit, eingesteht, kann die Fülle der wahren Freiheit entdecken, die das „Bezugsgewebe der menschlichen Angelegenheiten“ bereithält. Und kann sich dann von dem krampfhaften Streben nach Autonomie und Eigenverantwortung verabschieden, das prinzipiell unerreichbar ist, weil es sich lediglich um eine patriarchale Illusion handelt.