»Was tun?« – Gewalt und Diskriminierung am Ende des Patriarchats
siehe auch: Gibt es eine weibliche Bedeutung von Terror und Krieg?
Ich versuche meine Gefühle gegenüber dem Stummen zu analysieren und frage mich, ob er dasselbe verdient wie alle anderen verstorbenen Sünder, Mitleid und Erbarmen. Auch wenn mir in meinem Leben Unglück widerfahren ist, war sein Elend sicher noch größer. Ich kann jetzt, zwanzig Jahre später, immer noch reden, meine Geschichte aufschreiben und den unendlichen Hass, den ich ihm gegenüber hege, zur Sprache bringen. Doch der Stumme konnte schon zu Lebzeiten nichts sagen. Er wird für alle Ewigkeiten auf diesem Friedhof begraben liegen, unfähig zu sprechen, so still im Tod wie in seinem erbärmlichen Leben. Wenn es die Widergeburt wirklich gibt, dann hoffe ich, dass der Stumme als jemand wiedergeboren wird, der reden kann, damit er weiß, wie es sich anfühlt zu sprechen, zu schreien und zu weinen. Xiaolu Guo: Stadt der Steine, S. 249
Das Thema des heutigen Vortrags ist in den letzten Wochen und Monaten aktueller geworden, als mir lieb ist. Hatte ich ursprünglich vorgehabt, vor allem über Gewalt gegen Frauen zu sprechen, so ist es mir inzwischen notwendig erschienen, über Gewalt allgemein nachzudenken.
Ich beginne trotz allem mit einem Zitat von Luisa Muraro, aus ihrem Artikel »Freudensprünge«, in dem sie 1996 das Ende des Patriarchats benannte:
Wenn irgendein Mann oder irgendeine Frau euch sagt, dies seien schlimme Zeiten, dann achtet zuerst einmal darauf, woher dieser Gedanke kommt. Er könnte von eurer Schwiegermutter kommen, nachdem sie drei Stunden beim Arzt gewartet hat, von einem Intellektuellen, der sich verrannt hat und nicht mehr weiß, wo er sich befindet, von einer Freundin, die sich für ein Flüchtlingslager einsetzt, von einem Jugendlichen, der Schwierigkeiten mit der Schule und dem Leben hat. … Und dann lasst ihn herein, diesen Gedanken, und widmet ihm die ihm angemessene Aufmerksamkeit. Lasst ihn jedoch nicht den Raum einnehmen, der folgendem Gedanken zusteht: Dies sind die Zeiten, in denen das Patriarchat zu Ende geht, nach viertausend Jahren Geschichte und vielleicht noch einigen der Vorgeschichte. Es ist vorbei! Es ist vorbei! Es ist vorbei!
Seit Luisa Muraro diesen Text 1996 geschrieben hat, haben viele Frauen diese These, diese Beobachtung, würde ich eher sagen, aufgegriffen und damit gearbeitet, den Gedanken mit Leben erfüllt und weiterentwickelt. Dennoch gibt es Widerspruch dagegen: Eben weil es immer noch Gewalt und Diskriminierung, prügelnde Ehemänner, fiese Chefs, Leute, die Kinder missbrauchen und jugendliche Schlägertypen gibt. Und hat der 11. September und der Krieg in Afghanistan nicht das Gegenteil bewiesen? Ist es nicht der Beweis, dass das Patriarchat fest im Sattel sitzt?
Vor allem Frauen, die sich mit dem Problem der Gewalt gegen Frauen beschäftigen, die mit Opfern von sexueller Gewalt arbeiten oder selbst welche sind, haben häufig Schwierigkeiten damit. Denn die Beobachtung, das Patriarchat gehe zu Ende, scheint ja allem, was sie erleben, zu widersprechen.
Ich möchte zu Beginn einmal kurz rekapitulieren, wie der Umgang der Frauenbewegung mit dem Thema Gewalt war, bis wir dort ankamen, wo wir heute stehen: Zuerst ging es darum, die akzeptierten Formen von Männergewalt zu skandalisieren und überhaupt darüber zu sprechen, dass Männer Frauen Gewalt antun, und dass das nicht die fremden bösen Männer sind, sondern meist die aus der eigenen Familie. Im zweiten Schritt stellte man fest, dass es nicht nur um ein Problem zwischen einem Mann und einer Frau geht, sondern dass strukturelle Gewalt im Spiel ist, also Verhältnisse, die die sexuelle Gewalt stützen. Daraus entstand jedoch ein starkes Opferbild von Frauen, bis dann die von Christina Thürmer-Rohr vorgebrachte These von der Mittäterschaft aufkam, die besagt, dass Frauen nicht nur Opfer dieser Strukturen sind, sondern sie auch mit stabilisieren. Als nächster Schritt kam dann die Erkenntnis, dass auch der weiße Feminismus Teil einer Dominanzkultur ist, und dass sexuelle Gewalt in einem Zusammenhang mit anderen Formen von Gewalt, etwa der rassistischen, gesehen werden muss.
Ich nehme an, ihnen sind diese vier Schritte vertraut, Sie werden sie aus ihrer eigenen Arbeit und Geschichte kennen. Was bedeutet es nun, vor diesem Hintergrund vom Ende des Patriarchats zu sprechen? Und nicht nur dieses festzustellen. Luisa Muraro geht jedoch sogar noch ein Stück weiter. Nicht nur, dass trotz weiter bestehender Gewalt das Ende des Patriarchats konstatiert wird, nein, das zu tun, behauptet sie, sei gleichzeitig auch das einzige, was uns vor Gewalt schützt. Sie schreibt:
Wenn ihr diesem Gedanken, dass das Patriarchat zu Ende geht, einen Platz einräumt, anstatt den tausend Aussagen über unsere Zeiten noch eine weitere hinzuzufügen, werdet ihr etwas für den symbolischen Schutz des weiblichen Körpers getan haben. Ich befürchte, dass nur dieser symbolische Schutz Übergriffe und Grenzverletzungen verhindern kann 1
Was bedeutet das – ein symbolischer Schutz vor Übergriffen gegen den weiblichen Körper? Wie kann man sich symbolisch vor Gewalt schützen? Ist Gewalt nicht immer konkret und materiell, also alles andere als symbolisch? Hat Schutz vor Gewalt nicht immer etwas mit konkreten Taten, Selbstverteidigung, Gefängnissen usw. zu tun? Dieser Gedanke an einen symbolischen Schutz vor Gewalt ist uns fast so ungewohnt wie der Gedanke an das Ende des Patriarchats.
