Antje Schrupp im Netz

Hilde Schneider – Diakonisse, KZ-Opfer, Gefängnispfarrerin

Bild

»Eines Tages«, erzählt Hilde Schneider, »ging meine Mutter mit mir und meiner Tante auf den Friedhof. Und da waren also nun die Gräber, ich sagte, guck mal, da kann man ja sehen, wo die Juden liegen. Weil es eben jüdische Schrift war. Meine Mutter zupfte mich am Ärmel, meine Tante guckte mich an, und ich wusste gar nicht, was das bedeuten sollte. Konnte ich ahnen, dass wir auf dem jüdischen Friedhof waren? Als wir dann nach Hause kamen, sagte meine Mutter zu mir, es täte ihr leid, aber sie hätte mir nichts davon erzählt, dass sie aus jüdischer Familie käme, denn man wüßte ja nicht, wie ich das aufgenommen hätte. Ich sollte erst einmal Juden kennen lernen und sehen, dass das auch gute Leute sind.«

An den Tag, als sie als Neunjährige von ihrer jüdischen Abstammung erfuhr, kann sich Hilde Schneider noch gut erinnern. Ebenso wie an viele andere Stationen aus ihrem Leben. In ihrem kleinen Altenwohnheim-Appartement im Taunus erzählt die heute 84jährige von ihren Lebenserinnerungen. Wie sie als 17-Jährige Diakonisse wurde, wie sie als Nicht-Arierin das Diakonissenhaus verlassen musste, wie sie 1941 ins Ghetto nach Riga deportiert wurde. Sie erzählt von Weihnachtsabenden im Konzentrationslager und von Vergewaltigungen auf der Flucht zurück nach Hannover. Und davon, wie sie später von ihren Erlebnissen geschwiegen hat, weil niemand sie hören wollte in der Nachkriegszeit. Hilde Schneider erzählt von früher, so wie das alte Leute eben tun. Sie ist keine Heldin, keine Widerstandskämpferin, auch kein für immer gebrochenes Opfer. Nur eine Frau, die sich bewahrt hat, was sie erlebte, und die heute bereit ist, ihre Erinnerungen zu teilen. Ohne Mythos, ohne Verklärung. Sie erzählt einfach Geschichten. Zum Beispiel diese:

»Bibel und Gesangbuch war natürlich verboten, aber ich habe sie durch gekriegt. Manchmal habe ich sie eingepackt in ein Handtuch, wenn wir verschoben wurden, wir blieben ja nicht immer an einem Ort. Wir mussten uns völlig nackt ausziehen und durften nur einen Waschbeutel haben, da konnte ich aber die Bibel nicht reintun. Deshalb hatte ich sie unter einen Strohsack gelegt, in der Hoffnung dass ich sie so mitkriegen konnte. Da war aber ein SS-Mann, der hat die nackten Frauen geschlagen und rumgeschrien, und ich dachte, was kannst du jetzt machen, du brauchst die Bibel, du kannst nicht anders. Wir durften die eigentlich nicht anreden, sondern wir mussten warten, bis wir angeredet wurden. Aber ich hab mir gedacht, Schluss, aus, mit den Schuhen in der Hand, damit er reingucken konnte, und völlig nackig sagte ich, ich möchte gerne meine Bibel mitnehmen. Dem sind fast die Augen aus dem Kopf gerollt. Er hat gefragt, wo sie ist, und ich bin hingegangen, hab sie unter dem Strohsack rausgeholt, er hat drin rumgeblättert, hat sie mir dann hingegeben und gesagt: Nimm sie mit – als ob er mir den Segen geben wollte. Und dann fing er wieder an, die Frauen zu schlagen undzu schreien. Solche Erlebnisse, die haften an einem, da weiß man wieder ganz genau, Gott ist da«.

Als evangelische Christin gehörte Hilde Schneider keiner der großen Gruppen von Verfolgten an. Nach dem Krieg kehrte sie als Theologiestudentin und Pfarrerin in das protestantische, traditionell deutsch-nationale Milieu ihrer Herkunft zurück. Zum Thema Nationalsozialismus wurde hier vornehm geschwiegen.

