Antje Schrupp im Netz

Es bedarf emanzipatorischer Praxen im alltäglichen Zusammenleben

Gespräch mit ANTJE SCHRUPP

in: Philippe Kellermann (Hg.): Anarchismus-Reflexionen. Zur kritischen Sichtung des anarchistischen Erbes. Gespräche. Verlag Edition AV, Lich 2013

PHILIPPE KELLERMANN: Nicht Marxistin und auch nicht Anarchistin ist der Titel eines Buches von dir, das sich mit den „Frauen in der Ersten Internationale“ beschäftigt. Dort schreibst du: „Die Fülle von Literatur über die Erste Internationale auf der einen und über die Frauenbewegung und die ökonomischen und sozialen Lebensbedingungen von Frauen im 19. Jahrhundert auf der anderen Seite zeichnet sich durch einen eklatanten Mangel an Überschneidungen aus – es gibt keine Arbeiten, die sich mit der Internationale unter Berücksichtigung der Kategorie Geschlecht beschäftigen, und von den feministischen Arbeiten zum 19. Jahrhundert beschäftigt sich keine mit der Internationale.“ Wie lässt sich dieser etwas merkwürdige Umstand erklären?

ANTJE SCHRUPP: Anfangs fand ich das auch merkwürdig, aber im Zuge meiner Beschäftigung mit dem Thema habe ich gemerkt, dass gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein wirklich tiefer Graben zwischen der Frauenbewegung und der Arbeiterbewegung entstanden ist, aus dem sich dann auf beiden Seiten Klischees verfestigt haben. Zum Beispiel, dass die Frauenrechtlerinnen durch und durch „bürgerlich“ gewesen wären, was nur teilweise stimmt, denn sie hatten immer soziale Fragen ganz oben auf der Agenda, wenn sie auch nicht unbedingt „revolutionäre“, sondern eher pragmatische Antworten darauf gegeben haben. Oder dass die Arbeiterbewegung eine reine Männerveranstaltung wäre, in der Frauen zum „Nebenwiderspruch“ degradiert wurden, was auch eine grobe Vereinfachung ist. Tatsächlich haben aber die männlichen Historiker, die in den 1950er und 1960er Jahren die Geschichte der Internationale rund um deren 100. Jubiläum lang und breit bearbeitet haben, die Beteiligung von Frauen praktisch gar nicht erwähnt. Ich vermute, das hat sie schlicht nicht interessiert. Und von daher haben die feministischen Frauengeschichtsforscherinnen der 1970er und 1980er Jahre zunächst einmal vermutet, dass sich dort nichts Nennenswertes für ihr Thema findet. Und ich musste ja tatsächlich sehr tief in Archiven graben und an die Quellendokumente gehen, um den Ideen und Initiativen von Frauen in der Internationale auf die Spur zu kommen.

PHILIPPE KELLERMANN: Du sprichst davon, dass die Auffassung, wonach die „Arbeiterbewegung eine reine Männerveranstaltung“ gewesen wäre, „in der Frauen zum ‚Nebenwiderspruch’ degradiert wurden“, eine „grobe Vereinfachung“ ist. In diesem Zusammenhang fällt mir folgendes ein. Bekanntermaßen kam es innerhalb der Internationale zu äußerst scharfen Auseinandersetzungen zwischen unterschiedlichsten Fraktionen, wobei sich – schematisch vereinfacht – die „Partei Marx“ für eine klar inhaltlich bestimmte Organisationsform aussprach: die Bildung von Arbeiterparteien und die Fokussierung auf die Erringung des Wahlrechts, bzw. dessen „Ausnutzung“ im Dienste der sozialistischen Bewegung, während die „Partei Bakunin/Guillaume“ die Art der Organisation bewusst nicht konkreter bestimmte, sondern für die Freiheit der Sektionen/Föderationen plädierte, ihre Mittel und Wege selbst zu bestimmen. In diesem Kontext schreib Bakunin: „Das [die ökonomische Solidarität der Arbeiter] ist der ernste, klar umrissene und obligatorische Aspekt der Internationale; alles weitere, alle Fragen der sozialen und politischen Organisation der Zukunft, die wir auf unseren Kongressen diskutieren, wie etwa die vollständige Ausbildung, die Abschaffung der Staaten oder die Befreiung des Proletariats vom Staat, die Emanzipation der Frau, das Kollektiveigentum, die Abschaffung des Erbrechts, Atheismus, Materialismus oder Gottesglauben – all das sind zweifellos sehr interessante Fragen und die Diskussion darüber ist für die moralische und geistige Entwicklung des Proletariats sehr nützlich. – Aber kein Kongress ist in der Lage oder befugt, über diese Fragen letztgültig zu entscheiden, noch seine Entschlüsse darüber wie Artikel eines verbindlichen Programms den Sektionen oder einzelnen Mitgliedern vorzuschreiben; er kann und will es nicht, denn täte er es, würde er absolute Wahrheiten verkünden, was ein Unsinn ist, und würde durch einen künstlichen, manipulierten und notwendigerweise veränderbaren Mehrheitsbeschluss eine offizielle Wahrheit vorschreiben – was eine Ungeheuerlichkeit ist. – Die Organisation des internationalen, ökonomischen, praktischen, alltäglichen Kampfes der Arbeit gegen das Kapital ist also der einzige ausdrückliche Zweck, das einzige höchst verbindliche Gesetz der Internationale.“ Beziehen wir nun diese Ausführungen auf deine Bemerkungen zur Frage des „Nebenwiderspruchs“: Zeugen sie von einer sträflichen Vernachlässigung der „Frauenfrage“, die verbindlich ins Zentrum gerückt hätte werden müssen? Oder sind sie insofern vertretbar, weil Bakunin hier nicht nur die Frage nach der „Emanzipation der Frau“, sondern auch seine eigenen Kernanliegen, wie z.B. „Abschaffung der Staaten“, „Kollektiveigentum“ und „Atheismus“ für nichtverbindlich erklärt, um die föderal-freiheitliche Einheit der Internationale nicht zu zerstören? Anders gefragt: Hätte diese Position Bakunins deiner Meinung nach einen Ausgangspunkt bilden können, um die Verbindung der Arbeiter- und Frauenfrage zu festigen und auszubauen – auch hin zu einer größeren Aufmerksamkeit gegenüber letzterer – oder ist sie nur Ausdruck für ein generelles Desinteresse männlicher Sozialisten aller Schattierungen und deshalb nicht weiter beachtenswert?

