Frauen an die Macht? Das reicht nicht!
Vortrag beim Jahresempfang des Bezirks Hochtaunus im Bistum Limburg am 26.9.2019 in Oberursel
Die klassischen Institutionen der bürgerlichen Gesellschaft sind in der Krise. Ob Parteien, Kirchen, Gewerkschaften oder traditionelle Vereine – ihnen laufen die Mitglieder weg. Was früher Autorität hatte, der Priester, der Bürgermeister, der Herr Professor – steht heute in dem Verdacht, autoritär zu sein, übergriffig, altmodisch, nicht mehr auf der Höhe der Zeit.
Viele Menschen trauen den „alten weißen Männern“, wie man heute sagt, nicht mehr zu, das zu tun, was sie immer versprochen haben, nämlich für Recht und Ordnung zu sorgen. Die alten Autoritäten haben den Kredit verspielt, den sie früher mal hatten.
Ich sage nur: Klima. Sehenden Auges sind wir in eine Katastrophe hineingeraten, die sich schon jetzt mit Sicherheit nicht mehr verhindern lässt, und die für jüngere Menschen bedeutet, dass sie nicht mehr so gut und gemütlich leben werden können, wie unsere Generation. In absehbarer Zukunft werden sie es mit Problemen zu tun haben, die wir uns heute noch gar nicht vorstellen können. Die Verantwortlichen haben es nicht verhindert, obwohl man um das Problem seit dreißig, vierzig Jahren weiß, mindestens. Sie haben versagt.
Anderes Thema: Die Cum-Ex-Skandale und Finanzkrisen. Von denen kommt vermutlich bald eine neue, weil sich seit der letzten im Jahr 2008 überhaupt nichts geändert hat. Die Verantwortlichen haben nicht gehandelt, sie handeln immer noch nicht, sie lassen zu, wie eine kleine Elite sich immer weiter auf Kosten aller bereichert.
Und dann die ständigen Skandale. Die Kirche, die sich gerne in der Rolle der Hüterin von Moral und Sittlichkeit darstellte, hat sexualisierte Gewalt in ihren Reihen über Jahrzehnte hinweg systematisch vertuscht. Wo ist denn heute noch moralische Autorität? Nirgends, eventuell ein kleines bisschen bei Angela Merkel, aber wie lange noch? Ja, bei Greta Thunberg, aber ist das unser Ernst, unsere Hoffnung auf ein 16-jähriges Mädchen zu setzen?
Das allein zeigt, wie verzweifelt doch unsere Kultur heut ist. Bei vielen Menschen gibt es inzwischen ein mehr oder bewusstes Wissen darüber, dass es so nicht weiter gehen kann. Dass Dinge sich nicht mehr nur kosmetisch verändern lassen, mit kleinen Schritten und kleinen Reformen, sondern dass wir grundsätzlich umdenken müssen.
Ich glaube, dass das auch der wichtigste Grund dafür ist, warum rechtsextreme, nationalautoritäre und neofaschistische Bewegungen so einen Aufwind haben, in vielen Ländern, auch bei uns in Deutschland. Diese Leute versprechen radikale Lösungen, das macht sie sexy. Leider ist das, was sie wollen, Unfug. Ihre so genannten Lösungen werden nicht funktionieren, sie sind gewaltvoll, menschenfeindlich, rassistisch und dumm.
Aber man kann ihnen eben nichts entgegensetzen, indem man darauf beharrt, dass alles so bleiben soll, wie es ist. Gibt es eine andere Alternative? Kann man es anders anders machen?
Viele der traditionellen Institutionen setzen neuerdings ihre Hoffnung in die Frauen. Ein schönes Beispiel ist die aktuelle Suche der SPD nach einem neuen Parteivorsitzenden, wo wie von Zauberhand irgendwoher die Verabredung kam, dass es eine weiblich-männliche Doppelspitze sein muss. Vermutlich kann niemand die SPD retten. Aber ein Mann allein schonmal gar nicht, soviel steht fest.
Die Hoffnung, dass es Frauen sein werden, die einen neuen Aufbruch ermöglichen, ist weit verbreitet. Frauen haben ja schonmal den Vorteil, dass sie keine alten weißen Männer sind. Sie sind also schon qua Geschlecht nicht Repräsentantin des Systems.