Die einzigen, mit denen Hilde Schneider ihre KZ- und Lagererfahrungen teilte, waren deshalb für lange Zeit die Inhaftierten im Frauengefängnis Frankfurt-Preungesheim, wo sie als Seelsorgerin arbeitete. Auch wenn es unter ihren Kollegen und Kolleginnen in der Kirche durchaus bekannt war, dass sie im dritten Reich in einem Lager gewesen war – so die damals übliche, verharmlosende Umschreibung des KZ-Terrors – hatte doch nie jemand mit ihr darüber sprechen wollen. Und Hilde Schneider ist nicht der Typ, der sich aufdrängt. Fast fünfzig Jahre dauerte es, bis jemand nachfragte.

Eher per Zufall machte 1994 der Frankfurter Journalist Hartmut Schmidt ihre Bekanntschaft. Er wollte mit ihr ein Gespräch für einen Artikel über sie als eine der ersten Pfarrerinnen in Hessen machen, und dann erzählte sie ihm ihre Lebensgeschichte. Drei Stunden. Er war sich schnell darüber im Klaren, dass man darüber keinen einfachen Artikel schreiben kann, sondern dass das eine größere Geschichte ist. So wurde die Lebensgeschichte von Hilde Schneider schließlich aufgeschrieben. 300 Seiten Erinnerungen und gegenrecherchierte Fakten, die das Schicksal einer Christin jüdischer Herkunft schildern. Sie bringen die immer noch unfassbare Geschichte des Nationalsozialismus gleichzeitig nahe und lassen sie auch komplizierter erscheinen, weil die gewohnte Täter-Opfer-Grenzlinie durcheinander gebracht wird.

Hilde Schneider wurde im November 1916 als Kind einer gutbürgerlichen, deutschen, evangelischen Arztfamilie geboren. Ihr Vater, Paul Schneider, betrieb in Hannover eine gutgehende Praxis, die Mutter, Else, war ihrem Mann zu Liebe bei der Heirat zum Christentum konvertiert. Hildes Kindheit war überschattet vom frühen Tod ihrer Mutter 1930 und von der Wiederheirat ihres Vaters mit einer viel jüngeren Frau, mit der sie sich nicht vertrug. Als Adolf Hitler 1933 an die Macht kam, war man auch im Hause Schneider begeistert. Paul Schneider, Kriegsveteran, Träger des Eisernen Kreuzes und Mitglied im deutsch-nationalen Frontkämpferbund »Stahlhelm«, hängte ein Bild des Führers in der Wohnung auf, und auch die 16jährige Hilde ließ sich von der Euphorie anstecken. Die beginnende Verfolgung der Juden bezog sie nicht auf sich selbst. Sie wusste zwar von der jüdischen Herkunft ihrer Mutter, nicht aber, dass auch ihr Großvater väterlicherseits Jude gewesen war und dass sie nach den nationalsozialistischen Rassegesetzen damit als Volljüdin galt. Von den ersten Entrechtungen der Juden war die Familie noch nicht betroffen, denn als Frontkämpfer konnte Paul Schneider seinen Beruf zunächst weiter ausüben. Kontakte zur jüdischen Bevölkerung hatten die Schneiders nicht. Dass Hilde 1934 die Schule verließ und Diakonisse werden wollte, hing vor allem mit der gespannten Situation zu Hause zusammen. Sie wollte ausziehen und auf eigenen Füßen stehen. Im Diakonissenhaus Henriettenstift in Hannover begann sie eine Ausbildung zur Krankenschwester. Und sie fand Zugang zu einer persönlichen Frömmigkeit, die ihren weiteren Lebensweg prägte. Vor allem die Lehrschwester Frieda Teupke wurde für Hilde Schneider eine gute Freundin und ein religiöses Vorbild: Von ihr lernte sie, dass Glaube stark macht. Dass Frieda Teupke gleichzeitig eine überzeugte Nationalsozialistin war, war für Hilde Schneider weniger wichtig.

