Antje Schrupp im Netz

Verzehrende Leidenschaft: Gottesliebe

O-Ton: Bruder Paulus Terwitte: Ich liebe Gott über alles. Das bedeutet, dass er für mich die Mitte meines Lebens ist und dass nichts, was geschieht, ohne ihn geschieht.

Elke Badur-Siefert: Wenn wir uns eins fühlen mit Gott oder mit uns selbst im Einklang sind, dann ist das für mich auch Liebe. Dann ist es egal, ob ich Wut, Schmerz, Trauer, Einsamkeit habe. Also Liebe ist dann, ich fühl mich Eins mit dem Größeren, mit dieser Urkraft, mit dieser Quelle in mir, und mit mir selbst natürlich dadurch.

Bruder Paulus Terwitte: Einerseits denk ich mir, du Gott bist in allem und du bist die Liebe in allem, und andererseits: Ich bin derjenige, der dich darin lieben darf. Wenn ich also die Schöpfung sehe, dann liebe ich den Schöpfer, und wenn ich den Menschen sehe, dann liebe ich den, der den Menschen geschaffen hat.

Elke Badur-Siefert: Man könnte sogar sagen, in dieser Einheit, in diesem Einheitsgefühl, in diesem Einheitszustand, in dieser Präsenz bin ich fähig, durch alle Gefühle hindurch zu lieben. Durch alle Gefühle hindurch.

Wenn religiöse Menschen ihr Verhältnis zu Gott beschreiben, fällt unweigerlich das Wort Liebe. Das ist heute nicht anders als zu Zeiten des israelischen Königs Salomo. Dessen Hohelied ist eine der schönsten – und erotischsten – Sammlungen von Liebesliedern.

Sprecherin Frau: Mein Freund ist weiß und rot, sein Haupt ist das feinste Gold. Seine Locken sind kraus, schwarz wie ein Rabe.

Sprecher Mann: Dein Haar ist wie eine Herde Ziegen, die herabsteigen vom Gebirge Gilead. Dein Lippen sind wie eine scharlachfarbene Schnur, und dein Mund ist lieblich.

Sprecherin Frau: Seine Augen sind wie Tauben an den Wasserbächen, sie baden in Milch. Sein Leib ist wie reines Elfenbein, mit Saphiren geschmückt. Seine Beine sind wie Marmorsäulen, gegründet auf goldenen Füßen.

Sprecher Mann: Dein Hals ist wie der Turm Davids, mit Brustwehr gebaut, an der tausend Schilde hängen, lauter Schilde der Starken. Deine beiden Brüste sind wie junge Zwillinge von Gazellen, die unter den Lilien weiden.

Sprecherin Frau: Sein Mund ist süß, und alles an ihm ist lieblich.

In der christlichen Tradition gilt das Hohelied als poetischer Dialog zwischen Christus und seiner Braut – der Kirche. Ist Religion, die Beziehung zu Gott, etwa so erotisch wie die beste Liebesgeschichte? Viel besser, meint Paulus Terwitte. Der Frankfurter Kappuzinermönch hat dafür sogar auf eine weltliche Liebe ganz verzichtet.

Bruder Paulus Terwitte: Ich habe in meinem Leben erfahren, als ich 16 war, dass ich eigentlich nichts anderes im Kopf hatte, als Gott lieben zu wollen, ich wollte das Evangelium leben, ich wollte für die Kirche arbeiten. Die Freundin, die ich hatte, hat schon gemerkt, dass ich kein Interesse daran hatte, mit ihr irgendwie so mehr zu verbringen, als gerade nötig war, und wenn ich im Gottesdienst war, hab ich eine solche Erfüllung gespürt, die war viel tiefer, als mit meiner Freundin zusammen zu sitzen und zu poussieren oder so etwas. Und als ich die Entscheidung gefällt hatte, ich geh ins Kloster, war das für mich eine Entscheidung: Ich will mich ganz zur Verfügung stellen mit meinem ganzen Leib für diesen Gott und gleichzeitig natürlich auch als Mann, als potenter Mann, als erotischer Mann mit der Frage, ja und wie leb ich das jetzt, wenn ich das nicht so ausleben darf?