Auch diejenigen, die die real existierenden Frauen an der Macht nicht besonders mögen, die zum Beispiel Angela Merkel oder Ursula von der Leyen oder Christine Lagarde nicht mögen, beschleicht die Furcht, was wohl passieren wird, wenn wir sie nicht mehr haben. Ich bin mir sicher, dass es in England zurzeit viele gibt, die sich Theresa May zurückwünschen. Und in den USA viele, die davon träumen, Hillary Clinton zur Präsidentin zu haben.
Die katholische Kirche hat es hier etwas schwerer, weil sie sich durch ihre Festlegung auf einen prinzipiellen Ausschluss der Frauen aus den Weiheämtern so ein bisschen in eine ungünstige Sackgasse hineinmanövriert hat. Dort scheint es also nicht einmal Hoffnung auf Besserung zu geben.
Aber vielleicht liegt darin sogar ein gewisser Vorteil: Denn während andere kraftlos gewordene Institutionen wie Parteien, Gewerkschaften, evangelische Kirchen noch auf eine wundersame Rettung durch mehr Diversity hoffen können, muss sich die katholische Kirche gezwungenermaßen einer Wahrheit stellen, die die anderen früher oder später auch noch erfahren werden:
Dass Frauen allein die Welt nicht retten werden.
Die Idee der SPD mit ihrer Doppelspitze zum Beispiel kommt ein paar Jahrzehnte zu spät. So lange haben wir nämlich schon Erfahrung damit, was es bringt, Frauen in die traditionellen Institutionen hineinzuholen – und was es nicht bringt.
Die Politikwissenschaftlerin Susanne Eyssen zum Beispiel hat erforscht, wie sich die Einführung einer 40-Prozent Quote bei der SPD im Jahr 1988 ausgewirkt hat. Zu dieser Zeit, also vor vierzig Jahren, hatte SPD in ihren Gremien einen Männeranteil von über 80 Prozent. Das passte aber nicht mehr zu ihrer Mitgliederstruktur, weil im Zuge der Emanzipationsdebatten der 1970er Jahre viele Frauen in Parteien eingetreten waren. Die männerdominierte Leitungsebene brachte die SPD also in Legitimationsschwierigkeiten, zumal ihre schärfsten Konkurrenten, die Grünen, bereits eine verbindliche Frauenquote von 50 Prozent hatten.
Die neue Quote in der SPD führte tatsächlich unmittelbar zur einer größeren Anzahl von Frauen in den Parteivorständen und unter den Abgeordneten. Und das war unzweifelhaft ein Erfolg. Aber wie sah es mit dem kulturellen Wandel der alten Männerpartei aus?
Die Ergebnisse waren durchwachsen. Einerseits hatten Feministinnen in der SPD nun bessere Chancen, in Entscheidungspositionen zu kommen; so manche alten Erbhöfe wurden untergraben, es gab mehr Transparenz. Das war tatsächlich eine Chance für aktive und engagierte Frauen in der SPD. Andererseits sind Organisationen aber auch immer lernend und das bedeutet eben auch, dass die Kräfte, die am Bestehenden festhalten möchten, sehr erfinderisch sind.
Dort wo die „alten Garden“ in der SPD keinen Wunsch nach Veränderung hatten, fanden sie Wege, eine substanzielle Veränderung trotz Quote zu verhindern. Sie brachten zum Beispiel solche Frauen in Ämter, die ihnen genehm war, oder politisch unerfahrene Frauen, die ihnen keinen Ärger machten. Auf diese Weise blieb alles beim Alten, es sah aber jetzt besser aus, weil das Alte nun auch von Frauen vertreten wurde.
Das ist im übrigen auch ein Trick, den die Rechtspopulisten gerne anwenden. Sie haben vom Emanzipationsdiskurs gelernt. Sie schieben geschickt und strategisch an vielen Stellen Frauen ins Rampenlicht, um ihrer Agenda ein Gesicht zu geben.
Das ist einerseits ein Erfolg, denn es zeigt, dass selbst am ganz rechten und traditionell antifeministischen Rand der Gesellschaft die prinzipielle Berechtigung der Teilhabe von Frauen nicht mehr zur Debatte steht. Aber es bewirkt natürlich auch, dass der Hebel der weiblichen Differenz kraftloser wird.