Im Henriettenstift wurden die neuen politischen Verhältnisse in Deutschland begrüßt wurden, erinnert sich Hilde Schneider: »Wenn Hitler Geburtstag hatte, mussten wir mit einer Laterne um den Tisch herum gehen und singen. Aber trotzdem war ich dort glücklich, ich hatte ja auch sonst niemanden. Wir hatten einige alte Schwestern, die haben mir geholfen, und dann war daeben die Schwester Frieda, die Lehrschwester, die waren eben wirklich christlich eingestellt. Und ich habe gewusst, ich bin nicht alleine«.

Bild

Das Glück, bei den Diakonissen eine Heimat zu finden, dauerte vier Jahre. Nach der Pogromnacht Ende 1938 sah sich Hilde Schneider mit voller Härte der Judenverfolgung ausgesetzt. Ihr älterer Bruder Kurt floh mit seiner Frau aus Deutschland, und Hilde musste Schmuck und Wertsachen, die sie nach dem Tod ihres Vaters 1935 geerbt hatte, abgeben. Auch im Krankenhaus, in dem sie arbeitete, und unter den Diakonissen verschlechterte sich die Stimmung ihr gegenüber. Man legte ihr nahe, auszuwandern, doch alle Bemühungen um eine Ausreise scheiterten. Im Frühsommer 1939 wurde Hilde Schneider zum ersten Mal bei der geheimen Staatspolizei, der Gestapo, vorgeladen, in ihrer Meldekarte wurde das »L« für lutherisch gestrichen und durch »Jüdin« ersetzt, ihr Vorname mit dem Zusatz »Sara« versehen.

Irgendwie war nun klar, dass sie im Diakonissenhaus nicht bleiben konnte. Als sie im Sommer 1939 ihre Schwesterntracht zurückgab, versuchte niemand, sie von diesem Schritt abzuhalten. In Hilde Schneiders Erinnerung mischt sich eine Spur von Bitterkeit: »Ich habe es ihnen nicht übel genommen, denn ich war natürlich eine Last für sie. Man merkt das ja, wenn man eine Last ist. Sie haben es mir nicht direkt gezeigt, aber mein Austritt ging ja nicht von mir aus. Ich bin nicht gegangen, sondern ich bin gegangen worden«.

Hilde Schneider musste aus dem Diakonissenwohnheim ausziehen und mietete ein kleines Zimmer. Regelmäßig wurde sie jetzt von der Gestapo vorgeladen. Das Krankenschwester-Examen legte sie im März 41 im jüdischen Krankenhaus ab, wo sie zunächst auch arbeiten konnte. Doch ab August wurde sie zur Zwangsarbeit in einer Fabrik verpflichtet.

Nach ihrem Austritt aus dem Diakonissenhaus besuchte Hilde Schneider weiterhin die Gottesdienste in der dortigen Kirche, wobei sie sich bemühte, den Judenstern mit einer Tasche zu verdecken. Auch am 2. November 1941 schlich sie sich durch den Seiteneingang in den Gottesdienst. An diesem Tag wurden die Diakonissen eingesegnet, die zusammen mit ihr ins Henriettenstift eingetreten waren. Es hätte auch ihr Einsegnungstag sein sollen. Tatsächlich war es ihr vorerst letzter Gottesdienstbesuch. Kurz darauf ließ ihr die Oberin nämlich ausrichten, sie, eine Jüdin, dürfe die Kirche nicht mehr betreten.

Wenn man diese Geschichte hört, macht sie erst einmal wütend. Doch auf den zweiten Blick wird das Urteil komplizierter, meint Hartmut Schmidt: »Das alles ist sehr widersprüchlich. Es ist keine schwarz-weiß-Geschichte, sie das Opfer, dort die Täter. Hidle Schneider selber sagt immer, was wäre gewesen, wenn ich nicht plötzlich zur Jüdin gemacht worden wäre, wo wäre ich gestanden?« Frappierend daran ist vor allem, dass Hilde Scheneider gegenüber der Kirche und besonders gegenüber dem Diakonissenhaus Henriettenstift in Hannover, keinerlei Groll hegt – im Gegenteil: Immer wieder betont sie, dass sie dort einen Glauben und ein Gottvertrauen gelernt hat, eine Stärke, ohne die sie die Zeit in Ghetto und KZ nicht überstanden hätte.

