Mythos Geburtenrate
Anmerkungen zur deutschen Demografiedebatte
»Die Deutschen sterben aus!«, »Die Republik vergreist«, die »demografische Zeitbombe« tickt. Seit einiger Zeit macht sich in Deutschland Hysterie breit. »Wo früher Kinder tobten, werden Alzheimer-Patienten in Rollstühlen sitzen«, maulte der Stern im vergangenen Sommer. Die Schuldigen sind schnell gefunden: Es sind die deutschen Frauen, die nicht genug Kinder kriegen. Besonders schlimm sind die Akademikerinnen – vierzig Prozent von ihnen bleiben kinderlos!
Anlass für die Aufregung ist eine Prognose der Bevölkerungsentwicklung bis zum Jahr 2050, die das Statistische Bundesamt im Sommer 2003 veröffentlicht hat. Die Ergebnisse sind in der Tat bedenkenswert. Die Fertilitätsrate – also die durchschnittliche Zahl der Kinder pro Frau – liegt bei niedrigen 1,4. Das bedeutet, dass ohne Zuwanderung von außen jede nachfolgende Generation um ein Viertel kleiner ist als die vorherige. Die Zahl der jährlich geborenen Kinder wird also abnehmen – von knapp 800.000 auf unter 600.000. Die Bevölkerung Deutschlands wird schrumpfen. Vor allem aber wird sich die Bevölkerungsstruktur drastisch verändern: Es wird viel weniger junge und viel mehr ältere Menschen geben.
Harte Fakten
Es lohnt sich also, den Blick etwas genauer auf die Kinderfrage zu richten. Da liegt nämlich vieles im Argen. Lange Zeit war die Haltung der deutschen Politik vom Irrtum Konrad Adenauers geprägt, der 1956 behauptete: »Kinder kriegen die Leute sowieso.« Heute soll auf einmal das Gegenteil wahr sein: Die Frauen in Deutschland hätten »immer weniger Kinder«, ist überall zu lesen. Das ist aber genauso falsch. Denn die durchschnittliche Kinderzahl pro Frau ist seit dreißig Jahren unverändert. Was in der Tat sinkt, ist die Geburtenrate – also die Zahl der Neugeborenen pro 1000 Bevölkerung. Das liegt aber nicht am Gebärverhalten der Frauen, sondern an der steigenden Lebenserwartung: Je mehr ältere Menschen es gibt, desto niedriger ist der Anteil der Frauen im gebärfähigen Alter. Das »Problem« der derzeitigen demografischen Entwicklung hat also seine eigentliche Ursache in dem doch sehr begrüßenswerten Zustand, dass fast alle Menschen ihre Kindheit, Jugend und aktive Berufszeit auch »überleben«. Alt zu werden ist heute kein Glücksfall mehr, sondern ganz normal.
Allerdings stimmt: Die Fertilitätsraten sind in keinem Industrieland mehr bestandserhaltend – und zwar schon seit drei Jahrzehnten. Sie schwanken zwischen 1 (Griechenland) und 2 (USA) Kindern pro Frau. Häufig wird als Grund der so genannte »Pillenknick« Anfang der 1970er Jahre genannt, als die Fertilitätsrate in nur fünf Jahren von 2,5 auf ungefähr den Stand von heute fiel. Woran liegt das? Die Zeit-Redakteurin Susanne Gaschke hat in ihrem Buch »Die Emanzipationsfalle« die These aufgestellt, dass die Frauenemanzipation am Kindermangel schuld sei. Das klingt – zumal für Feministinnen – provokativ. Aber es ist etwas Wahres dran.
Allerdings hat dieser Wandel nicht, wie oft vermutet wird, erst in den wilden Siebzigern stattgefunden, sondern schon ein dreiviertel Jahrhundert früher. Der größte Einbruch der Fertilitätsrate war nämlich am Anfang des 20. Jahrhunderts: Damals sank die durchschnittliche Kinderzahl pro Frau in kurzer Zeit von fünf auf unter zwei Kinder. Der erneute Abfall Anfang der Siebziger war da vergleichsweise harmlos. Schon seit fast hundert Jahren also ist das Kinderhaben für Frauen nicht mehr selbstverständlich, sondern eine Entscheidung, die bewusst getroffen wird.
Viele Gründe
Und wo liegt nun das Problem? Der Soziologe Meinhard Miegel glaubt, dass »die Kinderarmut Ausdruck des Wesenskerns dieser Gesellschaft ist. Sie eröffnet breitesten Schichten Möglichkeiten, denen gegenüber die Option, Kinder großzuziehen, häufig wenig verlockend erscheint.« Mit diesen »breiten Schichten« sind die Arbeiterinnen und Arbeiter sowie die bürgerlichen Frauen gemeint. Männer aus dem Bürgertum hatten nämlich schon lange vorher die Wahl, ob sie eine Familie gründen oder nicht. Genau betrachtet besteht der Mentalitätswandel also in dem Umstand, dass der Lebensstil des bürgerlichen Mannes (individuelle Erwerbsbiografie als Lebenszentrum, Streben nach Selbstverwirklichung und Autonomie) zur allgemeinen Norm und zum Ideal für alle wurde – und bis heute ist.