ANTJE SCHRUPP: Ganz eindeutig hätte diese Position Bakunins es erleichtert, Kooperationen zwischen Arbeiter- und Frauenbewegung zustande zu bringen. Dass die Internationale auf ihren Kongressen politische Themen diskutierte und abgestimmt hat und dann anschließend als verbindliche Positionen verbreitete, war ja einer der Hauptgründe für die Grabenbildung. Zum Beispiel positionierten sich die ausschließlich männlichen Delegierten bei den ersten beiden Kongressen in Genf 1866 und Lausanne 1867 klar gegen Frauenerwerbsarbeit, auf Betreiben der französischen Proudhonisten. Sie nahmen also einen dezidiert antifeministischen Standpunkt ein, weil der Zugang zu mehr Erwerbsarbeitsmöglichkeiten eine der Hauptforderung der damaligen organisierten Frauenbewegungen war. Damit hatte die Internationale ihren Ruf weg, eine antifeministische Vereinigung zu sein, obwohl es auch profeministische Akteure gab wie Eugène Varlin und Benoit Malon, die ebenfalls einflussreiche Internationalisten waren, aber eben bei der Abstimmung klar unterlagen. Es hätte also durchaus Kooperationsmöglichkeiten gegeben, aber so eben nicht, weil die „offizielle Linie“ festgeklopft war. Übrigens hat sich Bakunins Herangehensweise auch faktisch bewährt, weil sie es Feministinnen tatsächlich ermöglicht hat, in der Internationale mitzuarbeiten. In den „bakunistischen“ Sektionen gab es nicht nur viele Frauen, sondern auch – im Unterschied zu den marxistischen – solche, die inhaltlich andere Standpunkte vertraten als Bakunin selbst. Zum Beispiel Virginie Barbet, die in Punkto Erbrecht anderer Auffassung war als er, oder André Léo, die im Gegensatz zu ihm für Zusammenarbeit mit republikanischen Kräften eintrat. Das heißt, auch wenn Bakunin selbst manchmal sexistische Dinge sagte und ihm das „Frauenthema“ persönlich nicht sehr am Herzen lag, so war es doch möglich, dass in seinem Umfeld auch Frauen einflussreich wurden, die andere Meinungen vertraten als er. In den Reihen der „Marxistinnen“ hingegen habe ich keine Frauen gefunden, die mit Marx inhaltliche Konflikte ausgetragen hätten und trotzdem angesehene Mitglieder waren. Man muss ja realistisch für diese Zeit sagen, dass unter den männlichen Sozialisten feministische Themen keine wirkliche Mehrheit hatten. Es wäre also gar nicht möglich gewesen, ein „feministisches“ Programm zu beschließen. Ich glaube ja, dass das bis heute so ist. Wenn man also Kooperationen will, dann kann das nicht über gemeinsame Standpunkte gehen, sondern nur so, dass man einen Raum eröffnet, in dem die unterschiedlichen Positionen miteinander in ein Gespräch kommen können. Meiner Ansicht nach ist der Maßstab für „Frauenfreundlichkeit“ oder „feministische Offenheit“ einer gemischten politischen Bewegung nicht der theoretische Inhalt ihres Parteiprogramms, sondern ob und inwiefern dort Frauen in relevanter Zahl mit ihren jeweils subjektiven Ansichten vorhanden und aktiv sind. Frauen sind ja untereinander auch nicht immer einer Meinung.

PHILIPPE KELLERMANN: Wir sind jetzt kurz auf die Internationale zu sprechen gekommen. Vor allem der unermüdliche James Guillaume hat sich ja – teils dann auch gegen Bakunins Taktik nach 1872 – darum bemüht diese als „einen Raum“ zu erhalten, „in dem die unterschiedlichen Positionen miteinander in ein Gespräch kommen können“. Eigentlich müsste man denken, dass eine solche Position für die anarchistische Bewegung in gewisser Hinsicht repräsentativ sein müsste. Nun hat sich beispielsweise Max Nettlau, auf die Zeit gegen Ende des 19.Jahrhunderts rückblickend über eine sich selbst innerhalb der anarchistischen Bewegung durchsetzende „Einseitigkeit“ beklagt, gegen den „altgewohnte[n] autoritäre[n] Glaube an absolute Einheiten und Einheitlichkeiten“ Stellung bezogen und beklagt: „Toleranz galt und gilt noch immer als Schwäche der Überzeugungstreue.“ Wie kann man sich solche Entwicklungen bei einer Bewegung erklären, deren Selbstverständnis um den Begriff der „Freiheit“ kreist?

ANTJE SCHRUPP: Ich glaube, das hängt mit einem bestimmten Verständnis von Radikalität zusammen. Es gab unter einigen anarchistischen Gruppierungen – und auch Bakunin war dafür anfällig – die Vorstellung, eine revolutionäre Avantgarde zu sein, die die weniger „Entschlossenen“ quasi mitreißen müsste. Die Idee, dass Gesellschaftskritik wirklich an die Wurzeln des Bestehenden gehen muss, ist ja richtig, aber sie wurde bei einigen Aktivisten verwechselt mit der Bereitschaft, sich möglichst kompromisslose und militante Kämpfe mit der Staatsmacht zu liefern. Denjenigen, die an Bündnissen und offenen Debatten interessiert waren, wurde dann unterstellt, es an dieser Entschlossenheit fehlen zu lassen. Hinter dieser anarchistischen „Einseitigkeit“, die Nettlau diagnostiziert, steckt deshalb, vermute ich, nicht so sehr Intoleranz gegenüber anderen Ideen als vielmehr eine einseitige Vorstellung davon, auf welche Weise gesellschaftliche Umbrüche vonstatten gehen müssten: nämlich mit bewaffneten Aufständen, die die vorhandenen gesellschaftlichen Strukturen in einer revolutionären Situation radikal zerstören. Bis heute gibt es ja in Teilen der linken Theorie diese Vorstellung, dass revolutionäre Politik bedeutet, im Falle eines außerordentlichen „politischen Ereignisses“ die Gelegenheit zum Umsturz ohne Zögern und sozusagen „ohne Rücksicht auf Verluste“ zu nutzen, zum Beispiel bei Zizek. Diejenigen, die Veränderungsprozesse vor allem durch Überzeugungsarbeit, das Erproben neuer Praktiken im Alltag und stetige Einflussnahme auf gesellschaftliche Entwicklungen anstreben, also sich darum bemühen, mit „den anderen“ im Gespräch zu bleiben, hält man im Vergleich dazu für „verweichlicht“ oder „zu nachgiebig“.