Ich habe mich sehr gefreut, dass Sie mich zu diesem Vortrag eingeladen haben, weil es mir Anlass gegeben hat, mich mit diesem wichtigen Thema einmal genauer zu beschäftigen. ich muss Ihnen jedoch gleichzeitig gestehen, dass ich mich hier auf sehr unsicherem Terrain fühle: Ich bin selbst kein Opfer von Gewalt geworden – jedenfalls nicht von materieller, körperlicher Gewalt, von subtiler Gewalt natürlich schon, und, was das schlimmste ist, auch von symbolischer Gewalt. Aber ich bin keine Expertin in »Gewalt- und Diskriminierungsfragen«. Ich bin privilegiert aufgewachsen, weder als Kind noch als Jugendliche sexuell missbraucht worden, wurde von meinen Eltern, vor allem meiner Mutter, in beruflicher Hinsicht ermutigt und gefördert. Ich habe auch noch nie einen Krieg am eigenen Leib erlebt. Ich bin daher eigentlich keine Expertin für das Thema, über das wir heute sprechen wollen, nämlich den Umgang mit Gewalt und Diskriminierung.
Vielleicht bin ich aber doch ein bisschen eine Expertin, und wenn ich das nicht glauben würde, wäre ich sicherlich heute nicht hergekommen: Ich sagte ja schon, dass ich in einer Hinsicht durchaus auch ein Opfer gewesen bin: Ein Opfer symbolischer Gewalt. Ein Opfer der Tatsache, dass diese Gesellschaft und Kultur, in der ich lebe, von einer patriarchalen symbolischen Ordnung geprägt ist, die mich und mein Frau-Sein ausschließt. In meiner Generation sah das so aus, dass ich die Wahl hatte, Nachteile in Kauf zu nehmen oder mich zu verhalten wie ein Mann. Das Leid, dass durch diese symbolische Unterdrückung des Frau-Seins entsteht, ist das einzige Leid, das ich persönlich erlebt habe. Aber das macht mich noch nicht zur Expertin, denn alle Frauen haben dieses Leid erlebt (auch wenn vielleicht nicht alle es bewusst als Leid empfinden und beschreiben wollen), anders als das Leid sexueller Gewalt. Zur Expertin macht mich, dass ich durch die Philosophie der Italienerinnen vor inzwischen acht Jahren eine Möglichkeit entdeckt habe, aus diesem Leid herauszukommen, die Möglichkeit, mich in eine andere symbolische Ordnung zu stellen, die symbolische Ordnung der Mutter. Der Gedanke an das Ende des Patriarchats ist ein Ergebnis dieser neuen Ordnung.
Ich möchte Ihnen heute einige Gedanken, Ideen und Argumentationslinien vorstellen, die sich aus dem Gedanken an das Ende des Patriarchats und aus der Arbeit an einer neuen, weiblichen symbolischen Ordnung im Hinblick auf den Umgang mit materieller, körperlicher Gewalt ergeben, wobei ich immer wieder auf die Inspiration von Luisa Muraro zurückgegriffen habe, die sich in ihrem wunderbaren neuen Buch »Die Menge im Herzen« an vielen Stellen mit diesem Thema beschäftigt.
Zunächst möchte ich noch einmal etwas näher darauf eingehen, was es bedeutet, dem Gedanken »Das Patriarchat ist zu Ende« Raum zu geben.
Als ersten Schritt empfiehlt Luisa Muraro, »auf das ersparte Leid« zu achten. Es ist wohl unbestreitbar – und wird meines Wissen auch nur noch von sehr wenigen bestritten – dass sich in den letzten 30, 40 Jahren vieles zugunsten der Frauen verändert hat: Wir haben die rechtliche Gleichstellung der Frauen, Frauen haben heute die Wahl zwischen verschiedenen Lebensmöglichkeiten und sind nicht mehr auf die Rolle der Ehefrau und Mutter festgelegt, sie sind in allen Bereichen der Gesellschaft präsent. Wir sollten uns klar machen, wie viel Leid uns – nicht abstrakt »den Frauen«, sondern mir, dir, meinen Freundinnen, meine Schwester, meine Mutter, meiner Kollegin – erspart geblieben ist, erspart bleibt, im Vergleich zu anderen Frauen, die früher lebten, oder die heute woanders, in anderen Umständen leben.
Diese Veränderungen haben einen benennbaren Grund: Die Liebe der Frauen zur Freiheit hat die Welt verändert – so beginnen wir unsere Flugschrift »Liebe zur Freiheit, Hunger nach Sinn«, wo wir einige Thesen darüber aufstellen, was das aus unserer Sicht für die Beurteilung der gegenwärtigen gesellschaftlichen Herausforderungen bedeutet. Frauen haben dem Patriarchat die Glaubwürdigkeit aufgekündigt, sie glauben nicht mehr an seine Regeln und halten sich nicht mehr daran, sondern sie stellen eigene Maßstäbe und Kriterien auf. Die Pionierinnen unter ihnen experimentieren mit neuen Möglichkeiten, teilweise unter erheblichem Risiko und mit großem persönlichen Einsatz, und erweitern damit die Verhandlungsmöglichkeiten für alle anderen.
Die Frauenbewegung hat die Gesellschaft in einem Maß verändert wie keine andere soziale Bewegung. Die kürzlich verstorbene Feministin Erika Wisselink, eine dieser Pionierinnen, hat immer von der Zeit vor und nach dem Feminismus gesprochen und betont, wie anders die Welt für eine Frau seither geworden ist. Wir Jüngeren sollten diese Mahnung ernst nehmen und dankbar sein. Die Liebe der Frauen zur Freiheit hat die Welt verändert. Wir sollten nicht glauben, dass das unbedeutend sei. Es ist ein Ereignis von historischer Bedeutung, und wir sollten diesem Ereignis auch einen großartigen Namen geben: Das Patriarchat ist zu Ende. Ein Grund, zu Feiern, sagt Luisa Muraro, und sie fordert uns deshalb zu »Freudensprüngen« auf.