Diese Widersprüchlichkeit wird vor allem in der Freundschaft zu Frieda Teupke deutlich, der Lehrschwester, die flammende nationalsozialistische Reden hält. Die ihre Meinung auch nicht ändert, als ihre Freundin in die Verfolgungsmühlen der Gestapo gerät. Als Hilde Schneider von den Zuständen in den sogenannten Judenhäusern berichtet, den Quartieren, in denen die jüdische Bevölkerung vor der Deportation leben musste, herrscht Frieda Teupke sie an: Sie solle nicht solche Lügenmärchen erzählen. Gleichzeitig ist sie doch aufrichtig über Hildes Schicksal besorgt. Obwohl ihr das vom Henriettenstift verboten wird, besucht sie Hilde Schneider regelmäßig in ihrem kleinen Zimmer, gemeinsam lesen sie in den Psalmen. Eine achtseitige Bucheinlage mit Bibelworten, die Frieda Teupke ihr schenkt, wird für Hilde Schneider die ganze Zeit in Ghetto und Konzentrationslager eine Quelle der Kraft und des Gottvertrauens sein. Im Dezember 1941 wird sie, gerade 21 Jahre alt, in den Osten deportiert.

Hilde Schneider erzählt: »Ich lebte eigentlich schon immer mit gepacktem Tornister. Es war mir ja ganz klar, dass ich weg kam. Gut, man hofft dann immer noch irgendwo heimlich im Herzen, vielleicht musst du nicht weg, aber, nein, ich war gleich beim ersten Transport und auch bei den ersten Leuten, die reinkamen. Zuerst haben wir fünf Tage in Hannover im Lager verbracht, wo sie alle zusammen geholt haben, und da wurde alles aufgeschrieben. Montags bin ich reingekommen, und Freitag sind wir dann losgefahren. Fünf Tage waren wir, glaub ich, unterwegs, und wir hatten keine Ahnung, wohin es ging. Dann landeten wir in Riga und mussten lange laufen bis ins Ghetto. Dort kamen wir dann in Wohnungen rein, wo alles auf der Erde lag, wo das Essen noch im Herd stand, die Türen waren aufgerissen, es war furchtbar.«

27.000 lettische Jüdinnen und Juden waren im Rigaer Ghetto ermordet worden, um Platz für die Deportierten aus Deutschland zu schaffen. Im Januar 1942 kamen fast jeden Tag tausend sogenannte »Reichsjuden« im Ghetto an – insgesamt 50.000 Menschen, von denen weniger als 700 überlebten. Sie mussten in »Kommandos« arbeiten, beim Schneeschippen, im Lazarett, in Fabriken. Zugeteilt wurden die Arbeiten durch die sogenannte »Selbstverwaltung« des Judenrates, der auf Befehl der Nazis in allen jüdischen Ghettos gegründet werden musste. Keine leichte Situation für Hilde Schneider: »Ich war ja unter lauter Juden allein, und die haben mich irgendwo nicht ganz akzeptiert, denn ich war ja keine richtige Jüdin in ihren Augen, ich war Christin, und dadurch hab ich eben dann auch nicht soviel Kontakt gehabt. Einmal fragte ich, ob ich vielleicht im Kindergarten arbeiten könnte. Aber da sagte die zuständige Dame, dass sie das nicht gerne möchten, denn sie wollten die Kinder ganz jüdisch erziehen, die hatten Angst, dass ich da irgendwie Einfluss nehme, nun ja, ich hab das verstanden. Aber deshalb musste ich nachher raus auf die Kommandos. Und laufen.«