Für die autonomen Frauengruppen in der SPD etwa brachte die Einführung der Quote durchaus Nachteile, denn sie bedeutete einen Abzug von Ressourcen. Aktive Frauen, die sich vorher zum Beispiel in der AsF, der Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Frauen, engagiert hatten, wurden nun von der Parteiarbeit absorbiert. Andersherum galten Frauen in Ämtern, die es ja vorher immerhin vereinzelt auch schon gegeben hatte, nun pauschal als „Quotenfrauen“, also als solche, die nicht wegen ihrer Qualifikation, sondern „nur“ wegen der Quote dorthin gekommen waren. Das aber untergrub ihre Autorität, viele Männer nahmen das, was Frauen in ihren Gremien sagten, nun weniger ernst als vorher.
Das ist eben das prinzipielle Dilemma von Gleichstellungsmaßnahmen wie zum Beispiel Quotenregelungen. Sie lösen nicht das Problem, sie verändern nur die Rahmenbedingungen. Quoten sind gewissermaßen wie Kortison: Sie lindern die Symptome, aber sie heilen nicht die Krankheit. Und Sie haben unerwünschte und teils gefährliche Nebenwirkungen.
Das spricht nicht unbedingt dagegen. Wenn ein Patient sehr krank ist, ist Kortison gutes Medikament. Ohne ginge es ihm noch schlechter. Aber man muss sich über die Nebenwirkungen im Klaren sein, und man darf sich nicht auf Dauer damit einrichten.
Man muss trotzdem noch die Ursachen der Krankheit bekämpfen.
Und zu dieser Ursachenforschung gehört in unserem Fall die Einsicht, dass die Dominanz der „alten weißen Männer“ in unseren kraftlos gewordenen Institutionen nicht einfach nur ein Zufall ist. Sondern dass diese Institutionen unter explizitem Ausschluss der Frauen gegründet wurden, dass ihr Konzept von Anfang an war, dass hier nur Männer mitmachen sollen.
Das gilt für die christlichen Kirchen, von denen wir wissen, dass Frauen in den Anfangsjahren zu den maßgeblichen Protagonistinnen der Jesusbewegung gehörten, aber im Zuge der Konstituierung einer Institution namens „Kirche“ systematisch aus deren Ämtern hinausgedrängt wurden.
Das gilt aber auch für die politischen Parteien und anderen Institutionen der bürgerlichen Gesellschaft, die sich nach der Französischen Revolution explizit als männliche Institutionen konstituierten. Nicht, wie manchmal behauptet wird, weil das damals eben so war, also quasi zeitbedingt zufällig. Sondern absichtlich.
Olympe de Gouges, eine politische Aktivistin der Französischen Revolution, hat diesen Skandal bereits unmittelbar danach, nämlich 1791, in ihrer „Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin“ benannt. Von Anfang an protestierten Feministinnen gegen dieses Verständnis von Politik – und übrigens auch Religion – wonach die Sphäre der Öffentlichkeit den Männer vorbehalten bleibt, während der Aktionsrahmen der Frauen aufs angeblich Private, auf die Familie, aufs Ehrenamt beschränkt wird.
1793 wurde Olympe de Gouges auf der Guillotine hingerichtet. Es war also von Anfang an gefährlich, Feministin zu sein, und heute ist es immer noch lebensgefährlich, zum Beispiel in Brasilien, wo die Schwarze Feministin Marielle Franco im März 2018 auf offener Straße erschossen wurde. Im Jahr 1310 wurde die Begine Margarete Porete auf dem Scheiterhaufen verbrannt, weil sie die klerikale Kirche herausforderte, indem sie eine Theologie der Muttersprache entwickelte.
Feminismus ist kein neues Zeitgeist-Phänomen. Frauen haben die auf Ausschluss und männliche Exklusivität gegründeten Institutionen schon immer kritisiert und Vorschläge dazu unterbreitet, wie man es anders anders machen kann.
Aber man hat nicht auf sie gehört, sie wurden verbrannt, eingesperrt, verleumdet, lächerlich gemacht, nicht ernst genommen.
Und heute? Gibt es heute ein Interesse daran, was Frauen zu sagen haben? Ein wirkliches Interesse, das nicht weibliche Gesichter instrumentalisiert, weil das besser aussieht, sondern ein Interesse, das wissen will, welche Vorschläge und Ideen Frauen dazu haben, wie man es anders anders machen kann?