Ein Widerspruch gegen diese Sicht kommt häufig und tragischerweise gerade von den Frauen, die sich am meisten für eine Verbesserung der Lebensbedingungen von Frauen engagiert haben. Sie betonen, dass es trotz aller Veränderungen doch immer noch Gewalt und Diskriminierung gegenüber Frauen gebe, und dass es eine Herabminderung der Gewalterfahrungen der Opfer sei, angesichts dieser Zustände vom Ende des Patriarchats zu sprechen. Und sie weisen darauf hin, dass das zwar für einige »emanzipierte« Frauen gelten mag (wen meinen sie damit? uns? sich selber?) und dass es doch noch viele Frauen gebe, die diese Veränderung noch nicht vollzogen hätten, die immer noch in den Beschränkungen des Patriarchats verhaftet sind, die ihm noch nicht die Glaubwürdigkeit entzogen haben – wobei sie viele dieser Frauen gerade in ihrer Klientel, etwa unter den Opfern sexueller Gewalt, zu finden meinen – oder aber auch unter den Frauen in anderen Kulturen, Afghanistan zum Beispiel.
Es handelt sich dabei aber nicht um eine Frage der Menge, der Quantität. Es geht auch nicht um die müßige Frage, ob das Glas halb voll oder halb leer ist, in dem Sinn, dass die einen einfach eine pessimistische, die anderen eine optimistische Sicht der Dinge hätten.
Es handelt sich vielmehr um eine unterschiedliche Auffassung davon, was genau mit Patriarchat gemeint ist, was das Patriarchat ausmacht. Die Frauen um den Mailänder Frauenbuchladen haben diese zwei Sichtweisen in ihrem Buch »Wie weibliche Freiheit entsteht« folgendermaßen formuliert:
Die einen betrachten Frauen als eine unterdrückte gesellschaftliche Gruppe, die als solche homogen und schutzbedürftig ist. Die anderen betrachten die Frauen als anderes Geschlecht, dessen Existenz im gegebenen gesellschaftlichen System verleugnet wird 2.
Die Verbesserungen in den Lebensumständen von Frauen, von denen ich vorhin sprach, kann man im Rahmen beider Definitionen von Patriarchat erklären: In der ersten Interpretation besteht die Verbesserung darin, dass es zahlreiche neue Gesetze zum Schutz und zur Förderung von Frauen gibt, angefangen beim Wahlrecht bis hin zu Frauenfördergesetzen und Gleichstellungsprogrammen, schärferen Gesetzen gegen Gewalt gegen Frauen, bis hin zu den neuen Versuchen von Gender-Mainstreaming und ähnlichem. In der zweiten Interpretation besteht die Verbesserung darin, dass es immer mehr gesellschaftliche Bereiche gibt, in denen Frauen als Frauen sichtbar und aktiv sind: An den Universitäten, an den Arbeitsplätzen, in der Wirtschaft, in der Kultur, in der Politik.
Nur die erste Interpretation ist auch eine, die eine quantitative, mengenmäßige Bewertung herausfordert: So und soviel Prozent von Frauen hier oder da, je mehr, desto besser. Die zweite Interpretation ist jedoch eine qualitative: Eine Frau ist nur dann im Sinne weiblicher Präsenz anwesend, wenn sie auch als Frau sichtbar ist, nicht als neutrale Menschensperson, die den bestehenden gesellschaftlichen Regeln angepasst ist und nur noch zufällig keinen Penis hat. Wenn die weibliche Differenz in diesem Sinne sichtbar ist, kommt es nicht mehr auf die Menge an: Eine Frau – in einer konkreten Situation – genügt. Daraus erklärt sich auch, was ich eingangs meinte, wenn ich sagte, ich selbst sei Opfer von symbolischer Gewalt und Diskriminierung geworden: In der Schule, in der Universität, in den Werten, die man mir beibrachte, in der politischen Bildung, wurde ich überschwemmt mit männlichen Regeln und Ordnungen. Ich stamme aus einer Generation, in der man mir den Zugang zu all dem nicht verwehrt hat. Da ich gut war in der Schule, vielleicht auch, weil ich keine Brüder hatte, hat man – meine Eltern, meine Lehrer, der Pfarrer – ganz selbstverständlich von mir erwartet, mich in diesem Bereich zu profilieren und »vorwärts zu kommen«. Außerdem verfügte ich über einige Fähigkeiten, die dabei nützlich sind, die Fähigkeit zu logischem Denken etwa, so dass ich auch noch erfolgreich war. Es war sogar möglich, mich in diesem Rahmen mit der Situation von Frauen zu beschäftigen: Ich konnte mich etwa engagieren für Frauen, die Opfer wurden, oder ich konnte Frauenforschung betreiben.
Aber irgendwie war das nicht meine Welt, und daran litt ich. Was mir fehlte, war eine weibliche Genealogie, eine weibliche Ordnung, eine, in der ich mich in Freiheit mit anderen darüber verständigen konnte, was Frau-Sein bedeutet. Das Lebensmodell meiner Mutter – Hausfrau zu sein – war keines, das für mich attraktiv war, und der einzige Rat, den mir meine Mutter und meine Tanten gaben, war der, bloß nicht so zu werden wie sie. Ich sollte es nämlich besser haben. Wenn ich einen Rat von Frauen bekam, dann höchstens den, keine Frau zu sein. Meine Verwirrung war so groß – zum Glück aber auch meine Abneigung gegen diese patriarchale Kultur – dass ich fast nicht meine Doktorarbeit zu Ende bekommen hätte: Ich hatte mir nämlich das Thema gewählt, über vier Frauen zu schreiben, die im 19. Jahrhundert in der internationalen Arbeiterbewegung engagiert waren. Und mir fiel nichts anderes ein, als ihre Positionen mit denen zu vergleichen, die damals unter Männern diskutiert wurden, also zum Beispiel zwischen Karl Marx und Michael Bakunin. Und bei diesem Versuch musste ich mir irgendwann eingestehen, dass die Leistungen der Frauen auf diesem Gebiet dürftig waren. Es war eine symbolische Unordnung, in der ich mich befand, und erst die Begegnung mit dem Denken der Italienerinnen wies mir einen Ausweg – sie boten mir nämlich an, mich (und damit auch die Frauen, über die ich schreiben wollte) in eine andere, eine weibliche symbolische Ordnung zu stellen. Und als ich dann die Texte und Positionen dieser Sozialistinnen in ein Gespräch brachte mit dem Denken anderer Frauen – den Mystikerinnen, den Feministinnen von heute, den Frauen aus ihrer Zeit, die in anderen politischen Bewegungen aktiv waren oder die sich aus der Politik raushielten – erst da ergab alles einen Sinn.