Hilde Schneider las täglich in der Bibel. Zum Geleitwort für die Zeit im Ghetto wie auch später im Konzentrationslager wurde der Satz: »Ihr gedachtet's böse mit mir zu machen; aber Gott gedachte es gut zu machen« aus dem ersten Buch Mose. Der Glaube, so erzählt sie, half, die Zeit zu überstehen, und auch die zerlesene Bibel mit dem Einlageblatt der Freundin Frieda: »Ich bin manchen Tag aufgewacht und habe gedacht, ich kann nicht mehr, aber zum Glück hatte ich meine Bibel. Meine Güte, wo hab ich die überall rumgetragen, hab ich sie eingewickelt in das Rollo, im Strohsack versteckt, alles nur damit sie nicht wegkam«.

Es war ein einsamer Glauben. Begegnungen mit anderen Christen waren selten, an diese raren Gelegenheiten erinnert sich Hilde Schneider gut: »Einmal lag ich im Krankenhaus und hatte ein kleines Bildchen von meinen beiden Freundinnen, Diakonissen, über dem Bett aufgehängt. Und auf einmal kommt da so ein junger Mann rein, es war Besuchszeit, er guckt sich um, und dann sieht er das Bild und stürzt auf mich zu und sagt, ja, Sie sind es, die Christin. Er hat mir erzählt, er käme aus Wien, Österreicher, er hatte seine Eltern schon verloren, hatte allerdings noch eine Tante dabei. Ich weiß nicht, von wem er von mir gehört hatte, aber wir haben dann den ganzen Nachmittag, solange Besuchszeit war, die Bibel durchgeblättert, und von da an kam er mich immer besuchen.«

Gebetet hat Hilde Schneider vor allem auch bei den sogenannten Selektionen, bei denen die SS darüber bestimmte, wer zur Ermordung ins Vernichtungslager Auschwitz gebracht wurde und wer noch für Arbeitseinsätze zu gebrauchen war und daher am Leben bleiben durfte. Im August 1943 wurde Hilde Schneider ins Konzentrationslager Riga-Kaiserwald gebracht und dort zu schwerer körperlicher Arbeit auf dem Flughafen von Riga eingeteilt, was jeden Tag kilometerlange Märsche bedeutete. Im Winter kam sie dann in ein Arbeitskommando bei der AEG in Riga, später konnte sie wieder als Krankenschwester arbeiten. Sie überlebte. Im Sommer 1944, nach den ersten russischen Luftangriffen auf Riga, bereitete die SS die Evakuierung des Konzentrationslagers vor. Aus dem geordneten Rückzug wurde bald ein chaotisches Durcheinander, und Hilde Schneider gelang, zusammen mit anderen KZ-Insassen, die Flucht. Sie erzählt:

»Wir waren nach Bromberg reingekommen und kamen in einem Schuppen unter, den wir aber nicht abschließen konnten, Licht hatten wir auch nicht. Wir waren, glaube ich, sieben Leute. Und dann kam so ein kleiner Russe rein, der legte sich in meine Arme und schlief ein. Später hat er uns ein bißchen Weißbrot und Leberwurst gebracht, das hatten wir lange nicht mehr gegessen. Aber dann kamen noch andere, ganz gemeine Kerle. Die sind immer zu uns beiden gegangen, zu der Frau, die neben mir lag, und zu mir. Und dann hat meine Nachbarin immerfort geschrien, sie kann nicht mehr, der hat die also vergewaltigt. Und dieser Kerl, der bei mir lag, der hatte sich auch auf mich gelegt, aber er hatte ein Gewehr und das hat ihn natürlich behindert. Dann hat er mich gefragt, ob ich krank wäre, ich hatte nämlich überall da, wo die Läuse gewesen waren, solche Eitersachen. Und ich Schafskopf habe beleidigt gesagt, nein, und als ich ihm nachher erklären wollte, dass ich doch krank wäre, hat er mir das nicht abgenommen. Aber dann hat er sich aufgesetzt und das Gewehr weggelegt, und da bin ich bin unter ihm weggekrochen und hab mich ganz woanders hingelegt. Wir hatten ja kein Licht, da war ich also gerettet.«