PHILIPPE KELLERMANN: Meinst du also, dass der Anarchismus viel zu lange an einem gewissen „Revolutionsmythos“ festgehalten hat und damit viele wichtige Aspekte politischen Handelns ignorierte, z.B. die von dir erwähnte „Überzeugungsarbeit“ und das „Erproben neuer Praktiken im Alltag“?

ANTJE SCHRUPP: Naja „den“ Anarchismus gibt es ja nicht, sondern es ist immer die Frage, was man zu dieser Bewegung dazu zählt und was nicht. Wenn man zum Beispiel André Léo für eine maßgebliche anarchistische Akteurin hält, kann man nicht sagen, dass dieser Aspekt dem Anarchismus gefehlt hätte, denn sie hat ihn ja thematisiert. Allerdings gilt sie in der üblichen Traditionsgeschichte nicht als Anarchistin, jedenfalls kommt sie in den entsprechenden Zusammenstellungen normalerweise nicht vor.

Also ich glaube nicht, dass die Überzeugungsarbeit in der anarchistischen Bewegung tatsächlich gefehlt hat, sie ist nur nicht so beachtet, gewürdigt und reflektiert worden wie die militanten Strömungen. Das kommt auch daher, dass nur das, was öffentlich und organisiert sichtbar ist, überhaupt als „Politik“ zählt. Am Anfang der Demokratie stand ja der Ausschluss der Frauen aus der Politik und damit einhergehend die Definition des „Privaten“ als „unpolitisch“. Und auch der Anarchismus ist davon infiziert.

Die österreichische Anarchistin Etta Federn hat auf diesen Aspekt der Geschlechterdifferenz übrigens schon 1938 hingewiesen. Sie schrieb: „Frauen der Revolutionen. Um zu verstehen, was damit gemeint ist, müssen wir uns erst darüber klar werden, was eine Revolution eigentlich ist … Es ist ein Irrtum zu glauben, dass Revolutionen nur durch Kämpfe und Straßenschlachten, durch blutige Zusammenstöße, terroristische Tätigkeiten und alle Arten von Gewalt zustande kämen. Revolutionen vollziehen sich ebenso auf geistigem und seelischem Gebiet.“ (Etta Federn: Revolutionär auf ihre Art. Von Angelica Balabanoff bis Madame Roland. 12 Skizzen unkonventioneller Frauen, Hrsg. Von Marianne Kröger, Psychosozial-Verlag, Gießen 1997)

Damit will ich nicht sagen, dass Frauen allein Überzeugungsarbeit machten und Männer die militanten Aktionen, es gab ja auch sehr viele militante Anarchistinnen. Aber auf der Ebene der theoretischen Analyse gibt es schon die Tendenz, dass die männlichen Theoretiker – und sie dominieren die Debatte über den Anarchismus ja sehr stark – sich vor allem für die militanten Aspekte interessiert haben und sie für bedeutsamer hielten.

PHILIPPE KELLERMANN: Du hast jetzt auf das Problem etablierter Bewegungsgeschichtsschreibung hingewiesen, in der Frauen aufgrund eines verengten Politikverständnisses an den Rand geschoben oder gänzlich vernachlässigt werden. Wenn du nun beklagst, dass André Leo „in der üblichen Traditionsgeschichte nicht als Anarchistin“ gelte, frage ich mich, ob der Titel deines schon eingangs erwähnten Buches nicht ähnlich problematisches suggeriert, denn der ist ja: Nicht Marxistin und auch nicht Anarchistin. Wolfgang Eckhardt hat hierzu kritisch angemerkt: „Rätselhaft bleibt (…) der Titel der Buchfassung – Nicht Marxistin und auch nicht Anarchistin – , da wir doch zum Beispiel in Barbet und André Léo einer Kollektivistin-Anarchistin bzw. Libertären und in Dmitrieff einer Marxistin begegnen. Der Buchtitel suggeriert zudem [ganz entgegen der Intention der Autorin] eine vom Konflikt in der Internationale losgelöste Position der vier dargestellten Frauen – wogegen doch Schrupps Verdienst gerade in der Aufarbeitung des Zusammenhangs vom politischen Denken jener Frauen mit den konkreten Debatten in der Internationale besteht.“ Deshalb meine Frage(n): Warum dieser Titel? Und: Gab es vielleicht doch eine „vom Konflikt in der Internationale losgelöste Position der vier dargestellten Frauen“ in der man eine spezifische Gemeinsamkeit dieser Frauen sehen kann, die sie in Differenz zu sämtlichen anderen männlichen Akteuren der Internationale brachte?