Das ist die entscheidende Frage. Die ganze Diskussion hat nur Sinn, wenn wir verstehen, dass es bei Emanzipation und Feminismus nicht darum geht, Frauen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen für vergangenes Unrecht. Sondern dass es darum geht, wie Institutionen sich verändern können, um relevant zu bleiben. Diversity ist nicht da, um Frauen zu helfen, sondern den Institutionen.
Ein System, das Politik, Priestertum, Wissenschaft, Recht einer bestimmten Gruppe Menschen zuspricht und andere explizit davon ausschließt, ist von der Wurzel her korrupt. Es kann nicht repariert werden, indem man die ehemals Ausgeschlossenen nun formal „gleichstellt“.
Das kann man zum Beispiel an der Partei der Grünen sehen, die schon am längsten und am konsequentesten versuchen, diese historische Männlichkeit von Institutionen aufzulösen. Deshalb ist die Quote der Grünen zum Beispiel schon ganz anders angelegt als die der SPD. Sie strebt keine Parität an – jedes Geschlecht muss mindestens zu soundsoviel Prozent vertreten sein – sondern ist eine direkte Bevorzugung von Frauen als historisch Benachteiligte: Mindestens 50 Prozent müssen Frauen sein, es können aber auch 60, 70, 80, 90 oder 100 Prozent Frauen sein.
Eine andere Maßnahme sind die getrennten Redner*innenlisten – wenn etwa bei einem Parteitag zu einem Thema gesprochen wird, dann kommen immer abwechselnd Frauen und Männer zu Wort. Und: Wenn sich keine Frau mehr zu einem Thema mehr meldet, wird die Diskussion beendet – auch wenn noch 10 Männer in der Schlange stehen.
Oder das grüne Frauenveto: Es besagt, dass nach einer Abstimmung die anwesenden Frauen ein Frauenveto beantragen können, was bedeutet, dass nur die Frauen noch einmal gesondert abstimmen. Und wenn das Ergebnis dann anders ausfällt als bei der gemischten Abstimmung, dann hat das aufschiebende Wirkung, das heißt, es muss weiter diskutiert werden. All diese Maßnahmen haben zum Ziel, den systematischen Ausschluss von Frauen zu beheben, also nicht, sie gleichzustellen, sondern ihnen Einfluss zu verschaffen, gerade wenn sie etwas anders machen wollen .
Und tatsächlich hat vieles davon funktioniert. Dass es den Grünen besser als anderen gelungen ist, auf die weibliche Differenz zu hören – und nicht nur Frauen „als Gleiche“ mitmachen zu lassen – ist meiner Ansicht ein wesentlicher Grund dafür, dass viele Menschen ihnen heute noch am Ehesten zutrauen, vernünftige Politik zu machen.
Trotzdem muss man feststellen, dass auch die Grünen sich nicht wirklich im Kern verändert haben. Die Krankheit ist noch nicht geh
eilt. Zum Beispiel sagen alle Frauen, die ich bei den Grünen kenne: Wenn wir die Quote abschaffen würden, dann wäre unsere Partei auch bald wieder männlich dominiert. Das heißt, wir können das Kortison immer noch nicht absetzen.
Mein Vorschlag ist, dass wir die Frage ändern. In der Vergangenheit ging es häufig um die Frage: Wie kommen Frauen dorthin, also in Ämter, in Positionen? Heute sind sie ja schon da, da geht es eher um die Frage: Was machen Frauen, wenn sie dort sind?
„Frauen irgendwo hin zu bringen“ ist oft nicht mehr wirklich das Problem. Diesbezüglich hat sich in den vergangenen 40 Jahren tatsächlich vieles geändert. Es gibt kaum noch Institutionen, die prinzipiell etwas gegen die Beteiligung von Frauen haben – in dieser Hinsicht hat die katholische Kirche inzwischen tatsächlich ein Alleinstellungsmerkmal. Alle anderen Organisationen verstehen sich heute als emanzipiert und gleichberechtigt. Aber das reicht eben nicht aus.