Irgendwie schaffte es Hilde Schneider im Lauf der nächsten Monate, sich bis nach Hannover durchzuschlagen, wo sie im Juni 1945 ankam. Im Diakonissenhaus hieß man sie willkommen, doch sie konnte nicht einfach wieder zurück kommen und so tun, als sei in der Zwischenzeit nichts geschehen. Die Überlebenden des Holocaust hatten nach dem Krieg mit vielen Diskriminierungen und Hürden zu kämpfen. Im national gesinnten, protestantischen Milieu, in das Hilde Schneider zurück kehrte, gab es in diesen ersten Nachkriegsjahren so gut wie keine Bereitschaft, sich mit der eigenen Schuld auseinander zu setzen, meint Hartmut Schmidt: »Hilde Schneider kam zurück, froh und glücklich, überlebt zu haben, und gleichzeitig auch unglücklich, überlebt zu haben, weil sie erlebt hat, dass die meisten, mit denen sie deportiert worden war, nicht überlebt hatten. Sie musste erst langsam ihre eigene, neue Rolle finden. Es lag ihr fern, als Fordernde zurückzukehren. Zum Beispiel forderte sie Dinge aus ihrer Habe, die sie vor der Deportation Freundinnen oder anderen Personen gegeben hatte, darunter wertvolles Essbesteck oder Geschirr, nicht zurück. Sie war aber natürlich zutiefst enttäuscht, dass ihre Freundinnen, denen sie das gegeben hatte, zum Teil gar nicht auf den Gedanken kamen, ihr das zurückzugeben. Das muss sich alles tief in sie eingeprägt haben, in ihre Enttäuschungen nach 45. Und nicht nur, dass man sie nicht hören wollte. Von einer Freundin wurde sie sogar als Angeberin bezeichnet, wenn sie von ihrer Geschichte erzählt. Stattdessen redeten alle über ihre eigenen Leiden, die Bomben auf Hannover oder die Flüchtlinge, darüber wurde viel mehr geredet als über das, was jüdischen Menschen geschehen war. Und so war das wohl eine Gesellschaft des Selbstmitleids, in der für Personen wie Hilde Schneider wenig Platz war.«

Doch statt sich in aussichtslosen Konflikten zu verausgaben, ging Hilde Schneider nun zielstrebig ihren Weg. In ihr war ein Entschluss gereift: Ihre eigenen Hafterfahrungen, so glaubte sie, könne sie am sinnvollsten verarbeiten, indem sie nun anderen Gefangenen beisteht. Sie beschließt, Gefängnispfarrerin zu werden: »Ich hab mir immer gedacht, ich könnte die doch am besten verstehen. Irgendwie war mir klar, dass ich da eine Aufgabe hatte, dass ich das weitergeben muss, dieses Wissen von Geborgenheit«.

Unbeeindruckt von den Problemen, die ein Theologiestudium damals für eine Frau bedeutete, zumal für eine 27-jährige Krankenschwester ohne Abitur und finanzielle Mittel, strebte sie nun dieses Ziel an. Sie erhob keine Forderungen, war aber dankbar für jede Hilfe und Unterstützung, die sie bekommen konnte. In einem Knabengymnasium machte sie das Abitur nach, in Göttingen studierte sie Theologie, machte ihr Vikariat bei der landeskirchlichen Frauenarbeit in Hannover, musste dann einige Zeit als Stadtvikarin in Bremerhaven arbeiten, bis sie endlich im Dezember 1959 die ersehnte Stelle antreten konne: Hilde Schneider wurde die erste hauptamtliche Pfarrerin im Frauengefängnis Frankfurt-Preungesheim: »Im Gefängnis habe ich Frauen getroffen, die hatten so viel Schweres erlebt, die kamen aus fürchterlichen Verhältnissen, die Familien waren keine Familien. Und da habe ichihnen erzählt, dass man etwas durchstehen kann. Sie wussten, dass sie mir alles erzählen. konnten.Man muss als Gefängnispfarrerin da sein, mit den Frauen dort leben, das ist das wichtigste. Und ich verstand sie ja. Die haben sich immer heimlich amüsiert über mich. Da waren zum Beispiel ja immer mehrere Schlüssel an meinem Schlüsselbund, und ich habe die Zellen immer sehr vorsichtig aufgeschlossen, damit das nicht so klirrte, denn ich wusste ja, wie das ist, wenn man drinsitzt und dann kommt jemand. Es war für mich eine sehr schöne Zeit«.