ANTJE SCHRUPP: Mit dem Titel wollte ich einfach aussagen, dass ich aufgrund der Beschäftigung mit den politischen Ideen von Internationalistinnen zu der Auffassung gekommen bin, dass die Unterscheidung zwischen Anarchismus und Marxismus nicht die entscheidende Kategorie ist, um die Internationale zu verstehen. Wer behauptet denn, dass der Konflikt zwischen beidem damals DER entscheidende Konflikt war? Zumal beide „Fraktionen“ ja auch in sich sehr heterogen waren. Wohin würde man in diesem Schema denn die englischen Gewerkschaften sortieren? Oder die Proudhonisten? Der Marxismus-Anarchismus-Konflikt war meiner Meinung nach ein Randthema, das dann, befördert durch einzelne Akteure, auf der institutionellen Ebene der Internationale vorherrschend wurde. Eine meiner Thesen ist aber auch, dass die relevanteren Diskussionen nicht auf den Kongressen geführt wurden (wo der Anarchismus-Marxismus-Streit seine Bühne hatte) sondern in den Sektionen und Ortsgruppen, wo es um ganz andere und konkretere Dinge ging, vor allem um politische Praktiken.

Die Frage, welche Konflikte wir im Rückblick für maßgeblich und strukturbildend halten, ist ja entscheidend für den historischen Zugang. Ein wichtiger Grund, warum die Internationale später vornehmlich vor der Folie einer Marxismus-Anarchismus-Kontroverse betrachtet wurde, war doch ganz offensichtlich, dass der Marxismus nach der Oktoberrevolution eine exorbitante Bedeutung für die europäische Arbeiterbewegung gewonnen hatte. Zu Zeiten der Internationale konnte davon aber überhaupt noch keine Rede sein. Um 1870 waren Marx und Engels für die europäische Arbeiterbewegung ziemlich marginal.

Ich bin der Ansicht, dass die Frage, inwiefern Frauen und Männer zusammenarbeiten können, innerhalb der Internationale selbst ein wichtigeres Thema war als die Auseinandersetzung zwischen Marxismus und Anarchismus. Wichtig sowohl in dem Sinne, dass es die einzelnen Sektionen (und ja auch die ersten Kongresse) stark beschäftigt hat, als auch wichtig in dem Sinn, dass es ein bis heute ungelöstes Grundproblem sozialer Bewegungen betrifft. Und alle der vier von mir untersuchten Frauen haben sich mit diesem Thema zentral beschäftigt und sich bemüht, diese Kooperation zwischen Frauen und Männern im Rahmen einer sozialrevolutionären Bewegung theoretisch und praktisch möglich zu machen. Auch wenn sie dabei dann unterschiedliche Wege eingeschlagen haben. Hingegen hat das Thema weder Bakunin noch Marx groß beschäftigt, beide empfanden es eher als lästig. Das heißt, bei diesem Thema bringt uns die Achse Marxismus/Anarchismus keine weiteren Erkenntnisse. Und natürlich kann man André Léo oder Elisabeth Dmitrieff als Anarchistin bzw. Marxistin bezeichnen, aber wozu? Es ist nicht das, was den Kern, die Originalität und Relevanz ihres Engagements ausmacht.

PHILIPPE KELLERMANN: Bleiben wir noch einen Augenblick bei der „Frauenfrage“. In der „syndikalistischen Utopie“ von Pataud/Pouget, Das letzte Gefecht (1910), wird folgendes Bild einer revolutionären Mobilisierung entworfen: „Gegen diese Menge, die einen mehr lärmenden als kriegerischen Eindruck machte und die außer leichten Sonnenschirmen keine andere Waffe schwingen konnte, hatten die Polizeioffiziere die plumpe Ungeschicklichkeit, Gewalt anzuwenden. Sie erteilten den Polizisten den Befehl mit den Fäusten auf die Wehrlosen einzuschlagen. Die Männer unter de[r] Menge versuchten ihr Bestes, um die Frauen gegen diesen Angriff zu schützen, aber sie hatten nur einen teilweisen Erfolg. Ein wilder Kampf entwickelte sich. (…) Von der Rue de la Paix griff die Panik auf die benachbarten Straßen über. Das Gerücht, daß Frauen von der Polizei niedergeschlagen wurden, verbreitete sich mit Windeseile und empörte jedermann. (…) Das unkluge Vorgehen der Polizei, das den Ereignissen gebieten sollte, verschärfte nur die Krise und trug wesentlich dazu bei, die durch den Streik hervorgerufene Gärung unter den Massen zum hellen Aufruhr zu entfachen.“ Wie beurteilst du eine solche Schilderung: Einerseits das „klassische“ Bild der Frau als hilfsbedürftig auf der einen und der wehrhaften Männer auf der anderen Seite; andererseits all das nicht eingebettet in ein konservatives Konzept zur Erhaltung des status quo, sondern in eines, das der revolutionären Bekämpfung des status quo dient. Die klassische Geschlechterteilung erscheint gerade zu als Motor der revolutionären Dynamik, insofern deren Verletzung ein moralisches Protestpotential freisetzt, das sich in radikale Gegnerschaft zur bestehenden Gesellschaft steigert.

ANTJE SCHRUPP: Was mich an der Darstellung mehr stört als die klassische Geschlechterverteilung ist eigentlich, dass das Auftreten der Frauen als defizitär dargestellt wird – sie können nicht so kämpfen wie Männer und brauchen Schutz. Es gibt aber Hinweise darauf, dass es unter revolutionären Frauen durchaus eine Strategie war, bei Arbeitskämpfen oder anderen Konflikten auf die Straße zu gehen und Polizei oder Streikschützern eben keine gewaltsame Kämpfe zu liefern, sondern mit ihnen zu reden und zu versuchen, sie zu überzeugen, dass sie auf der falschen Seite stehen. Zum Beispiel erschien im April 1870 ein Appell der Frauen der Lyoner Internationale-Sektion unter der Führung von Virginie Barbet in der Allianz-Zeitung „Solidarité“. Darin äußern sie sich zu einem Streik der Minen- und Stahlarbeiter in Le Creuzot, vermutlich Barbets Heimatstadt, und kritisieren, dass Polizei und Militär zugunsten der Unternehmer in den Streik eingreifen. Sie fordern die Frauen von Creuzot auf, den Streik aktiv zu unterstützen, indem sie ihnen eine gewissermaßen originär weibliche Kampfform empfehlen:

„Erlaubt uns einen Rat, Bürgerinnen. Ihr seid energisch, vergesst nicht, dass Ihr Töchter des Volkes seid, Familienmütter. Sprecht die Sprache der Wahrheit zu den Soldaten, die euch umzingeln, Opfer des Unglücks, wie Ihr gekrümmt unter dem Joch des Despotismus. Sagt diesen unglücklichen Kindern des Volks, dass die Männer, die zu verfolgen sie den Befehl haben, nicht, wie man ihnen gesagt hat, Urheber von Unruhen, verdächtige Leute, Söldner irgendeiner politischen Partei sind, sondern eure Väter, eure Brüder, eure Ehemänner, eure Freunde, ehrenhafte Bürger, ihre Brüder in der sozialen Ordnung, die kein anderes Verbrechen begangen haben als das, das heiligste Recht des Menschen einzufordern, nämlich von ihrer Arbeit zu leben. Mit solchen Worten, da könnt Ihr sicher sein, werdet Ihr sie beeindrucken, werdet Ihr sie dazu bringen, über die traurige Rolle nachzudenken, die man ihnen euch gegenüber aufgezwungen hat, und wenn Ihr es geschafft habt, die fünftausend Soldaten, die auf den Feldern von Creuzot lagern, für die Sache der Unterdrückten zu gewinnen, die auch die ihre ist, werdet Ihr euch wohl um das Proletariat verdient gemacht haben.“ (Solidarité vom 16.4.1870, S. 4 IIf. Der Aufruf in der Solidarité ist neben den bekannten Internationalistinnen Barbet und Palix unterzeichnet von Anaïs Aury, Marie Guillot, Louise Tailland, Marie Pingeon, Clotilde Comte, Anne Jacquier, Louise Jacquier, Félicie Jacquier, Marie Macon, P. Macon, Eléonore Berlioz, Marie Picoud, Marguerite Robergeon und Femme Prost.)

Es geht also um aktiven Widerstand, nur eben mit Hilfe von Worten anstatt mit Hilfe von Waffen. Auch wenn diese Strategie in Creuzot an der Übermacht der Militär- und Polizeitruppen scheiterte, so war sie doch ein Jahr später in Paris erfolgreich, als die Frauen am 18. März die Soldaten, die die Kanonen von Montmartre nach Versailles abtransportieren sollten, mit ihrem gewalt¬losen, aber eben nicht stummen, sondern gerade wortreichen „Dazwischenstellen“ so verunsicherten, dass diese in Scharen auf die Seite des Kommuneaufstandes überliefen.

Das heißt, die Frauen bezogen sich selbst durchaus auch auf die damals üblichen Etikette-Regeln, wonach „Ehrenmänner“ keine Gewalt gegen Frauen ausüben sollten, aber eben nicht auf eine schwache und passive Weise, wie es in dem von dir zitierten Abschnitt suggeriert wird, sondern aktiv. Dass Frauen nicht „wie die Männer“ kämpfen konnten oder wollten ist nicht ein Defizit, das aus einer irgendwie gearteten weiblichen Natur resultiert, sondern bewusste revolutionäre Strategie. Leider scheinen manche revolutionäre Männer wie etwa die Autoren des von dir zitierten Buches, das missverstanden zu haben. Sie haben sozusagen nur gesehen, dass die Frauen nicht mit Waffen kämpften, und haben übersehen, dass sie stattdessen etwas anderes machten.

PHILIPPE KELLERMANN: Ich möchte nun gerne noch ein anderes Thema ansprechen, mit dem du dich beschäftigst: Religion. Der Anarchismus war ja weitgehend – zu erwähnen wären eher Ausnahmen wie Tolstoi oder der explizit „christliche Anarchismus“ – sehr kritisch gegenüber Religionen eingestellt. Nicht zufällig lautet der Titel eines der bekanntesten Bücher Bakunins Gott und der Staat, in dem er erklärt: Wenn es einen Gott gibt, ist der Mensch ein Nichts. Religion sei vielmehr eine Form der „geistige[n] Versklavung“ und werde „immer mit natürlicher Konsequenz zur politischen und sozialen Versklavung führen“ (Rev. frage, in Stuke: S.65) Andererseits aber erwähnte er, dass der „Sozialismus (…) die Stelle der Religion “ einnehmen werde (Stuke: 163) und erinnert dabei an den Protestantismus: „Diese Bewegung wird derjenigen ähnlich sein, welche die Protestanten zu Anfang der Reformation sagen ließ, daß man jetzt keine Priester mehr brauche, da jeder Mensch jetzt sein eigener Priester werde, da jeder Mensch allein dank der unsichtbaren Vermittlung unseres Herrn Jesu Christi, jetzt seinen Herrgott in sich habe.“ (Gott und der Staat: 94f.). Was interessiert dich an Religion und wie siehst du das Verhältnis von Anarchismus und Religion? Ist der Anarchismus letztlich nur eine Form messianischen Utopismus?

ANTJE SCHRUPP: Die sozialrevolutionären Bewegungen sind von ihrer Tendenz her immer antireligiös gewesen, was auch leicht zu verstehen ist, da die Kirchen als Institutionen sich im 19. Jahrhundert und teilweise bis heute klar auf Seiten der Herrschenden und der bestehenden Verhältnisse positioniert haben. Diese Religionskritik war und ist vollkommen notwendig, es handelt sich dabei eigentlich aber weniger um eine theologische Kontroverse als vielmehr um einen Interessenskonflikt. Auch Virginie Barbet hat übrigens ein Buch über den Atheismus geschrieben. (Virginie Barbet, Déisme et Athéisme. Profession de foi d’une Libre-penseuse, Lyon 1869). Interessanterweise nennt sie ihre Verteidigung des Atheismus ein „Glaubensbekenntnis“, und das gefällt mir gut, weil es zeigt, dass es hier um zwei widerstreitende Weltanschauungen geht und nicht um einen Kampf zwischen „wissenschaftlicher Rationalität“ einerseits und „unwissenschaftlichem Aberglauben“ andererseits, wie es das Marx’sche Diktum vom „Opium des Volkes“ nahelegt.