Ich verstand, dass die patriarchale Kultur mich nicht so sehr als Mensch bedroht, sondern als Frau, die auf der Suche ist nach einem freien Sinn der weiblichen Differenz. Das Problem am Patriarchat ist, etwas verkürzt gesagt, nicht so sehr, dass es Frauen unterdrückt und diskriminiert, sondern dass es schlicht leugnet, dass es Frauen gibt. Früher war es dabei noch ehrlicher, und deshalb konnten Frauen im Mittelalter und in der frühen Neuzeit dieses Problem auch noch klarer erkennen: Damals vertraten nämlich bedeutende Theologen die Ansicht, Frauen – diese Wesen auf zwei Beinen, die so grundsätzlich anders sind als sie selbst – seien gar keine Menschen, sondern irgendwie Tiere. Frauen hätten keine Seele. Verschleiert wurde das Problem, als man anfing, von der Gleichheit der Menschen zu reden und zu behaupten, die Frauen seien dabei mitgemeint. Dadurch entstand auf der einen Seite das Bewusstsein der Benachteiligung und der Diskriminierung – weil den Frauen gegenüber der Anspruch der Gleichheit nicht eingelöst wurde – und auf der anderen Seite, der Ausschluss des Weiblichen aus der Sichtbarkeit und der Sagbarkeit. Frauen waren nur noch denkbar im Bezug auf den Mann, den Norm-Menschen: Als das Andere des Mannes, als seine Ergänzung, oder als sein Gleiches.
Dies lenkt davon ab, dass es im Patriarchat um die Frauen eigentlich gar nicht geht: Es geht um männliche Regeln, die Männer untereinander aushandeln, darüber, wie sie die Welt organisieren wollen. Es handelt sich nicht um einen Konflikt zwischen Männern und Frauen – denn das würde voraussetzen, dass Frauen als ernstzunehmende Verhandlungspartnerinnen gesehen würden – sondern nur um die Konflikte zwischen den Männern untereinander. Das Wesen des Patriarchats so zu verstehen, hat weitreichende Folgen, gerade auch dann, wenn wir versuchen, die Bedeutung von sexueller Gewalt gegen Frauen zu verstehen und vor der Frage stehen, wie wir uns ihr gegenüber verhalten, wie wir damit umgehen sollen.
Zum Beispiel Vergewaltigung, diejenige Form von Gewalt, die in der Frauenbewegung lange als die Form von Gewalt von Männern gegen Frauen schlechthin interpretiert wurde. Ich zitiere dazu wiederum Luisa Muraro, die in Anlehnung an Simone Weil scheibt:
Das Vorhaben des Vergewaltigers richtet sich nicht gegen die Frau, sondern gegen Gott oder irgendetwas an seiner Stelle: Den Vater, den Chef, die bestehende Ordnung, das Über-Ich, das ist beliebig. Dies ist eine Tatsache von großer Wichtigkeit. Der politische Grund für die Vergewaltigung übersetzt sich nicht notwendigerweise in ein Vorhaben des Mannes gegen die Frau. Der Vergewaltiger befindet sich in einer symbolisch eigenständigen Position, die ihm durch sein Geschlecht oder von seinem Gott gegeben ist oder schlicht und einfach dadurch, dass er ein Mann ist. Die Bestätigung dieser Tatsache finden wir in den Vergewaltigungsprozessen, die von vielen Opfern als eine Verlängerung der bereits erfahrenen Gewalt in veränderter Form erlebt wird. Diese Wahrnehmung seitens der Opfer, so behaupte ich, hängt nicht so sehr von der persönlichen Haltung der Justizbeamten ab als vielmehr von der objektiven Tatsache, dass diese Leute und der Vergewaltiger untereinander in einer Beziehung stehen, in der die Frau nichts zu suchen hat, es sei denn als Negativ. Jeder Vergewaltiger drückt seinem Richter gegenüber im Grunde genommen das gemeinsame Privileg aus, nicht als Frau geboren zu sein. In der Bedeutung, die Männer der Vergewaltigung geben, haben Frauen nichts zu suchen. Sie kommen darin zwar vor, aber nur als Körper oder als Metaphern. In den Wünschen oder Interpretationen sind die Frauen nicht als mögliche Gegenspielerinnen präsent. Doch leider können wir daraus nicht schließen, dass ihr Wollen und ihre Gedanken demzufolge geschützt wären. Leider geschieht es sehr häufig, dass im Falle einer Vergewaltigung (oder eines Vergewaltigungsprozesses) mit dem Körper auch das Wollen und die Gedanken einer Frau einer schlimmeren Gewalt ausgesetzt sind als diejenige, die der Körper schon erlitten hat. Geschützt zu sein bedeutet für den Geist, dem Erlebten Bedeutung geben zu können. Aber gibt es eine weibliche Bedeutung der Vergewaltigung? Wenn diese fehlt, ist der Geist sozusagen außer sich und findet sich der Gewalt auf symbolischer Ebene ausgesetzt. Daher empfinden viele Frauen die Vergewaltigung als ein maßloses Drama, und das macht es schwer, dem Opfer wirklich Gerechtigkeit widerfahren zu lassen 3.