Dass damit zwangsläufig die Geburtenzahlen zurück gingen, war lange Zeit gar kein Problem, weil es durch eine niedrigere Kindersterblichkeit sowie die Zuwanderung junger Menschen nach Deutschland ausgeglichen werden konnte. Noch bis Ende der 1980er Jahre kursierte zudem das drohende Szenario einer Überbevölkerung. Deshalb wurde diese tief greifende Veränderung fast hundert Jahre lang ignoriert. Heute stellt sich aber nicht nur im Bezug auf die Kindererziehung, sondern auch im Hinblick auf alle anderen Tätigkeiten, die ehemals in die »weibliche« Sphäre der Hausfrau fielen, immer dringender die Frage, wer diese Arbeiten eigentlich übernehmen soll, wenn die weibliche Gratisarbeit nicht mehr in ausreichendem Maße geleistet wird.
Im Einzelnen sind die Gründe für oder gegen eine Elternschaft sehr komplex und auch von Fall zu Fall unterschiedlich. Letztes Jahr hat eine Allensbach-Umfrage für Aufsehen gesorgt, wonach eine gute Kinderbetreuung nicht ausschlaggebend sei. Auch eine aktuelle Studie des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung kommt zu dem Schluss, dass »eine familienorientierte Politik auf den Wunsch nach Kindern ohne Einfluss bleibt.« Das mögen manche Journalisten und Politiker erstaunlich finden. Aber natürlich kann auch die beste Familienpolitik Menschen, die nun einmal kinderlos bleiben wollen, nicht zum Kinderkriegen animieren. Das heißt aber noch lange nicht, dass sie überflüssig wäre. Die Rahmenbedingungen sind nämlich enorm wichtig für alle, die sich zwar (mehr) Kinder wünschen, aber Zweifel hegen, ob sie diesem Wunsch auch tatsächlich nachgeben sollen.
Zahlreiche Studien haben belegt, dass sich die Frauen in Deutschland deutlich mehr Kinder wünschen, als sie tatsächlich bekommen – nur 11 Prozent wollen kinderlos bleiben, aber über 30 Prozent bleiben es. Hinzu kommen zahlreiche Mütter, die weniger Kinder haben, als sie eigentlich möchten. Es gibt also offensichtlich eine Reihe von Faktoren, die die Fertilitätsrate niedriger halten, als sie aufgrund des Kinderwunsches der weiblichen Bevölkerung eigentlich sein müsste. Umgekehrt heißt das: Die Ansatzpunkte für Bevölkerungspolitik liegen auf der Hand.
Ansatzpunkte
Väter: Der Mangel an Vätern ist, obwohl erst seit kurzem in der Diskussion, wohl die Hauptursache für fehlenden Nachwuchs. Fast die Hälfte der kinderlosen Frauen gibt als Grund an, dass sie keinen geeigneten Partner findet. Nach aktuellen Studien wollen 26 Prozent der Männer in Deutschland keine Kinder haben (gegenüber 11 Prozent der Frauen). Oft sind es auch die Väter, die dagegen sind, dass ein zweites oder drittes Kind geboren wird. Offenbar betreiben Männer die Abwägungen über die Kosten-Nutzen-Bilanz einer Elternschaft immer noch viel konsequenter als Frauen. Die Autorin Meike Dinklage, die dazu Interviews geführt hat, spricht daher schon von einem »Zeugungsstreik«.
Finanzen: Nicht nur das laufende Einkommen, auch Ansprüche auf soziale Absicherung sind in Deutschland an die Erwerbsarbeit gebunden. Daher bedeutet der (teilweise) Verzicht darauf, wie er bei Eltern- und vor allem Mutterschaft fast immer notwendig ist, empfindliche Einbußen – zusätzlich zu der Tatsache, dass es auch viel Geld kostet, Kinder groß zu ziehen. Hinzu kommt, dass Haus- und Familienarbeit kaum Wert geschätzt wird.
Kinderbetreuung: Familienpolitik bedeutete bis vor kurzem fast ausschließlich den Transfer von Geld, in Infrastruktur wie Ganztagsschulen und Kindergärten wurde nicht genug investiert. Viele Frauen möchten aber nicht von Sozialleistungen abhängig sein, sondern ihren Lebensunterhalt selbst erwirtschaften. Zudem kommt ein Großteil dieser Geldtransfers über das Ehegattensplitting auch kinderlosen Paaren zugute und verpufft daher nutzlos.