Die Beobachtung, dass sich der Sozialismus teilweise auch als „neue Religion“ präsentiert hat, teile ich, wobei ich darin aber auch keine Besonderheit des Anarchismus sehen würde. Ich glaube sogar, dass diese „Erlösungsversprechen“ unter Anarchistinnen und Anarchisten im Vergleich zu anderen sozialistischen Richtungen eher weniger stark ausgeprägt waren. Die Parallelen betreffen im Übrigen nicht nur das inhaltliche Versprechen einer bevorstehenden Erlösung, sondern auch kulturelle Mentalitäten. Dorothee Markert hat kürzlich in einem sehr interessanten Buch über den Einfluss des Pietismus in Deutschland gezeigt, dass es verblüffende Parallelen zwischen pietistischer und sozialistischer Moral gibt, zum Beispiel die Maxime, dass man nicht verschwenderisch oder faul sein darf, dass man sich unermüdlich dafür einsetzen muss, die Welt zu verbessern, dass persönliche Befindlichkeiten kleinbürgerliche Schwächen sind, die hinten anzustehen haben. (Dorothee Markert: Lebenslänglich besser. Unser verdrängtes pietistisches Erbe. BOD 2010. Ich habe das Buch hier rezensiert: http://antjeschrupp.com/2010/11/24/pietismus-und-revolution/).

Ein dritter Punkt ist der Bezug auf Gott, beziehungsweise die Frage nach der Transzendenz. Die strikte Ablehnung jeglicher „re-ligio“, Rückbindung, an etwas, das die irdischen Verhältnisse übersteigt, lässt ja die Frage offen, was dann der Maßstab oder die Gewähr für so etwas wie Gerechtigkeit oder gutes Leben sein soll. Im 19. Jahrhundert hatte man als Sozialrevolutionärin noch glauben können, auf der „richtigen“ Seite der Geschichte zu stehen, dass sich die eigenen Ideen, einfach weil sie die vernünftigsten sind, langfristig durchsetzen werden. Aber dann kamen die Weltkriege und der Faschismus. Eine der bedeutendsten Anarchistinnen des 20. Jahrhunderts, Simone Weil, ist in dieser Situation zu der Einsicht gelangt, dass es Gott ganz einfach geben muss – nicht weil wir Gottes Existenz beweisen könnten, sondern weil wir Gott brauchen, weil es ohne schlicht und ergreifend nicht geht. Weil das immanente Faktische dieser Welt nicht das letzte Wort haben darf, oder in anderen Worten: weil wir Menschen nicht in der Lage sind, aus eigener Kraft eine gute Welt für alle hinzukriegen. Ich sehe das genauso.

PHILIPPE KELLERMANN: Lass mich bei der Frage nach dem „Erlösungsversprechen“ einhaken. Du vermutest, dass dieses „unter Anarchistinnen und Anarchisten im Vergleich zu anderen sozialistischen Richtungen eher weniger stark ausgeprägt“ gewesen wäre. Das finde ich spannend, denn oftmals wird ja der Anarchismus – hier beispielhaft von Michael Löwy, der an Karl Mannheim anknüpft – als „moderne[s] Gesicht des chiliastischen Prinzips par excellence“ und „relativ reinste Ausformung utopischen, millenaristischen Bewusstseins in der Moderne“ beschrieben. Haben wir es beim Anarchismus nicht mit einer Utopie der verallgemeinerten Liebe zu tun, die auf den revolutionären Kampf mit dem Antichristen in Gestalt des Staates, folgen wird; wo dann die „gegenseitige Hilfe“ (Kropotkin) sich in einer an die Prophezeiungen Jesajas erinnernden Form ausbreiten wird?

ANTJE SCHRUPP: Vielleicht gibt es einige Richtungen im Anarchismus, die das so sehen, ich sehe es aber nicht so. Für mich geht es im Anarchismus darum, eine andere Verfahrensweise vorzuschlagen, wie Regeln für das gute Zusammenleben der Menschen entstehen können – nämlich nicht über das Prinzip der Repräsentation und der Hierarchien, sondern über das Prinzip des Verhandelns und des Konsens. Das ist für mich keine Vision für eine spätere ideale Zukunft, die dann anbricht, wenn der Staat erst einmal überwunden ist, sondern ein Verfahren, das auch hier und jetzt schon praktiziert werden kann, wenn auch vielleicht nur in einzelnen Communities oder in Teilbereichen. Aber dafür braucht es keine neuen, anderen Menschen, also besonders liebevolle oder altruistische. Im Gegenteil: Gerade Machtstrukturen ermöglichen ja denen, die an der Macht sind, den Missbrauch der Macht, der dann wieder durch andere Mächte (Gesetze, Polizei) eingehegt werden muss, die dann aber selbst auch wieder missbraucht werden können. Welches der beiden Systeme die „besseren Menschen“ voraussetzt, ist meiner Meinung nach nicht abgemacht. Natürlich erfordern auch alternative Verfahrensweisen Aufmerksamkeit, Übung, Diskussionen, sie entwickeln sich in „staatsfreien Zonen“ nicht automatisch von selbst. Anarchismus fängt meiner Ansicht nach nicht da an, wo der Staat abgeschafft wurde (dann kann in der Tat auch Chaos ausbrechen), sondern dort, wo alternative Weisen des Zusammenlebens praktiziert und etabliert werden, die den Staat überflüssig machen.