Was Frauen wie Margarete Porete, Olympe de Gouges, Marielle Franco und all die vielen anderen wollten, war nicht Emanzipation und Gleichberechtigung. Sie wollten eine andere Art von Politik, eine andere Art von Wissenschaft, eine andere Art von Religion. Eine, die nicht auf Herrschaft bestimmter Menschen über andere gründet, sondern auf Menschlichkeit, die nicht zerstören muss, um zu verstehen, die nicht Gott vermännlicht und männliche Menschen zu Gottes Repräsentanten macht.
Wenn überhaupt eine Chance bestehen sollte, dass durch mehr weibliche Diversität die alten Institutionen wieder Autorität gewinnen und vielleicht sogar die Kraft, die drängenden Probleme dieser Welt zu bewältigen, den Klimanotstand, den Finanzkapitalismus und so weiter – dann nicht, indem sie Frauen nötigen, mitzumachen, sondern indem sie Frauen dabei unterstützen, es anders zu machen.
Schon in den 1970er Jahren lautete ja ein zentraler Slogan der Frauenbewegung: Wir wollen nicht ein größeres Stück vom Kuchen, wir wollen einen anderen Kuchen. Die allermeisten Frauen, und erst recht die Feministinnen, wollten die einfach nur mitmachen, sie wollten etwas grundsätzlich verändern.
Aber genau das funktioniert nicht, trotz aller Emanzipation. Die Institutionen sind zäh. Sie krallen sich an das Althergebrachte, ob mit Frauen oder ohne. Als vor einigen Jahren eine der ersten evangelischen Bischöfinnen, Bärbel Wartenberg-Potter, pensioniert wurde, hörte ich einen beeindruckenden Vortrag von ihr: Sie zog eine eher negative Bilanz ihrer Amtszeit. Sie habe viel weniger verändern können, als sie wollte. Letztlich, so sagte sie, „habe ich über große Strecken die Bischöfin nur gespielt“. Das Amt war stärker, als ihr Veränderungswillen.
In einer feministischen Gruppe, in der wir uns einmal darüber unterhalten haben, warum es so schwer ist, innerhalb der Institutionen etwas zu verändern, hatten wir mal ein schönes Bild, das es anschaulich macht: Es ist, als würde man in einem zähen Schlamm rühren, und tatsächlich, solange man in einer Position ist, eine Leitungsaufgabe hat, und sich sehr anstrengt und rührt und rührt und rührt, verändert sich tatsächlich etwas. Man kann neue Formen einführen, neue Kulturen, neue Themen. Aber sobald man einen Moment aufhört, zu rühren, sobald eine dieser engagierten Frauen in Ruhestand geht, oder die Stelle wechselt, oder krank wird, schließt sich der Schlamm wieder und alles wird wie vorher. Unsere Anstrengungen sind nicht nachhaltig und wir haben gegen die Zähigkeit dieses Schlamms auf Dauer keine Chance.
Und angesichts dieser nüchternen Bilanz haben wir heute auch keine Lust mehr. Die erste Generation von Frauen, die in Ämter kamen, war noch zäh, sie hat es mit dem Schlamm aufgenommen. Die jüngeren Frauen aber haben ihr Scheitern aufmerksam beobachtet. Und sie ziehen schneller die Konsequenzen: Wenn es nicht möglich ist, in einem Amt wirklich etwas zu bewirken, bleiben sie wieder weg. Inzwischen gibt es deutliche Anzeichen dafür, dass Frauen, die oben angekommen sind, also zum Beispiel in Partei- oder Konzernvorständen, signifikant häufiger wieder das Handtuch schmeißen als Männer. Oder tatsächlich auch wieder rausgeschmissen werden, wenn sie sich nicht anpassen und einfügen wie man es von ihnen erwartet.
Und die Frauen werden auch ungeduldiger mit Frauen, die sich in den Ämtern nur anpassen, oder die dort einfach nur dasselbe machen wie Männer. Das wurde symbolisch deutlich bei den US-Wahlen, als Hillary Clinton verlor. Beinahe wäre eine Frau Präsidentin von Amerika geworden, das höchste politische Amt sozusagen. Und warum wurde sie nicht gewählt? Nicht weil Donald Trump, dieser gefährliche Polterer, so viel Zuspruch hatte. Sondern weil viele Menschen, vor allem jüngere Frauen, in Hillary Clinton keine Person mehr sah, die für Veränderung stand, sondern eine, die das Establishment repräsentierte. Ähnlich war es mit Theresa May, oder ist es jetzt mit Annegret Kramp-Karrenbauer: Ja, im Vergleich zu Boris Johnson oder Friedrich März sind sie das kleinere Übel. Aber unsere politischen Hoffnungen sind nicht mit ihnen verbunden.