Wirtschaftsstrukturen: Trotz aller Bekenntnisse zu mehr Flexibilität sind die Unternehmen nicht auf die Bedürfnisse von Eltern eingestellt. Teilzeitarbeitsplätze sind nur in gering qualifizierten Berufen leicht zu bekommen, attraktive, qualifizierte Stellen mit einem 30-Stunden-Umfang rar gesät. Gleichzeitig gibt es einen Trend zu längeren und mobileren Arbeitszeiten und -orten, der sich eher noch verschärfen wird.
Mütter: Familienpolitische Diskussionen fokussieren in Deutschland vornehmlich auf das Wohl des Kindes, nicht aber auf das Wohl der Mütter bzw. der Eltern. Gleichzeitig erweisen Studien wie PISA, dass die Entwicklungschancen eines Kindes in Deutschland in der Tat mehr als in anderen Ländern vom sozialen Status und der Erziehungskompetenz der Mutter abhängig sind. Manche Frauen zweifeln angesichts solch hohen Verantwortungsdrucks an ihrer eigenen Kompetenz zur Mutterschaft.
Angesichts dieser Schwierigkeiten zögern viele Frauen die Entscheidung über eine Mutterschaft möglichst lange hinaus – häufig auch auf Wunsch der potenziellen Väter, bei denen die biologische Uhr ja nicht tickt. Wenn dann irgendwann doch eine positive Entscheidung fällt, lässt sich eine Schwangerschaft oft nicht mehr realisieren, oder statt der eigentlich gewünschten zwei oder drei Kinder gibt es nur noch eines.
Ein großes ideologisches Problem ist auch die verbreitete Vorstellung, dass möglichst jede Frau die für den Bestandserhalt statistisch notwendigen zwei Kinder auch persönlich bekommen soll. Das Ideal der Zwei-Kind-Familie ist einer der wichtigsten Gründe für die niedrige Kinderzahl in Deutschland. In den USA oder in Finnland zum Beispiel ist der Anteil der lebenslang kinderlosen Frauen fast genauso hoch wie in Deutschland, und dennoch liegt die Fertilitätsrate dort im bestandserhaltenden Bereich: weil diejenigen Frauen, die Mütter sind, nicht eins oder zwei, sondern drei, vier oder fünf Kinder haben. Immerhin ist dieser Aspekt im neuesten Familienbericht der Bundesregierung, der im August 2005 vorgestellt wurde, endlich zur Sprache gekommen.
Keine Frage: Die demografische Entwicklung ist eine große Herausforderung. Wir werden umdenken müssen, neue Lebensläufe, neue Arbeits- und Wohnformen erfinden. Von schlichten Appellen, doch bitte wieder mehr Kinder zu haben, sollte man sich dabei aber nichts versprechen. Denn auch wenn sofort die Rahmenbedingungen besser würden und die Frauen wieder mehr Kinder bekämen, würde das nur wenig ändern. Die geburtenstarken Jahrgänge sind nämlich schon fast aus dem gebärfähigen Alter heraus.
Wahrscheinlich bleibt die Fertilitätsrate in Deutschland auch in Zukunft auf dem niedrigen Niveau der letzten Jahrzehnte – davon geht jedenfalls die Prognose des Statistischen Bundesamtes aus. Die tatsächliche Entwicklung wird aber auch davon abhängen, ob die Potenziale zum Zug kommen, die in dem vorhandenen, aber nicht realisierten Wunsch vieler Frauen nach (mehr) Kindern liegen. Das wird aber nur der Fall sein, wenn die ideologischen Scheuklappen fallen und wir endlich weg kommen vom Ideal der konfektionierten Vater-Mutter-Tocher-Sohn-Familie. Man könnte auch sagen: Nötig wären mehr Frauen, die tun, was sie wollen. Die zum Beispiel trotz Vaterschaftsverweigerung ihres Partners (erneut) Mutter werden. Oder die drei, vier oder fünf Kinder haben, weil sie nicht fürchten, dann als sozial minderbemittelt oder unemanzipiert zu gelten.
Literatur:
- Prognose des Bundesamtes für Statistik zur Bevölkerungsentwicklung in Deutschland bis 2050: kann kostenlos im Internet unter www.destatis.de herunter geladen werden.
- Meike Dinklage: Der Zeugungsstreik – Warum die Kinderfrage Männersache ist, München 2005.
- Susanne Gaschke: Die Emanzipationsfalle, München 2005.
- Karen Pfundt: Die Kunst, in Deutschland Kinder zu haben, Berlin 2004.
- Bonstein, Julia u.a.: Generation Kinderlos, in: Spiegel vom 12. September 2005.
in: Arbeitshilfe zum Weitergeben, Ev. Frauenhilfe, Heft 1/2006