Mit dem Entschluss, seine ganze erotische Energie allein der Liebe zu Gott zu widmen, erfüllt Bruder Paulus Terwitte, wie alle katholischen Priester und Ordensleute, eine Forderung des Apostel Paulus. Der stellte sich Gott gewissermaßen als eifersüchtigen Liebhaber vor, der hundertprozentige Aufmerksamkeit verlangt:

Paulus: Wer ledig ist, der sorgt sich um die Sache des Herrn, wie er dem Herrn gefalle; wer aber verheiratet ist, der sorgt sich um die Dinge der Welt, wie er der Frau gefalle, und so ist er geteilten Herzens. Und die Frau, die keinen Mann hat, und die Jungfrau sorgt sich um die Sache des Herrn, aber die verheiratete Frau sorgt sich um die Dinge der Welt, wie sie dem Mann gefalle.

Dass man aus Liebe zu Gott auf sexuelle Beziehungen zu anderen Menschen verzichten soll, ist allerdings eine speziell christliche Erfindung. Das Judentum und der Islam kennen keinen Zölibat, und auch im Buddhismus oder Hinduismus ist die Ehelosigkeit nicht generell, sondern nur für bestimmte Gruppen von Mönchen und Nonnen ein Ideal. Zwar haben sich inzwischen auch viele christliche Kirchen, etwa die evangelischen, vom paulinischen Appell zur Enthaltsamkeit losgesagt. Doch die Alternative – hier die reine, fromme Gottesliebe, da die weltliche, latent schmutzige Sexualität – hat sich fest in die westliche Kultur eingeschrieben. Aber schließen sich die Liebe zu Gott und die Liebe zu einem anderen Menschen wirklich gegenseitig aus? Nein, meint die Freiburger Philosophin und Theologin Andrea Günter:

Andrea Günter: Für mich ist Liebe die menschliche Art und Weise, sich mit etwas in Beziehung zu setzen, ganz grundsätzlich, und vielleicht kann man das noch spezieller fassen und sagen: Liebe ist die Art und Weise der Seele, sich mit etwas in Beziehung zu setzen. Das heißt, Liebe bezieht sich nicht nur auf das Zwischenmenschliche, sondern kann sich auch auf Gegenstände richten, auf die Welt, und dann natürlich, das was jetzt hier Thema sein kann, auf Gott.

Wenn Liebe eine bestimmte Art ist, sich mit etwas in Beziehung zu setzen, dann ist es unsinnig, diese Liebe zu kategorisieren. Zu unterscheiden zwischen Eros und Freundschaft, erlaubten und verbotenen Beziehungen, körperlicher und geistiger Liebe. Auch die spirituelle Liebe, die Liebe zu Gott, ist nichts Abstraktes, sie hat genauso einen sinnlichen, körperlichen Aspekt, meint die Psychologin und Meditationslehrerin Elke Badur-Siefert:

Elke Badur-Siefert: Man spürt das etwa so in der Herzgegend. Und manchmal merkt man’s, wenn man etwas liest, dass man dann ganz zappelig wird und denkt, ha, das möchte ich gerne… Der Körper ist eigentlich das Instrument, um in diese Einheit, in diese Präsenz, in diese Gegenwärtigkeit zu kommen.

Kontemplation und Körperübungen, so Badur-Siefert, können helfen, sich auf die Begegnung mit Gott einzustellen.