Darin liegt eine große Herausforderung für die Frauen, wenn es darum geht, eine politische Strategie für den Umgang mit Vergewaltigungen zu finden. Der Originaltitel des ersten ins deutsche übersetzten Buches der Mailänderinnen, »Wie weibliche Freiheit entsteht«, heißt: »Nicht glauben, Rechte zu haben«. Es ist sehr schade, dass dieser Titel in der deutschen Version geändert wurde, aber es ist vielleicht daraus verständlich, dass man – und auch die Frauen, von der patriarchalen symbolischen Ordnung geprägt – in Deutschland besonders viel Wert auf den Rechtsstaat gelegt hat. Auch diejenigen, die Frauen im Patriarchat als schutzbedürftige Gruppe verstehen, stehen in der Versuchung, durch Gesetzesinitiativen diesen Schutz juristisch zu verankern – das Gesetz über Vergewaltigung in der Ehe ist da ein gutes Beispiel, aber auch die Gesetze gegen Kindesmissbrauch oder die Abtreibungsgesetze.
Der durchaus gutgemeinte Versuch, Frauen durch härtere Gesetze gegen Gewalt zu schützen oder wenigstens die Täter zu bestrafen, missversteht die Bedeutung, die eine Gewalttat hat – dass es sich hier um einen Konflikt unter Männern handelt. Die Regelung dieses Konfliktes folgt ihren Regeln, und daran ändert sich auch nichts, wenn die Gesetzgeberinnen und die Richterinnen Frauen sind, denn sie können dies nur sein, wenn sie sich nach den Regeln der Männer verhalten. Sie werden sogar gewissermaßen zu Komplizinnen der patriarchalen symbolischen Unordnung.
Ein Indiz dafür ist auch, dass sie sich schnell zu Repräsentantinnen der Frauen machen, beanspruchen, im Namen der Frauen zu sprechen. Konkret sieht das dann so aus, dass sie versuchen, Vergewaltigungsopfer zu überreden, Anzeige zu erstatten, juristisch gegen die Täter vorzugehen. Zuweilen wird sogar der Vorschlag gemacht, mit Mitteln der Justiz gegen den expliziten Willen der betroffenen Frau vorzugehen, etwa wenn gefordert wird, Vergewaltigungen grundsätzlich von der Staatsanwaltschaft zu verfolgen, auch gegen den ausdrücklichen Willen des Opfers. Die Abneigung der Opfer dagegen wird meist als Schwäche interpretiert, es wird angenommen, sie wollten sich nicht gegen das Patriarchat wehren, die Psychologie wird bemüht (Angst oder Scham).
Es ist in Beratungsstellen für Gewaltopfer inzwischen zwar so, dass Frauen nicht zu einer Anzeige gedrängt werden, denn man hat gemerkt, dass die Frauen dann nicht kommen. Aber warum drängt man sie nicht? Weil man Verständnis hat für ihre Ängste, die Hemmschwelle niedrig halten will? Auch dann wird die Fremdheit der Frauen gegenüber den gesellschaftlichen Regeln des Patriarchats ignoriert. Was aber, wenn diese Opfer instinktiv oder aus Erfahrung oder aufgrund der Ratschläge älterer Frauen wüssten, dass sie diesem ganzen System misstrauen müssen? Wenn es darum geht, an einer weiblichen symbolischen Ordnung zu arbeiten, dann müssen wir gerade auf diese Frauen hören, darauf hören, welche Bedeutung sie dem erlebten geben.
Die Ehre einer Frau kann nicht hergestellt werden durch ein Urteil eines Systems, das darauf gründet, Frauen unsichtbar zu machen. Was wäre aber die Alternative?
Im Vergleich zu der symbolischen Gewalt, die Frauen erleiden, ist die materielle, körperliche Gewalt, weniger wichtig, behaupte ich. Manchmal sind, gerade unter Feministinnen, hier die Relationen völlig verschoben. »Ich hatte keine Angst davor, umgebracht zu werden. Ich hatte Angst, vergewaltigt zu werden« – so überschrieb zum Beispiel die feministisch-religiöse Zeitung Schlangenbrut in ihrer Februarausgabe zum Thema Gewalt einen Artikel 4. Das Zitat stammt von einer kosovarischen Frau, die 1999 während der kriegerischen Eskalation ins Kosova vergewaltigt worden ist. Was soll dieses Zitat in der Überschrift? Offensichtlich wollte die Redakteurin damit die Radikalität ihrer Position zum Ausdruck bringen und sagen, wie schrecklich es ist, dass Frauen vergewaltigt werden. Was sie in Wirklichkeit getan hat, war, die symbolische Ordnung des Patriarchats zu stärken.
Denn diese Aussage macht nur Sinn, wenn man symbolisch in der Ordnung des Patriarchats steht. Im 19. Jahrhundert zum Beispiel, als es noch gängige Meinung unter Männern wie Frauen war, dass es wichtiger sei, die Ehre einer Frau zu schützen, als ihr Leben. Vergewaltigung ist schlimmer als tot, denn als Besitz des Mannes ist eine Frau tot wertvoller als entehrt. Ein krasseres Beispiel für patriarchale symbolische Unordnung lässt sich wohl kaum finden. Wie kommt es, dass heute sogar Feministinnen diese Auffassung teilen, wenn auch aus anderen Gründen? Ich habe darüber schon früher, als ich noch nichts von symbolischer Ordnung usw. wusste, vehement mit anderen Frauen darüber diskutiert. Für mich selber war immer schon klar klar: Ich würde hundertmal lieber vergewaltigt werden als getötet, und ich glaube, ich würde auch lieber vergewaltigt, als den kleinen Finger abgehackt zu bekommen. Ja, ich glaube, ich würde sogar lieber vergewaltigt, als drei Tage nichts zu trinken zu bekommen, wobei sich dies durch die Gefahr der Ansteckung mit Aids leider wieder relativiert. Und ich würde auch lieber von einem Bekannten bei ihm zuhause im Wohnzimmer vergewaltigt werden, als von einem Fremden irgendwo im Park.
