Brauchen wir »große Frauen«?
Vom Sinn und Unsinn historischer Frauenforschung
Früher kam die Geschichte weitgehend ohne Frauen aus. Es gab die ein oder andere, Kleopatra vielleicht oder Marie Curie, die Erwähnung fanden, weil sie mit wichtigen Männern verbandelt waren oder »obwohl sie Frauen waren« etwas Außergewöhnliches getan hatten. Aber im Prinzip war die Historie bis vor wenigen Jahrzehnten eine Angelegenheit, die die Männer unter sich ausmachten.
Heute, nach fast 40 Jahren historischer Frauenforschung, hat sich das sehr verändert. In jeder halbwegs sortierten Unibibliothek kann man sich über Frauen in allen nur erdenklichen Epochen und Regionen informieren, von ihrer Rolle in der »geheimnisvollen Kultur der Elamer in Alt-Iran« bis zu den katholischen Frauen im Wiesbaden des frühen 20. Jahrhunderts. Dieser neue Reichtum eines geschlechterbewussten Blicks auf die Geschichte hat sich auch in der Populärkultur niedergeschlagen. Das Segment der Historienromane mit starken weiblichen Protagonistinnen boomt. Offensichtlich ist es für viele Frauen faszinierend, sich in die Lage von – realen oder fiktiven – Geschlechtsgenossinnen vergangener Zeiten hinein zu versetzen.
Es ist natürlich wunderbar, dass Frauen nun auch »gegenderte« Identifikationsfiguren in der Geschichte finden, also solche, die nicht nur dieses oder jedes Thema reflektieren (wobei ja auch männliche Figuren zur Identifikation dienen können), sondern eben auch die Geschlechtszugehörigkeit. Allerdings gilt es dabei zwei Fallstricke zu beachten.
Der erste Fallstrick liegt in der Gefahr, durch einen gesonderten Blick auf weibliche Lebensumstände auch weibliche Konformität herzustellen, also von den Frauen zu sprechen. Dass diese Gefahr besteht, zeigen die vielen Titel, die mit »Frauen in…« beginnen. Aus dieser Perspektive ist die historische Frau nicht handelnde Persönlichkeit, sondern Repräsentantin ihres Geschlechts. Als ich zum Beispiel meine Magisterarbeit über die Konflikte zwischen Arbeiter- und Frauenbewegung im 19. Jahrhundert schrieb, bemängelte mein Gutachter, ich hätte die sozialen Lebensbedingungen von Frauen nicht genügend dargestellt. Allerdings: Wann hätte sich jemals ein Buch über Marx und Engels erst einmal mit den sozialen Lebensbedingungen von Männern in jener Zeit beschäftigt?
Auch Feministinnen unterlaufen solche Denkfehler: Als ich auf einer Historikerinnentagung argumentierte, die von mir untersuchten Sozialistinnen wären in eine Internationale Arbeiter-Assoziation eingetreten, um das Auseinanderdriften von Sozialismus und Feminismus zu verhindern, widersprach eine Kollegin, und zwar mit dem aufschlussreichen Argument, dass Frauen »ja in der Regel über ihre Verbände, also kollektiv« dort eingetreten seien.« Sind also Frauen, die nicht die Regel ihrer Geschlechtsgenossinnen repräsentieren, für die Frauenforschung uninteressant?
Nicht grundsätzlich: An einem Punkt interessiert frau sich durchaus für Dissidentinnen, und zwar immer dann, wenn es um Vorkämpferinnen der Emanzipation geht. Also um Frauen, die »auch damals schon« ähnliche Forderungen aufstellten wie wir heute, oder die »auch damals schon« Dinge taten, die eigentlich noch den Männern vorbehalten waren. Ihren Status als Repräsentantinnen des weiblichen Geschlechts verlieren sie dadurch aber nicht: Sie müssen zwar nicht mehr ihre Zeitgenossinnen repräsentieren, dafür aber uns Heutige.
Natürlich ist Geschichtsschreibung niemals objektiv, sondern betrachtet die Vergangenheit immer durch den Filter der gegenwärtig aktuellen Fragen. Allerdings sollte das zumindest kritisch reflektiert werden: Denn ein solcher Blick blendet eben notwendigerweise vieles aus, was diese Frauen sonst noch ausmacht, ganz abgesehen davon, dass unzählige höchst interessante Frauen bisher nicht erforscht wurden, weil sie nicht in dieses Schema passen.