Elke Badur-Siefert: Indem ich einfach wahrnehme, wie stehe ich, wie sind meine Füße auf dem Boden, wie bin ich aufgerichtet, wie fühlen sich meine Hände an, was ist für eine Bewegung in meinem Körper, Herz, das Herz klopft, der Atem geht, und was berühren meine Hände, ja, da gibt es Formen von Körperarbeit, wie fühle ich mich in einer bestimmten Haltung, wenn ich die Hände ausbreite in einer Gebetsgebärde, wie fühlt sich das an, wenn ich ne halbe Stunde den gleichen Tanz tanze mit einer Gruppe von Menschen, und da kann es schon sein, wenn wir da im Kreis stehen und getanzt haben, dass wir sogar auch so was wie Liebe empfinden für die anderen, dass plötzlich eine große Liebe im Raum ist, die alle spüren.

Dass Religion etwas mit Lieben zu tun hat, kommt schon im lateinischen Wortstamm zum Ausdruck: Re-ligere, sich rückbinden. Andrea Günter:

Andrea Günter: Ich glaube, dass man Religion so definieren kann, wenn ich mir zum Beispiel anschaue, was ist eine so genannte primitive Religion, die irgendwelche Naturkräfte verehrt, was da passiert ist, dass die Kräfte, die die Menschen binden, verehrt werden. Also der Regen genauso wie die Sonne. Von daher glaube ich tatsächlich, dass Religion nicht nur vom lateinischen Verb abgeleitet eine Form der Rückbindung ist, sondern ich glaube, dass die Bindungsmächte und –gewalten und –kräfte, die die Menschen erfahren, und die, die sie auch kulturgeschichtlich in den Blick nehmen, da geheiligt werden, verehrt werden, wenn man so will, reflektiert werden in dem Sinne, dass sie symbolisiert werden und Rituale erfunden werden, um sich zu diesen Kräften in Beziehung zu setzen.

Anders gesagt: Einer spirituellen, religiösen Liebe geht es nicht so sehr um die Frage, wen oder was ich liebe – Gott oder meinen Ehemann, meine Arbeit oder mein Haus – sondern um das Lieben als solches. Liebe ich – oder liebe ich nicht? In gewisser Weise war das auch schon für den Apostel Paulus die entscheidende Frage:

Paulus (1. Kor. 13): Wenn ich mit Menschen- und mit Engelszungen redete und hätte die Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle. Und wenn ich prophetisch reden könnte und alle Geheimnisse und alle Erkenntnis hätte, und wenn ich allen Glauben hätte, sodass ich Berge versetzen könnte, und hätte die Liebe nicht, so wäre ich nichts. Und wenn ich alle meine Habe den Armen gäbe und ließe meinen Leib verbrennen, und hätte die Liebe nicht, so wäre mir’s nichts nütze.

Dieser Abschnitt aus dem ersten Korintherbrief wird häufig bei Hochzeiten verlesen. Doch Paulus redet hier nicht über Ehepaare, sondern über die christliche Gemeinde, und mehr noch: über die Gesellschaft insgesamt. Liebe, so Paulus, ist eine Haltung, die überall gefragt ist – bei der Arbeit, in der Politik, im Alltag schlechthin. Und zwar mit gutem Grund. Denn Lieben heißt Erkennen:

Und Adam erkannte seine Frau Eva, und sie ward schwanger und gebar den Kain. Und Kain erkannte seine Frau, die ward schwanger und gebar den Henoch.

Andrea Günter: In der jüdischen Bibel ist das ganz deutlich, einander erkennen heißt auch, miteinander zu schlafen, Dass man etwas oder jemandem nahe ist, erlaubt etwas zu erkennen über die Person oder den Gegenstand oder die Situation. Das ist, glaube ich, sehr einleuchtend, weil wir wissen, wenn wir in einer Situation anwesend sind, wissen wir sehr viel mehr darüber, was da war, auch wenn wir das vielleicht nicht sprachlich so gut auf den Punkt bringen können, wie wenn uns jemand das erzählt. Also dieses Anwesend und bei sein, gebunden sein in etwas und an etwas, das ist eine Form, etwas zu sehen und zu erkennen, zu erleben und das in Wissen zu verwandeln.