Wenn Hilde Schneider ihre eigenen Erfahrungen im Konzentrationslager mit der Situation der Gefängnisinsassinnen vergleicht, dann stellt sie nicht die Frage der Schuld. Es macht für sie keinen Unterschied, warum jemand gefangen ist, denn es geht ihr allein darum, die Erfahrung von Gottes Beistand zu vermitteln – eine Zusage, die für Schuldige und Unschuldige gleichermaßen gilt: »Mir ging es eben darum, dass sie wirklich kapierten, dass sie nicht allein waren, sondern dass Gott immer mit ihnen ist. Zuhause hatten das doch viele nicht gelernt, aber ich hatte das ja nun selber an mir erfahren«.

Damals, in den frühen sechziger Jahren, war das ein ganz neuer Ansatz in der Gefangenenseelsorge, den Hilde Schneider auch in einigen Aufsätzen publizierte. Weil aber nicht bekannt war, dass ihr Verständnis von Seelsorge etwas mit der persönlichen Lebenserfahrung als KZ-Häftling zu tun hatte, wurde das nicht verstanden. Die meisten ihrer Kolleginnen und Kollegen hielten Hilde Schneider einfach für ein bisschen zu fromm. Sie verstanden nicht, dass sie keine Moralpredigten hielt, sondern eigene Erfahrungen weitergab. Von Gottvertrauen zu reden, das war für diejenigen, die so etwas nicht selbst erlebt hatten, einfach eine Floskel.

Hilde Schneider setzte sich vor allem dafür ein, den Gefangenen ihre Situation möglichst zu erleichtern: »Ich bin ja häufig zu Tagungen für Gefängnispfarrer gefahren, und da wurde berichtet, dass manche mit den Gefangenen rausgingen und zum Beispiel Sport machten. Da dachte ich, das muss ich doch eigentlich auch können. Wir machten dann Ausflüge und konnten manchmal auch noch in den Wald gehen, die Frauen waren ja Jahrelang nicht rausgekommen aus dem Gefängnis. Aber eine war dabei, die kam nicht mit. Da bin ich zu ihr hingegangen und habe sie gefragt, warum nicht, und da sagte sie zu mir: Nein, ich würde Ihnen davonlaufen, das will ich Ihnen nicht antun. Die wussten eben, dass ich es gut mit ihnen meine. Unddas sind natürlich die Dinge, die einen glücklich machen«.

Seit sie im Ruhestand lebt, habe sie öfter mal darüber nachgedacht, ihre Lebensgeschichte zu erzählen, sagt Hilde Schneider. Doch es kam immer etwas dazwischen. Viele Jahre lang pfegte sie eine kranke Freundin, dann stand sie sterbenden Menschen auf der Pflegestation ihres Altenheimes bei. Eine kleine, unscheinbare Frau mit freundlichem Wesen, bei der niemand eine solche Lebensgeschichte vermutete, einfach deshalb, weil sie immer die Helfende war, nie das Opfer. Hilde Schneider passt in kein Klischee und gerade deshalb ist es ihre Geschichte wert, erinnert zu werden. Zum Glück hat sie schließlich doch noch jemand danach gefragt.

Diese Sendung lief am 9. November 2001 im Hessischen Rundfunk (hr2)

Literatur: Hartmut Schmidt: Zwischen Riga und Locarno. Bericht über Hilde Schneider, Wichern-Verlag, Berlin.