PHILIPPE KELLERMANN: Deine Vorstellungen von horizontaler Kommunikation, die du mit dem Anarchismus in Verbindung bringst, könnte man auch mit gewissen Praxen aus der Geschichte des Christentums in Verbindung bringen. So hatte Bakunin, für den eine solche Form der Kommunikation durch bevorechtete VermittlerInnen im Namen Gottes unmöglich wird , positiv von einer künftigen Bewegung geschrieben, die „derjenigen ähnlich sein“ werde, „welche die Protestanten zu Anfang der Reformation sagen ließ, daß man jetzt keine Priester mehr brauche, da jeder Mensch jetzt sein eigener Priester werde, da jeder Mensch allein dank der unsichtbaren Vermittlung unseres Herrn Jesu Christi, jetzt seinen Herrgott in sich habe“ . Kritisch wurde dagegen eingewandt: „Es ist widersinnig, den magischen Moment der Einmütigkeit während des Kampfs gegen das alte Regime, das gestürzt werden soll, zu vergleichen mit der nachfolgenden prosaischen und schwierigen Phase des neuen, das aufgebaut werden muss über Schwierigkeiten und Widersprüche jeglicher Art hinweg, einschließlich derer, die von mangelnder Erfahrung herrühren. (…) das ‚allgemeine Priestertum’ kann nicht ewig dauern“ Zeigen nicht nur das weitgehende Scheitern des christlichen Täufertums und dessen Versuch eine herrschaftsfreie Gegengesellschaft aufzubauen, sondern auch die neuzeitlichen Revolutionen und die sozialistischen Bewegungen insgesamt, dass diese Kritik nicht nur zu berechtigt ist?

ANTJE SCHRUPP: Ich denke, das sind zwei verschiedene Phänomene: Einmal die „Einmütigkeit“, die in besonderen Situationen eine Gruppe von Menschen ergreifen kann, und die natürlich nicht von dauerhaftem Bestand ist. Jede „Glaubensgemeinschaft“, wovon auch immer sie „inspiriert“ sein mag, bildet im Lauf der Zeit innerweltliche Formen aus, die diesem Anliegen oder dieser Bewegung auch Bestand geben, wenn diese „magische“ Einmütigkeit wieder vorbei ist. Etwas ganz anderes ist aber die Frage, wie genau diese Formen aussehen sollen, auf welchen Prinzipien sie gründen. Das war die Alternative, auf die ich mich vorhin bezogen habe. Ich glaube, man kann Praktiken und Verfahrensweisen erfinden, die ein gutes Zusammenleben auch dann ermöglichen und in Regeln fassen, wenn die unmittelbare Einmütigkeit nicht gegeben ist, sondern wenn es Konflikte gibt, wenn unterschiedliche Wünsche aufeinander treffen und so weiter. Ich behaupte, das müssen nicht unbedingt auf Repräsentation und Machtstrukturen aufbauende Institutionen sein. Es können auch andere Verfahrensregeln und andere Beziehungsformen sein. Wobei ich aber auch der Meinung bin, dass nicht alle Formen, die politische Bewegungen annehmen, für alle Ewigkeit Bestand haben müssen. Es gibt in unserer Kultur diese merkwürdige Vorstellung, dass Dauerhaftigkeit ein Zeichen für Qualität sei. Ich sehe das anders. Wenn die Inspiration nachlässt, wenn die Freude an einem bestimmten Engagement abnimmt und sich das Interesse der Beteiligtem anderem zuwendet, warum soll man bestimmte Formen nicht auch wieder zu Ende gehen lassen?

PHILIPPE KELLERMANN: Wenngleich mich die hier angedeuteten Fragen sehr interessieren, würde eine vertiefte Diskussion derselben wohl etwas zu weit vom eigentlichen Thema dieses Bändchen fortführen. Ich komme deshalb auf deine Bemerkung zurück, wonach

„uns die Achse Marxismus/Anarchismus“ für eine Diskussion der „Frauenfrage“ und ihrer Einschätzung „keine weiteren Erkenntnisse“ erbringen würde. An anderer Stelle scheinst du mit Blick auf Proudhons Frauenbild die These vertreten, dass – nimmt man im „die Geschlechterdifferenz als eine politisch relevante Kategorie an“ –, dieser kaum als Anarchist bezeichnet werden könne. Bini Adamczak nun hat folgende Vermutung geäußert: „Der Maskulinismus im Allgemeinen scheint mir im Anarchismus fast noch stärker ausgeprägt zu sein, als im Marxismus, in Spanien 1936 noch weniger angefochten als in Russland 1917.“ Nimmt man nun die von dir eingeforderte Perspektive ein, ließe sich schlussfolgern: Der russische Bolschewismus war letztlich freiheitlicher als der spanische Anarchismus. Oder anders: Aus feministischer Perspektive steht der Marxismus dem Anarchismus näher, als der Anarchismus sich selbst. Was meinst du dazu?

ANTJE SCHRUPP: Was den Vergleich Spanien 1936 und Russland 1917 angeht, so wäre es sicher interessant, dazu mal eine Studie zu haben, die die beiden Bewegungen vor dem Hintergrund der Geschlechterperspektive untersucht. Ich kenne beide nicht gut genug im Detail, um da zu einer Entscheidung zu kommen, aber es scheint mir eher wie eine Wahl zwischen Pest und Cholera. Wobei es in beiden Bewegungen auch zahlreiche engagierte Frauen und auch Frauengruppen gegeben hat.

Zu Proudhon und seinen Anhängern – die Frage ist nicht so sehr, ob ich die dem Anarchismus zurechne, sondern eher, ob sich heute noch Anarchisten in deren Traditionslinie stellen, ohne sich zum proudhonistischen Antifeminismus zu positionieren. Wobei eine bloße Distanzierung von diesen „Aspekten“ meiner Ansicht nach nicht reicht. Aus politikwissenschaftlicher Perspektive würde ich jedenfalls sagen, dass es wenig sinnvoll ist, den Proudhonismus und die Gruppe um Bakunin zu einer gemeinsamen ideengeschichtlichen Strömung zu zählen. Also: Wenn man Bakunin für einen Anarchisten hält, war Proudhon keiner und umgekehrt.

An der Vermutung von Bini Adamczak ist insofern was dran, als Ideale von viriler Männlichkeit im Anarchismus durchaus stärker verbreitet waren als im Marxismus. Andererseits aber gab es eben auch die andere Seite. Wenn man dann vielleicht auch noch weniger Bakunin im Blick hat, als vielmehr andere maßgebliche Aktivisten in seinem Umfeld wie Elisée Reclus, Paul Robin, Eugène Varlin oder Benoit Malon, dann kann man sagen, dass es im Anarchismus viele positive Beispiele dafür gegeben hat, dass Männer an Kooperationen mit Feministinnen interessiert waren und sich für ein herrschaftsfreies Geschlechterverhältnis eingesetzt haben. Sie sind nur vielleicht von den nachfolgenden Generationen nicht genügend rezipiert und gewürdigt worden.

Dass der Marxismus aus feministischer Perspektive dem Anarchismus näher steht als der Anarchismus sich selbst würde ich nicht sagen. Es gab im Marxismus andere feministische Ansätze, die eher in Richtung „von oben verordneter Gleichstellung“ gingen und eher mit heutigem „Staatsfeminismus“ wie Quoten oder Gleichstellungsgesetzen vergleichbar sind. „Der Feminismus“ ist ja keine inhaltlich kohärente Bewegung. Die gemeinsame Klammer ist, dass alle Feministinnen die Beschäftigung mit Geschlechterverhältnissen und die Kritik an patriarchalen Strukturen für zentral halten. Wie sie die dann auflösen, ist aber ganz unterschiedlich und sogar konträr. Nicht alle Feministinnen sind ja auch Anarchistinnen.

PHILIPPE KELLERMANN: Könntest du erläutern, was du unter „Ideale[n] von viriler Männlichkeit im Anarchismus“ meinst? Und, weil du Paul Robin erwähnst: Spielte dieses Thema deiner Meinung nach auch beim Bruch zwischen diesem und Bakunin eine Rolle?

ANTJE SCHRUPP: Damit meine ich das Ideal des heldenhaften Revolutionärs, der beim Kampf mit der Staatsmacht bereit ist, sein Leben zu riskieren, der Hang zu Konspiration und kompromissloser, eben „männlicher“ Entschlossenheit. Das wurde teilweise schon zelebriert, auch von Bakunin, wenn man zum Beispiel seine zeitweise Faszination für Netschajew anschaut. Ob das bei den Meinungsverschiedenheiten zwischen ihm und Robin explizit eine Rolle spielte, weiß ich nicht. Es hat wohl eher nach Bakunins Wegzug aus Genf nach Locarno 1869 generell eine Entfremdung zwischen ihm und den diesseits der Alpen Gebliebenen gegeben. Die Netschajew-Affäre fällt ja genau in diese Zeit, und dann kam Anfang 1870 auch noch der kopflose Aufstand in Lyon, den Bakunin zusammen mit Albert Richard unternahm, und bei dem man auch einen gewissen „Virilitätsüberschuss“ diagnostizieren könnte. Richard war bei Robin und anderen Genfer Allianzmitgliedern eher unbeliebt, sie sahen in ihm einen Hitzkopf mit „großem Maul und nichts dahinter“. Sowohl in Bezug auf Netschajew als auch in Bezug auf Richard – der nach der Pariser Kommune Bonapartist geworden ist – hat Bakunin schlechte Menschenkenntnis bewiesen, und vielleicht hat er sich dabei auch von ihrem mit Männlichkeit aufgeladenen Revoluzzertum blenden lassen. Bakunin war aber auch inhaltlich mit vielem nicht einverstanden, was Robin, der dann die Leitung der Allianz in Genf übernahm, und die anderen nach seinem Wegzug taten. Es wäre spannend, diese ganzen Kontroversen gerade auch innerhalb des anarchistischen Flügels genauer zu erforschen und zu analysieren, und sicher wäre dabei auch zu diskutieren, inwiefern divergierende Männlichkeitsideale eine Rolle spielten. Aber beim derzeitigen Forschungsstand bleibt es leider spekulativ.

PHILIPPE KELLERMANN: Werfen wir nun doch einen kleinen Blick in die Gegenwart: Kannst auch du gegenwärtig eine gewisse Renaissance des Anarchismus erkennen? Und wenn ja – kann man dies als positiv betrachten? Der marxistische Historiker Eric Hobsbawm beispielsweise meinte vor nicht allzu langer Zeit, dass eine Art Wiederaufleben von so etwas wie einem „Bakunin’sche[n] Anarchismus“ bei antikapitalistischen Bewegungen „ohne klare Vorstellung von Kapitalismus“ nicht zufällig sei. Denn dieser wäre doch „der Zweig der sozialistischen Theorien des 19. Jahrhunderts, der am wenigsten sagen konnte, was geschehen sollte, wenn die alte Gesellschaft überwunden war, und sich deshalb am leichtesten für eine Situation nutzen ließ, die von heftiger gesellschaftlicher Unzufriedenheit ohne wirkliche Perspektive geprägt ist“.

ANTJE SCHRUPP: Ich habe eigentlich nicht den Eindruck, dass der Anarchismus als politische Theorie eine Renaissance erlebt. Ein bisschen hatte ich das nach dem Zusammenbruch des Sowjet-Sozialismus gehofft, weil dadurch ja ein Vakuum entstanden war in Bezug auf antikapitalistische Gesellschaftskonzepte. Aber man muss doch sagen, dass sich der Anarchismus nicht wirklich als Alternative ins Gespräch bringen konnte, vielleicht auch, weil die Inhalte einfach breiteren Kreisen kaum bekannt sind. Und natürlich müsste er als Theorie deutlich weiter gedacht werden angesichts der Komplexität, die gesellschaftliche und ökonomische Verflechtungen heute angenommen haben. Da kommt man mit Vorschlägen des 19. oder frühen 20. Jahrhunderts nicht weit, egal ob marxistisch oder anarchistisch. Ich finde übrigens schon, dass es angesichts der gegenwärtigen Krisen Perspektiven gibt. Die einflussreichsten Ansätze sind derzeit meiner Wahrnehmung nach die Commons- und die Grundeinkommensbewegung, sowie auf kulturell-gesellschaftlichem Gebiet der Feminismus. Allerdings sind diese Bewegungen beim Thema Staat versus Selbstorganisation nicht eindeutig. Es gibt in ihnen sowohl Strömungen, die mehr auf staatlichen Einfluss setzen, als auch solche, die eher auf Selbstorganisation setzen. Statt den Anarchismus als eigenes Label ins Spiel zu bringen, finde ich es sinnvoller, anarchistische Impulse in diese Bewegungen hineinzutragen.