Wie auch immer: Ich bin diejenige, die zu entscheiden hat, wie schlimm eine Gewalttat gegen mich ist und wie ich sie verarbeiten will, welche Bedeutung ich ihr gebe und wie ich danach weiterleben will. Ich kann das nur für mich entscheiden, und jede andere Frau muss das für sich entscheiden. Dass für mich die Prioritäten so liegen, hängt natürlich damit zusammen, dass ich in einer Kultur lebe – in der symbolischen Ordnung der Mutter nämlich – wonach es mich keineswegs entehrt, wenn ein Mann mich vergewaltigt. Keine meiner Freundinnen, keiner der Menschen, die mir wichtig sind, würde mich deshalb verurteilen. Ich würde mich nicht schämen, ich würde mich nur ärgern. Was bleibt, ist der Schmerz, und den wäge ich ab gegen andere mögliche Schmerzen. Und weil ich dankbar bin für die Frauen, die an dieser symbolischen Ordnung gearbeitet haben und mir daher die Möglichkeit gaben, einem Gewalterlebnis eine freie Bedeutung zu geben, arbeite ich selber daran, diese Möglichkeiten für andere Frauen zu erweitern. Zum Beispiel, indem ich immer dann, wenn ich etwas davon höre, wie schrecklich schlimm doch eine Vergewaltigung ist, sage, wieso, ich kann mir viel schlimmeres vorstellen – dabei geht es mir nicht darum, meine Interpretation von Vergewaltigung nun absolut zu setzen, sondern darum, den Frauen, die hier zuhören, eine alternative mögliche Meinung einer Frau zu diesem Thema anzubieten, so dass sie merken: Sie können wählen und vielleicht noch eine ganz eigene Bedeutung für sich erfinden.
Jetzt könnten Sie sagen, die hat leicht reden, die wurde ja noch nie vergewaltigt. Das stimmt. Aber eine meiner Freundinnen, die als Jugendliche tatsächlich vergewaltigt wurde, hat sich mir gegenüber einmal ganz ähnlich geäußert. Was mich damals erschreckte, war die Tatsache, dass sie sich lange Zeit nicht getraut hat, mit mir darüber zu sprechen – nicht aus Scham, wie das kleine Mädchen aus der Geschichte oben, sondern aus Angst, ich, eine ausgewiesene Feministin, würde sie nach einem solchen Eingeständnis zur Polizei schleifen und dazu drängen, eine Aussage zu machen. So, wie ich damals drauf war (bis vor 10 Jahren war ich auch eine Gleichheitsfeministin, einfach weil ich noch keine Alternativen kannte) war die Gefahr durchaus berechtigt.
Aber das Patriarchat ist zu Ende, und deshalb hat sich vieles verändert. Statt weiterhin die außergewöhnliche Schwere von Sexualverbrechen zu betonen, sollten wir versuchen, die Folgen solcher Gewalthandlungen zu begrenzen: Durch die Arbeit an einer weiblichen symbolischen Ordnung, die diese Gewalt auf das Faktische begrenzt und sie von der symbolischen Aufladung der patriarchalen Ordnung befreit. Wir müssen Ansprechpartnerinnen für die Opfer der Gewalt sein, eine Kultur schaffen, in dem diese Gewalt den ihr angemessenen Raum hat – nicht mehr und nicht weniger.
Luisa Muraro hat dafür noch ein weiteres Beispiel: Vor einiger Zeit gab es in Italien einen Skandal, weil herauskam, dass Prominente aus dem Fernsehgeschäft einen Handel mit jungen Mädchen betrieben, denen sie Jobs versprachen gegen sexuelle Dienstleistungen. Viele Mädchen gingen auf diesen Deal ein, ganz normale Mädchen, nicht die verruchten, teilweise sogar mit Billigung ihrer Familien, die von dem bunten Fernsehversprechen auf schnelle Berühmtheit fasziniert waren. Soweit nichts Neues. Nicht neu war auch, dass die Herren ihre Seite des Deals nicht einhielten – natürlich wurden die Mädchen nicht berühmt. Das Neue war jedoch, dass die Mädchen, als sie den Betrug merkten, keineswegs verschämt schwiegen, wie sie das noch vor einigen Jahren gemacht hätten, sondern damit an die Öffentlichkeit gingen. Die verdutzten Herren, sahen sich plötzlich einer Flut von Anklagen gegenüber. Sie hatten eben nicht bemerkt, dass sich die Zeiten geändert haben.
Auch in Deutschland sind solche Veränderungen spürbar. Gutaussehende Frauen verkaufen ihre Schönheit in der Fernsehkultur ohne jeden inhaltlichen Anspruch, Verona Feldbusch, Jenny Elvers, Naddel und wie sie alle heißen. Sie haben gemerkt, sie können Geld, viel Geld, damit verdienen, dass sie sich halbnackt in Talkshows setzen und etwas Smalltalk betreiben. Das ist vielleicht naiv keine großartige Leistung zur weiblichen Freiheit, aber es hat auch nichts mit Patriarchat zu tun. Früher wurden Frauen gezwungen, ihren Körper den Männern zur Lustbefriedigung zur Verfügung zu stellen. Die Frauen die dies heute tun, sind nicht mehr bereit, sich betrügen zu lassen. Sie bestehen darauf, dass der Vertrag eingehalten wird, dass es sich rentiert. Sie schämen sich nicht dafür, sondern sie sind stolz darauf. Das ist ein entscheidender Unterschied. Sie haben die symbolische Bedeutung geändert, und damit ändern sich auch die Tatsachen.
Wenn es also vor allem die symbolische Gewalt ist, nicht die körperliche, die uns zu schaffen macht – dann ergibt sich noch ein anderer, sehr interessanter Aspekt dieses Themas, der Umgang mit den Simulantinnen nämlich. Den Frauen und Kindern, die sich in eine Gewalterfahrung hineinphantasieren, die Männer anklagen und beschuldigen, sie vergewaltigt zu haben, ohne dass dies einer juristischen Untersuchung standhalten würde.