Noch wichtiger ist aber – und das ist der zweite Fallstrick – dass eine solche Perspektive Gefahr läuft, sich kritiklos einer überlieferten Vorstellung von »Größe« anzuschließen. So als müsse historische Frauenforschung die Lücken auffüllen, die die traditionellen Geschichtsbücher aufweisen, indem sie zu Unrecht »vergessene« Frauen ans Licht holt. Nicht zufällig werden ja seit einiger Zeit gerne Lexika aufgelegt, die den Kanon der »wichtigen« Männer um entsprechend »wichtige« Frauen ergänzen. Aber: War die Apostelin Junia denn wirklich so bedeutend wie Paulus? War Rosa Luxemburg so bedeutend wie Karl Marx?
In der traditionellen Sichtweise – derjenigen also, die Frauen zunächst aus der Geschichtsschreibung ausgeschlossen hat und sie jetzt »integrieren« möchte – glaubt man, es sei mehr oder weniger objektiv auszumachen, wann ein historisches Ereignis oder eine historische Figur als »bedeutend« zu gelten hat. Die historische Frauenforschung hat sich, zu Recht, in diese Diskussion eingemischt und kulturelle Wertigkeiten neu definiert: etwa argumentiert, dass es nicht darum gehe, Kriege und Staatsverträge in den Mittelpunkt zu stellen, sondern Alltagsleben und Beziehungsformen, oder dass die Erfindung der Nähmaschine genauso wichtig gewesen sei wie die der Feuerwaffe.
Allerdings wird damit nur der Inhalt der bisherigen Kriterien in Frage gestellt, während die Annahme, dass es solche Kriterien geben muss, unbestritten bleibt. Ich glaube aber, dass wir noch einen Schritt weiter gehen und das Konzept von »objektiver Wichtigkeit« selbst hinterfragen müssten. Gerade die Abwesenheit der Frauen aus der herkömmlichen Geschichtsschreibung könnte dafür ein guter Ausgangspunkt sein. Denn sie ist der Beweis dafür, dass das, was offiziell als wichtig gilt, nicht unbedingt das ist, was uns selbst bewegt und betrifft. Die Abwesenheit von Frauen aus den Geschichtsbüchern macht uns daher frei, uns denjenigen historischen Ereignisse zuzuwenden, die uns berühren, ohne uns an einem vorgegebenen Kanon im Wichtigkeits-Ranking zu orientieren.
Möglicherweise ist auch das große Interesse vieler Frauen an Historienromanen mit weiblichen Protagonistinnen ein Hinweis in diese Richtung. Diese Leserinnen sind nämlich nicht einfach an »objektiven« Fakten interessiert, sondern sie verknüpfen beim Lesen ihr persönliches Interesse, ihre subjektive Situation mit einem objektiven historischen Geschehen: Worin inspiriert mich diese Frau? Wo finde ich in ihrem Leben, in ihrem Handeln Vermittlungen für das, was ich selbst will, denke und fühle? Wer mit solchen Fragen an die Geschichte heran geht, muss keinen Wert mehr auf eine angeblich »objektive Wichtigkeit« historischer Personen oder Ereignisse legen. Oder anders gesagt: Ich kann mich auch für eine Frau interessieren, die alle anderen für gänzlich unbedeutend halten. Entscheidend ist, dass sie für mich eine Bedeutung hat.
So ein Geschichtsverständnis würde im Übrigen auch die alte Trennung zwischen »subjektiver Fragestellung« und »objektiven Fakten« überwinden, die den männlichen Historikern so sehr zu schaffen macht: Es würde ja gerade den kritischen Dialog zwischen heute und gestern ins Zentrum rücken. Das subjektive Begehren steht nämlich der Objektivität der Fakten nicht mehr entgegen, wenn es in der Geschichte nicht Repräsentation des eigenen Selbst sucht, sondern im Gegenteil die Kontroverse, die Herausforderung, die Differenz, das Andere. Dann treten Geschichte und Gegenwart tatsächlich in einen lebendigen Austausch, wird »Wichtigkeit« jenseits von »Objektivität« neu definiert – und zwar nicht nur theoretisch, sondern real, verkörpert in jeder Frau, die sich ernsthaft und engagiert mit der Vergangenheit beschäftigt.
In: Zeitung des Deutschen Frauenrates, Dezember 2007