Lieben heißt erkennen – heutzutage ist das ein ungewohnter Gedanke. Heißt es doch üblicherweise: Liebe macht blind.

Andrea Günter: Ich denke, es hat ganz viel mit dem Liebesgedanken der Romantik zu tun, Verschmelzungsvorstellungen, Idealisierungsbestrebungen, man suchte den idealen Partner, und da wurde dann der Fokus auf den Partner gelegt, nicht unbedingt auf das gute Lieben, auf die gute Art und Weise zu lieben, auf die Praxis des Liebens. Das denke ich hat sehr stark den Liebesbegriff geprägt in diesen letzten 150 Jahren, es hat sich vermutlich mit der ganzen therapeutischen Kultur, die wir seit dem zweiten Drittel des letzten Jahrhunderts haben, verändert, weil da ganz viel Reflexivität rein kam an dem Punkt, also Lieben heißt schon lange nicht mehr, sich einfach nur hinzugeben, sondern auch sich selbst in Beziehung reinzubringen.

Ebenso wie die Liebe zwischen zwei Menschen missbraucht werden kann, steht auch die Liebe zu Gott immer in der Gefahr, in Schwärmerei umzuschlagen, oder schlimmer noch: in Fundamentalismus und Gewalt. Falsch verstandene Liebe macht oft tatsächlich blind. Ob radikale Muslime, fanatische Hindus oder fundamentalistische Christen – immer wieder leiten Menschen aus ihrer religiösen Überzeugung das Recht, ja sogar die Notwendigkeit ab, ihre Ansichten gewaltsam durchzusetzen. Wann aber ist die Schwelle von religiösem Enthusiasmus und Fanatismus überschritten?

Lutz Lemhöfer: Wenn man die Grenze zwischen Gott und Mensch nicht genau genug zieht. Wenn Menschen sich anheischig machen, sie seien das Werkzeug des lieben Gottes und sie wüssten ganz genau was der mit dieser Erde will. Der will zum Beispiel keine Ungläubigen haben auf Erden, und dann fühlen sich diese Supergläubigen berufen, die Ungläubigen zu vertilgen, wie in den Religionskriegen der Vergangenheit oder ja leider manchmal auch der Gegenwart der Fall, dann kippt das um. Man macht sich zum Werkzeug des lieben Gottes, man stellt sich eigentlich heimlich an die Seite Gottes. Und das ist theologisch ein unzulässiger Sprung über die Differenz Gott-Mensch. Gott ist wirklich sehr jenseitig und geht in unseren Gedanken und Plänen nicht auf.

Lutz Lemhöfer, Weltanschauungsbeauftragter im katholischen Bistum Limburg, beschäftigt sich seit vielen Jahren mit dieser verlockenden Versuchung, die Rede von Gott für eigene Zwecke zu missbrauchen.

Lutz Lemhöfer: Es heißt natürlich auch, dass man sich sozusagen mit der größten Macht innerlich verbündet, die es überhaupt gibt. Also man hat Teil an der Größe der Gottheit, man macht sich im Grunde selber zu Gott. Das heißt, bei aller vorgetragenen Demut sind das ausgelebte, und zwar destruktiv ausgelebte, Größenphantasien. Und die können sowohl in einer militanten Aggression gegen andere sich ausdrücken, sie können sich aber auch ausdrücken in einem pervertierten Opfergedanken, dann hab ich eben als Opfer Teil an der Größe dessen, dem ich mich aufopfere, Selbstmordattentäter und ähnliches.

Gott aber lässt sich nicht vereinnahmen, weder für den politischen oder religiösen Kampf, noch für sonst irgend etwas. Auch wer sich von Gott einen schnellen Weg zu Glück und Reichtum erhofft, liegt schief, betont Bruder Paulus Terwitte:

Bruder Paulus Terwitte: Ich glaube, dass wir im Moment in einer Phase leben, in der die Menschen noch versuchen, Gott zu instrumentalisieren für ihre Bedürfnisse. Was da alles als Spiritualitätsquatsch angeboten wird, was da als Esoterik im Raum steht, Meditationskurse, riecht für mich noch zu viel danach: Hier kannst du glücklich werden. In der Beziehung mit Gott geht es nicht darum, dass ich glücklich werden kann. Die Liebe fragt nie, was man selber davon hat. Die Liebe ist reine Selbstlosigkeit. Der Geliebte fragt sich nie: Was bringst du mir? Er möchte immer sagen: Was könnte ich dir noch bringen? Und deshalb ist die Liebe zu Gott auch immer etwas Beanspruchendes, und da haben die meisten Zeitgenossen noch ein Problem mit, dass sie gefordert werden können.

Gott zu lieben, Gott zu erkennen – das bedeutet eben auch, um Grenzen der eigenen, menschlichen Fähigkeiten zu wissen. Wer behauptet, den Willen Gottes genau zu kennen und es sei seine Aufgabe, diese Erkenntnis mit Feuer und Schwert oder auch nur mit Kursen und bunten Broschüren anderen überzustülpen, begeht einen Denkfehler: Er glaubt nämlich, die eigene Beziehung zu Gott sei ein Mittel zum Zweck, mit dessen Hilfe man zweifelsfrei weiß, was richtig und was falsch ist. So als wäre Gott ein alter, bärtiger Mann, der irgendwo im Himmel sitzt und aufpasst, dass die Menschen auch ja das tun, was er befohlen hat – ein recht schlichtes und patriarchales Gottesbild. Da war die mittelalterliche Mystik schon weiter.

Bruder Paulus Terwitte: Wer Gott liebt, der braucht eine Portion Demut, und was ist Demut? Demut heißt: Ich kann mich realistisch einschätzen. Vom Fleisch her bin ich ein Stück Dreck, vom Geist her bin ich Ebenbild Gottes. Ich mach mich nicht reich aus mir selber, ich kann mich nicht glücklich machen aus mir selber heraus, ich brauche dich, dich geliebten Menschen, und ich brauche dich, geliebter Gott. »Nichts soll dich verwirren, nichts soll dich beirren, alles vergeht, Gott wird sich stets gleichen, Geduld kann erreichen, was nicht verweht, wer Gott kann erwählen, nichts wird solchem fehlen, Gott nur besteht«, das sagt Teresa von Avila, eine wahrhaft starke Frau, die demütig genug war, Gott Gott sein zu lassen.

Teresa von Avila, eine Karmeliter-Nonne, die im 16. Jahrhundert in Spanien lebte, hat besonders eindrücklich über ihre Liebe zu Gott geschrieben. Da sie als Frau nicht theologisch lehren und auch keine Kirchenämter bekleiden durfte, so ihre Begründung, blieb ihr ja gar nichts anders übrig, als Gott einfach zu lieben. Und sie glaubte, dass sie gerade deshalb den studierten Theologen und Kirchenfürsten ein gutes Stück voraus war.

Andrea Günter: Was mich fasziniert ist, dass man bei den Mystikerinnen und Mystikern quasi ne Umdefinition feststellen kann des Verhältnisses von Gott und Lieben. Wenn Gott sozusagen nicht erkennbar ist für Menschen, dann gibt es aber etwas, was sozusagen Signale gibt, was Gott sein könnte, und das ist das Lieben der Menschen. Also die Liebe zu Gott zeigt im Lieben selbst, was Gott ist und sein könnte. Nicht das Objekt Gott oder eine Substanz Gott oder wie auch immer, sondern das, was dieses Lieben der Menschen, dieses Gott Lieben der Menschen zeigt, sagt etwas aus darüber, was Gott ist und sein muss und sein kann. Das finde ich etwas sehr Faszinierendes.

Anders gesagt: Gottesliebe richtet sich nicht auf irgend ein Objekt namens »Gott«. Es geht nicht darum, etwas Konkretes, Beweisbares über diesen Gott herauszufinden, also zum Beispiel ob es ihn gibt, wo er ist, wie er aussieht und was er will. Sondern dieses Wort »Gott« bekommt eigentlich erst dadurch, dass Menschen Gott lieben, einen Sinn.

Andrea Günter: Wenn man Gott, die Liebe, begehrt und liebt, dann liebt man das Lieben. Teresa von Avila bricht das noch mal eine Stufe herunter, … sie sagt, eigentlich kann ich auch nicht wissen, ob ich Gott liebe. Das Einzige, was ich wissen kann ist, ob ich meinen Nächsten liebe oder nicht. Deswegen: Liebet euren Nächsten, sagt sie, denn das könnt ihr wirklich wissen, ob ihr das tut.

(Matthäus 22, 37-39) Jesus aber sprach: Du sollst Gott lieben von ganzem Herzen und von ganzer Seele, und mit ganzem Gemüte. Das ist das höchste Gebot. Das andere aber ist dem gleich: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst!

In diesem zentralen Gebot des Christentums ist auf den Punkt gebracht, dass die Liebe zu Gott, die Liebe zu den anderen Menschen und die Liebe zu sich selbst untrennbar zusammen gehören. Wobei das aber keine christliche Besonderheit ist – ähnliche Sätze finden sich nämlich in fast allen Religionen.

Lutz Lemhöfer: Wo dieses Gleichgewicht zerstört wird, wo man also meint, den Nächsten schädigen, gewaltsam umerziehen, bekehren oder gar töten zu müssen um Gottes willen, da ist es umgekippt. Oder auch da, wo man sich selber quält, womöglich wie in alten mittelalterlichen Bußübungen sich geißelt oder sich wirklich körperlich schädigt, um angeblich Buße zu tun aus Gottesliebe, da kippt das um. Also Gottesliebe muss mit Selbstliebe und Nächstenliebe zusammengehen, sonst kann sie gefährlich werden.

Bruder Paulus Terwitte: Wenn ich Gott liebe, wenn ich sage, Gott, du bist die Liebe, du bist der Ursprung der Liebe, dann bin ich bei meinem Ursprung. Und wenn ich dann den Menschen begegne, dann will ich von denen gar nichts. Die Menschen müssen mich nicht glücklich machen. Die müssen mir nicht nach dem Mund reden. Ich will mit denen ehrlich umgehen, aber die müssen mich nicht irgendwie High machen oder mir den Hype geben, das alles gibt mir Gott. Und somit ist die persönliche Beziehung zum anderen geläutert. Der andere ist davor geschützt, dass ich ihn missbrauche um meines Glückes willen. Und das ist letztlich auch der Grund für jede menschliche Liebe, wenn sie denn gelingen soll, dem anderen zu sagen, ich liebe dich nicht, weil du liebenswert bist, sondern ich liebe dich, damit du liebenswert wirst.

Nächstenliebe hat also eigentlich nichts mit Tugendhaftigkeit zu tun und auch nichts mit Gerechtigkeit. Anderen etwas Gutes zu tun ist keine moralische Pflicht, der man aus Gründen der Vernunft nachkommt. Es ist nicht notwendig, die eigenen, egoistischen Triebe zu unterdrücken, um ein guter Mensch zu sein. Im Gegenteil, Gott zu lieben, das bedeutet gerade, das eigene Begehren zu verfolgen und alle Tugenden abzulegen – meinte zumindest die deutsche Mystikerin Mechthild von Magdeburg, die im 13. Jahrhundert im Stil der Minnelieder feurige Liebesdialoge zwischen Gott und der Seele gedichtet hat.

Sprecherin Frau: O du fließender Gott in deiner Liebe! O du brennender Gott in deiner Begierde! O du schmelzender Gott in der Vereinigung mit deiner Geliebten! O du ruhender Gott an meinen Brüsten, ohne den ich nicht sein kann.

Sprecher Mann: Du bist mein Lagerkissen, mein liebliches Bett, meine heimlichste Ruhe, meine höchste Ehre. Du bist eine Lust meinem Gottsein, ein Trost meinem Menschsein, ein Bach meinem Durst.

Sprecherin Frau: O Herr, liebe mich gewaltig und liebe mich oft und lang; je öfter du mich liebst, umso reiner werde ich; je gewaltiger du mich liebst, umso schöner werde ich; je länger du mich liebst, umso heiliger werde ich hier auf Erden.

Sprecher Mann: Darum sollt Ihr Furcht und Scham ablegen und alle äußeren Tugenden. Die Tugend allein, die Ihr in Eurem Innern von Natur tragt, die sollt Ihr in Ewigkeit finden wollen. Es sind Euer edles Verlangen und Eure grundlose Begierde. Die will ich immer füllen, mit meinem endlosen Reichtum.

Sprecherin Frau: Herr, nun bin ich eine nackte Seele, und du in mir ein herrlicher Gott. Unser beider Gemeinschaft ist ewige Lust ohne Tod.

Die brennende Liebe zwischen Gott und den Menschen setzt die Tugenden außer Kraft, die irdischen Gesetze, die vernünftigen Vorstellungen von Recht und Unrecht. Nur deshalb ist es auch möglich, einem ziemlich merkwürdigen Ratschlag zu folgen, den Jesus seinen Anhängerinnen und Anhängern gegeben hat:

Ihr habt gehört, dass gesagt ist: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Ich aber sage euch: Wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch da. Und wenn dir jemand deinen Rock nehmen will, dann lass ihm auch den Mantel. Ihr habt gehört, dass gesagt ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deine Feinde hassen. Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen.

Wenn man die Liebe als ein gutes, positives Gefühl versteht, dann ist es natürlich eine absurde Idee, seine Feinde zu lieben. Aber wenn Liebe eine Art und Weise ist, sich mit der Welt und allem, was in ihr ist, in eine persönliche Beziehung zu setzen, dann ergibt das Gebot der Feindesliebe durchaus Sinn, meint die Philosophin Andrea Günter:

Andrea Günter: Was ist eine sinnvolle Art und Weise, mit einem Feind in Beziehung zu sein. Es geht nicht um jemanden sympathisch finden müssen oder nicht, oder die Probleme nicht in den Blick zu nehmen, die da sind, oder die Vergangenheit nicht in den Blick zu nehmen. Also das ist die Ablehnung, der Widerstand, der Hass. Und man könnte sagen, dass das Formen des Liebens sind, und zwar Ausdrucksweisen des nicht gelingenden Liebens. Von daher könnte ich sehr wohl sagen, das ist alles Lieben. Ich glaube, dass es an dem Punkt nicht darum geht, dieses gute Gefühl etwas gegenüber zu haben, sondern das eigene Wollen damit in Verbindung zu setzen.

Auch in der Liebe zwischen zwei Menschen, die sich mögen, herrscht ja nicht immer eitel Sonnenschein. Auch hier gibt es Streit und Konflikte, und sie offen auszutragen bedeutet keineswegs das Ende der Beziehung. Und gleiches gilt für die Feindesliebe: Die Bösen zu lieben, das bedeutet nicht, ihnen in allem nachzugeben und nicht zu widersprechen. Sondern es bedeutet, trotz allem an der Beziehung festzuhalten. Damit das alte Ritual von Schlag und Gegenschlag, von »Auge um Auge, Zahn um Zahn« ausgehebelt wird, kann es notwendig sein, etwas Überraschendes zu tun, etwas Unerwartetes, vielleicht etwas so Unvernünftiges, wie auch noch die andere Backe hinzuhalten. Denn wer liebt, will nicht recht behalten, sondern Lösungen finden. Das Lieben zu lieben – und nicht das Gesetz oder die Gerechtigkeit – das bedeutet, die Beziehungen in den Blick zu nehmen. Doch damit Beziehungen bestehen bleiben können, müssen sie bewusst geknüpft, manchmal gelöst, immer wieder verändert und neu gestaltet werden. Eine Aufgabe, der auch die christlichen Kirchen oft nicht gerecht werden, meint Andrea Günter.

Andrea Günter: Was das Christentum als Grundidee beinhaltet ist die Idee, dass die Bindungen erneuert werden können zwischen den Menschen. Das heißt, eigentlich müssten wir im Christentum, … die Fähigkeit der Menschen, sich frei und aktiv aneinander zu binden und diese Bindungen erneuern können, das müssten wir eigentlich im Christentum feiern oder neu symbolisieren. Und ein Stück weit ist das zum Beispiel vorhanden, zum Beispiel in Ehe und Ritualen, in Hochzeiten, da geht es darum, eine gelingende Bindung zu feiern. Und ich glaube, dass man, statt das nun auf eine bestimmte Form von Beziehung zu reduzieren, … dass damit sozusagen noch mal ganz andere menschliche Beziehungsformen in den Blick genommen werden können, die ja so etwas wie ein Ausdruck gelingender zwischenmenschlicher Beziehung sind. Und so, wie sich unsere Beziehungswelt in den letzten 50 Jahren verändert hat und weiterhin verändern wird, werden wir uns nicht mehr auf bestimmte Beziehungsformen kaprizieren können in unserem religiösen Selbstverständnis. Es passiert ja auch schon, wenn man sich anschaut, bei den ganzen homosexuellen Paaren, welcher Ritualwunsch da ist.

Die Liebe ist kein Gefühl, sondern ein Ereignis, sagte einmal die Philosophin Hannah Arendt, und das gilt nicht nur für die Liebe zu einem anderen Menschen, sondern auch für die Liebe zu Gott. Es ist ein Ereignis, von dem Menschen durch die Jahrhunderte hinweg und auf allen Kontinenten der Welt immer wieder berichtet haben. Sie nennen es Erleuchtung, Erweckung, Einsicht, Unio Mystica, das mystische Einssein mit allem. Diese spirituelle Liebe, die Liebe ohne Objekt, bewirkt, dass Menschen die eigene Verbundenheit mit der Welt, der sichtbaren wie der unsichtbaren, körperlich und seelisch spüren. Das kann außerhalb religiöser Institutionen genauso geschehen, wie innerhalb. Man kann es nicht erzwingen und auch nicht in einem esoterischen Schnellkurs lernen. Das einzige, was man tun kann, ist, mit dieser Möglichkeit zu rechnen und für sie offen zu sein. Wobei man sich aber, warnt Bruder Paulus, über die möglichen Folgen im Klaren sein sollte.

Bruder Paulus Terwitte: Ich hab bei dem Wort Liebe immer auch ein kleines Problem, denn wenn ich sage, ich will lieben, sage ich auch, ich will verwandelt werden. Und das ist immer ergebnisoffen. Darum sag ich manchen Menschen, betet bloß nicht so intensiv, es könnte sein, dass Gott euch so entzündet, dass ihr ihn so lieben müsst, dass sich alles bei euch ändert.


Hessischer Rundfunk (hr2), Funkkolleg, Sendung – in einer leicht gekürzten Fassung – am 9. Juni 2005 (Wdh. am 11. Juni 2005)

zum Weiterlesen: Andrea Günter: Weltliebe. Gebürtigkeit, Geschlechterdifferenz und Metaphysik, Ulrike Helmer-Verlag, Königstein 2003.