Sie sind, mit andere Worten, zwar keine alten weißen Männer. Aber sie sind ihnen schon viel zu ähnlich geworden, als dass man ihnen noch zutrauen würde, es wesentlich besser zu machen.
Und es sind nicht nur die Frauen, die heute eine Welt in Frage stellen, deren öffentliche Ämter und Institutionen auf die Bedürfnisse weißer, und man muss meiner Ansicht nach noch hinzufügen, bürgerliche Männer zugeschnitten sind. Sondern es sind eben auch andere Andere, auch andere Menschen, die traditionell marginalisiert und diskriminiert wurden.
Menschen mit Migrationserfahrungen, mit anderen kulturellen und religiösen Hintergründen, mit anderen Bildungsgeschichten, mit prekären Jobs. Die amerikanische Juristin Kimberley Crenshaw hat dafür den Begriff der „Intersektionalität“ geprägt. Damit ist gemeint, dass verschiedene Diskriminierungserfahrungen sich überkreuzen – von Englisch: Intersection – und nicht einfach nur aufaddieren. So werden Schwarze Frauen nicht nur diskriminiert insofern sie Frauen und insofern sie Schwarz sind, sondern sie werden, weil sie Frauen sind, auch als Schwarze anders diskriminiert als Schwarte Männer, und insofern sie Schwarz sind, auch als Frauen anders als weiße Frauen.
Das heißt, es ist alles sehr viel komplizierter als es Fans von Frauenquoten und Equal Pay Day erhoffen. Es geht nicht einfach um Frauen und Männer und darum, die einen mit den anderen gleichzustellen, zahlenmäßig und geldmäßig. Sondern es geht um die symbolische Ordnung, die Grundlage unserer Kultur ist, und die den „Menschen“ so definiert hat, dass es davon genau eine normale Sorte gibt – den alten weißen Mann – an dem sich alle messen und orientieren müssen. Sogar der liebe Gott, der ja auch klassischerweise als alter weißer Mann imaginiert wird.
Wenn die Frauenbewegung darauf bestanden hat, dass Feminismus nicht bedeutet, den Frauen ein größeres Stück vom Kuchen zu geben, sondern einen anderen Kuchen zu backen, dann heißt das: Einen Kuchen, bei dem „Gleichheit“ nicht mehr eine Vorbedingung fürs politische Mitmachen ist.
Wir brauchen eine Demokratie, die nicht nur funktioniert, wenn eine scharfe Grenze gezogen wird zwischen den Gleichen und den anderen. Sondern die in der Lage ist, mit Ungleichheit und Differenzen zurecht zu kommen. Eine Demokratie, die ihren Namen verdient, weil sie die vielen verschiedenen Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit einzubeziehen in der Lage ist.
Wie kann das konkret funktionieren?
Das kommt drauf an. Das erste und wichtigste dabei ist: Man muss Veränderung wollen und nicht nur simulieren. Konkret: Bevor man in irgendeiner Organisation oder Institution mit Diversity-Maßnahmen beginnt, sollten sich die Verantwortlichen ernsthaft mit der Frage auseinandersetzen, ob und warum sie sich überhaupt für andere öffnen wollen oder nicht. Denn wenn sie es nicht wirklich, wirklich wollen, lässt man es besser.
Denn Gleichstellungsmaßnahmen können sogar kontraproduktiv sein, wenn sie nicht wirklich gewollt sind. Zum Beispiel ist es nachweislich so, dass Manager, die auf ein verpflichtendes Diversity-Trainings-Wochenende geschickt wurden, anschließend erst recht Männer bevorzugen – ein einfacher psychologischer Mechanismus, der sozusagen einen „Balance“ der guten Taten aufmacht. So ähnlich, wie wir nach einem 10-Kilometer-Lauf uns berechtigt fühlen, eine Kugel Eis mehr zu essen.