Diese Simulantinnen sind logischerweise die Feindinnen derjenigen, die schärfere Gesetze gegen Gewalt fordern. Denn sie unterminieren diese Strategie – es macht ein schlechtes Bild, wenn das herauskommt. Daher konzentrieren sich derzeit viele Kräfte darauf, in solchen Fällen das zu betreiben, was sie für »Wahrheitsfindung« halten. Manche Feministinnen gehen sogar so weit, zu bestreiten, dass es überhaupt Simulantinnen gibt – traurigste Auswüchse davon waren die Angriffe gegen Katharina Rutschky, die seit ihrem Buch »Missbrauch des Missbrauchs« als Feindin der Frauenbewegung gilt. Dabei ist sie eine sehr kluge Denkerin, die viel zur Sichtbarmachung der weiblichen Differenz beiträgt, und sie hat mit ihren Analysen vollkommen recht, vor allem mit ihrer Kritik am Gleichheitsfeminismus, auch wenn sie für meinen Geschmack etwas zu polemisch ist. Was ich ihr vorwerfe ist höchstens eine gewisse Arroganz und Ignoranz gegenüber der Tatsache, dass längst auch viele Feministinnen in Deutschland die Schwäche des Gleichheitsfeminismus erkannt haben.
Aber zurück zu den Simulantinnen: Wenn man ihre Aussagen über angebliche Vergewaltigungen und Missbräuche nicht gerichtsrelevant verwertet, wenn es dabei also nicht in erster Linie darauf ankommt, irgendwelche Täter zu überführen und ins Gefängnis zu werden, sondern wenn man ihre Aussagen hört als Bericht über erlittene symbolische Gewalt, dann sind sie in der Tat keine Lügnerinnen. Vielleicht ist es nur so, dass sie für die symbolische Gewalt, die sie erleiden, keine Sprache haben und sich nicht anders auszudrücken wissen, als so? Haben sie vielleicht verstanden, dass sie durch eine solche Aussage aus der Bedeutungslosigkeit in den Mittelpunkt rücken? Hat sie nicht das Recht, auf diese Weise symbolisch etwas auszudrücken, das ihr tatsächlich widerfahren ist, eine symbolische, wenn auch keine körperliche Vergewaltigung?
So zu tun als ob, etwas fingieren, träumen, phantasieren, das sind traditionelle Wege des weiblichen Geistes, sich inmitten einer patriarchalen symbolischen Ordnung einen Schutzraum zu bauen. Statt unsere Energie darauf zu verschwenden, Simulantinnen und »echte« Opfer auseinander zu halten, sollten wir sehen, dass beide unsere Hilfe brauchen – nicht durch eine Strafverfolgung der tatsächlichen oder vermeintlichen Täter, sondern durch das Angebot einer anderen als der patriarchalen Ordnung. Einer Ordnung, die freien weiblichen Austausch über die Welt ermöglicht.
Durch die Tatsache, dass Vergewaltigung heute meist strafrechtlich verfolgt wird, ist dies jedoch erschwert worden, und auch dadurch dass die sogenannte »Öffentlichkeit« für das Thema über die Maßen sensibilisiert wurde. Medien, die immer wegführen von der konkreten, persönlichen Erfahrung, die immer gleich eine symbolische Bedeutung mitliefern – dies ist die Aufgabe der Medien – sind nicht geeignet, diese symbolische Arbeit im Namen weiblicher Freiheit zu leisten. Die »Sensibilisierung« der Öffentlichkeit ist daher nicht unbedingt ein Erfolg für weibliche Freiheit. Denn die Gefahr, dass sich die Medien sensationsgierig auf diese Fälle stürzen könnten und dadurch eine Flut von Spekulationen und Anschuldigungen auslösen, die gefährlich sind – man könnte in manchen Fällen fast schon von Hexenverfolgung sprechen, und es gab tatsächlich schon Selbstmorde unter Angeschuldigten – ist die Möglichkeit erschwert worden, hier vernünftig vorzugehen.
Eine neue, weibliche symbolische Ordnung richtet sich an die Welt, es geht nicht darum, die Interessen von Frauen zu vertreten (allein schon deshalb, weil es keine gemeinsamen Interessen von Frauen gibt). Es ergibt sich hieraus auch die Frage, welches Urteil wir für die Männer, die gewalttätig sind, finden. Welche Bedeutung wollen ihnen beimessen? Sind sie die großen Götter, von deren Verhalten unser aller Wohl und Wehe abhängt? Oder sind sie einfach Ereignisse, die uns zustoßen können, so wie ein Autounfall? Oder sind sie armselige, handlungsunfähige Wesen, die wir bedauern könnten, wenn sie nicht so gefährlich wären? Oder zeigt sich in ihrer Gewalttätigkeit auch eine Anklage an die Welt, ist auch sie ein hilfloser Hinweis auf eine symbolische Unordnung? Auch hier liegt das Urteil wieder bei der jeweiligen Frau selbst – zu ihrer Freiheit, dem Erlebten eine Bedeutung zu geben, gehört auch die Entscheidung der Frage, welche Beziehung sie zukünftig mit dem Täter haben will und welche Bedeutung sie seinem Verhalten gibt. Ich kann dazu durchaus eine andere Meinung haben und darüber können wir uns dann streiten und auseinandersetzen. Und in dieser Auseinandersetzung erarbeiten wir eine weibliche symbolisch Ordnung.
Es geht nicht um die Psychologie, darum, die Männer zu verstehen und zu rechtfertigen, sondern darum, die Gründe, die symbolischen Gründe für ihre Gewalt zu verstehen und darum, unsere Beziehung zu ihnen zu gestalten. Luisa Muraro schildert den Fall einer afrikanischen Prostituierten, die in Italien arbeitete, und von einem Freier, einem noch sehr jungen Mann, umgebracht wurde. Er hatte sie offenbar nach ihrem Urteil über seine sexuellen Leistungen gefragt und eine wahrheitsgemäße Antwort erhalten, die für ihn wenig schmeichelhaft war. Jede von uns, in einer westlichen Kultur aufgewachsen, fragt sich wohl: Wie konnte sie nur, warum hat sie nicht gelogen? Vielleicht ist es aber so, dass in der afrikanischen Kultur, aus der die Frau kommt, der Wert der Männlichkeit weniger vom weiblichen Urteil abhängt, als im Westen? Oder es liegt vielleicht daran, dass dort die Verpflichtungen einer Prostituierten klarer auf die rein körperliche Dienstleistung beschränkt sind? War dies alles möglicherweise nur ein tragisches kulturelles Missverständnis mit schrecklichem Ausgang? Nicht immer sind die Überlebenden die Starken, manchmal sind auch die Getöteten die wirklich Starken.
Wenn ich Zeitungsberichte lese über Männer, die gewalttätig sind, dann ist Wut und Ärger nur eines der Gefühle. Und ich verstehe, wenn Luisa Muraro schreibt, diese Männer haben auch unser Mitleid und unseren Respekt verdient. Wenn der symbolische Schutz gewährt ist, wenn ich fähig bin, diesen Männern Mitleid und Respekt in ihrer bedauernswerten Lage entgegen zu bringen – Mitleid etwa deshalb, weil sie nie in der Lage sein werden, eine gute Beziehung zu mir, zu anderen intelligenten Frauen, zu den Menschen, die sie lieben, aufzubauen und Respekt, weil sie versuchen, sich trotz allem so etwas wie Ehre und Würde zu ertrotzen, wenn auch mit dürftigen und abscheulichen Mitteln – wenn mein Geist geschützt ist und sie meine Würde als Frau nicht treffen können, dann kann ich sie als Menschen ernst nehmen und muss sie nicht verteufeln.
Faktisch muss ich mich vor ihnen schützen, körperlich, durch Vermeidung von Kontakt, manchmal auch, in dem ich darauf verzichte, sie mit der unangenehmen Wahrheit ihrer Bedeutungslosigkeit zu konfrontieren.
Die Frage, die sich uns also am Ende des Patriarchats im Zusammenhang mit Gewalt und Diskriminierung gegen Frauen stellt, ist folgende: Gibt es eine unabhängige weibliche Bedeutung für Vergewaltigung, für Missbrauch, für Gewalt? Eine Antwort, so Luisa Muraro, lautet – sie ist ein Unglück. Jeder Frau kann es passieren, dass sie sexuelle Gewalt erleidet, einfach aufgrund der Tatsache, dass ihr Körper ist, wie er ist, mit einer Scheide ausgestattet und meist mit weniger Muskeln als der Männerkörper. Kein Ende des Patriarchats und keine feministische Revolution und kein Gesetz der Welt kann an dieser menschlichen Bedingtheit einer Frau etwas ändern. Ändern können wir jedoch etwas an der symbolischen Bedeutung, die dieser Tatsache beigemessen wird. Und wir ändern schon etwas daran. Dies schützt nicht nur den Geist, sondern auch den Körper, weil wir mit der Gefahr, souveräner, realistischer und daher effektiver vorgehen.
Ich zitiere noch einmal Luisa Muraro:
Eine Vergewaltigung ist ein schmerzliches Ereignis, das Zeichen hinterlässt, aber nichts Außergewöhnliches hat: Es gehört zur allgemeinen weiblichen conditio humana. Es ist vielen bereits passiert und wird noch vielen passieren. Das heißt aber nicht, dass die Antwort darauf einheitlich sein wird oder die gleiche für alle, im Gegenteil. Gerade aufgrund der gemeinsamen Erfahrung eines nicht ungewöhnlichen Vorfalls, der die Frau nicht erniedrigt, wird die Einzelne ihre Antwort ausarbeiten können. Und mit dieser Antwort bringt sie das zum Ausdruck was sie aufgrund des erlebten Unglücks ist oder werden will. Sie wird darüber lachen oder meditieren, eine Erzählung schreiben oder eine Trennung vornehmen. Sie wird den Tatsachen das richtige Maß geben, sie wird niemandem den Vorwand liefern, sich für Gott zu halten. Es versteht sich, dass das nicht das Werk einer einzelnen Frau, sondern nur das einer weiblichen Kultur sein kann. 5
Was Luisa Muraro hier für Vergewaltigung sagt, das stimmt auch für andere Konflikte. Wie wollen wir mit den Menschen dieser Welt leben? Mit den Menschen, unter denen es immer Gewalttäter, Vergewaltiger, Kinderschänder geben wird? Ich lebe mit ihnen, seit ich mich in eine neue, symbolische Ordnung der Frauen gestellt habe und mein Geist daher geschützt und weniger angreifbar ist, so:
Ich versuche, den Ereignissen eine eigene Bedeutung zu geben: Ausgehend von mir selbst, von dem, was ich erlebe, von dem ich anderen berichte, mir ein Urteil bilde und mit dem Urteil anderer Frauen, die ebenfalls von sich selbst ausgehen, anvertraue.
Wenn mir Diskriminierung und Ungerechtigkeit begegnet, kann mich das zwar körperlich und materiell verletzen, aber nicht mehr symbolisch. Politisch heißt das, ich erhebe keine Forderungen, erwarte eine bessere Welt nicht von der falschen Ordnung des Patriarchats, sondern von der Liebe der Frauen zur Freiheit. Mein politisches Handeln richtet sich nicht mehr mit Forderungen an die Männer, sondern direkt an die Welt, ich handle politisch im Interesse der Welt, nicht im Interesse der Frauen (anders, als die Schauspielerin, von der ich neulich im Radio war, die eine Rolle als Jungfrau spielen sollte, und aber zu Beginn der Dreharbeiten schwanger war, d.h. sie hätte mit dickem Bauch drehen müssen, worauf der Regisseur eine andere Schauspielerin castete. Die Schwangere klagte darauf vor Gericht, sie würde als Frau diskriminiert.)
Ich begreife die Differenz der Frauen, ihre Unterschiedlichkeit, als Stärke. Daher spreche ich nicht von einem Wir der Frauen, oder von Frauensolidarität. Ich spreche nicht für die Frauen, sondern als Frau. Das schließt den Konflikt unter Frauen natürlich ein.
Vortrag am 13.3.2002 im Frauenzentrum Alzey
ähnlich bereits am 1.12.2001 im Frauenzentrum Rüsselsheim