Die Verhaltensökonomin Iris Bohnet hat dazu ein hervorragendes Buch geschrieben, es heißt „What Works. Wie Verhaltensdesign die Gleichstellung revolutionieren kann“. Darin erläutert sie die Fallstricke von Maßnahmen, die gut gemeint sind, aber nichts oder das Gegenteil bewirken.
Selbstverständlich braucht man Maßnahmen, damit eine Organisation diverser wird, „von selbst“ wird sich auf gar keinen Fall etwas verändern. Aber man braucht solche Maßnahmen, die für den jeweils eigenen Kontext funktionieren.
Eine Falle, die sich dabei fast immer stellt, ist aber Folgende: Dass die „Anderen“, die man sich mit solche Maßnahmen in die Firma oder in die Organisation holt, nicht als eigenständige und eigentümliche Individuen gesehen werden, sondern als Klischee, als Repräsentant*innen für eine Gruppe. Da soll dann die junge Kollegin die Jugend, die Frauen die Frauen, der Türke alle Migranten und so weiter vertreten.
Das ist eine Rolle, die man gar nicht erfüllen kann. Ich zum Beispiel bin eine Frau, die jetzt zu Ihnen spricht – aber Sie dürfen nicht meinen, dass alle Frauen dasselbe sagen würden wie ich. Sehr viele Frauen sind in diesen Fragen vollkommen anderer Ansicht als ich. Nach meinem Vortrag hier wissen Sie keineswegs, was „Frauen“ zum Thema Diversity und Frauen an die Macht sagen, Sie wissen nur, was eine bestimmte Frau, nämlich Antje Schrupp, zu diesem Thema sagt.
Dass heißt, das Wichtigste, was wir beim Übergang hin zu einer offenen, pluralistischen Gesellschaft bedenken müssen, ist der Unterschied zwischen Diversity und Differenz. Diversity unterteilt die Menschen in bestimmte demografische Gruppen, die einen sind so, die anderen so, jung oder alt, Frauen oder Männer was auch immer. Die bunte Vielfalt von Merci.
Aber wenn man es, wie auch immer, geschafft hat, anderen zu begegnen, wenn da plötzlich Frauen im Vorstand sitzen oder junge, aus Nordafrika migrierte Männer im Team sind oder eine trans Frau mir gegenübersitzt: Dann geht es nicht mehr um Diversity, sondern dann geht es um Differenz. Dann geht es nicht mehr darum, WAS die Person, mit der ich es zu tun habe ist, sondern WER sie ist, um eine Unterscheidung von Hannah Arendt aufzugreifen.
WER wir sind, was wir zu sagen haben, was wir uns wünschen – das ist nicht determiniert von unserem Geschlecht, von unserer Hautfarbe, von unserem Alter, von irgendeinem demografischen Kriterium. Wenn Sie von mir wissen, dass ich 55 Jahre alt, eine Frau, weiß, akademisch gebildet aber auch nicht-akademischem familiären Hintergrund, in Deutschland geboren und aufgewachsen bin, dann wissen Sie von mir exakt gar nichts.
Aber gleichzeitig ist es natürlich so, dass die Person Antje Schrupp, die jetzt in diesem Augenblick hier vor ihnen steht, nicht dieselbe wäre, wenn sie ein Mann, wenn sie aus dem Ausland migriert, wenn sie aus reichem Elternhaus wäre, wenn sie nicht studiert hätte, sondern vielleicht Zahnarzthelferin geworden wäre oder eine Banklehre gemacht hätte.
Werden es die traditionellen Institutionen schaffen, mit dieser Art von Differenz klarzukommen? Ich weiß es nicht. Ich weiß aber, dass sie es müssen, wenn sie ihre Autorität wiedergewinnen möchten. Und ich weiß, dass Frauen sich mit diesem Thema der Differenzvermittlung – mit ganz unterschiedlichen Ansätzen, Ideen und Vorschlägen – schon sehr lange, seit Jahrzehnten, ach was, seit Jahrhunderten und Jahrtausenden beschäftigen. Einfach deshalb, weil sie schon sehr lange Erfahrung damit haben, „die anderen“ zu sein. Ob man sich für das, was die Frauen und andere „andere“ zu sagen habe, interessiert und die Chance nutzt, die darin liegt – das muss jeder selbst für sich entscheiden.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit