Entfremdung als Chance
Ich möchte mich herzlich bei Ihnen bedanken, dass Sie mich zu diesem Vortrag eingeladen haben. Denn so hatte ich einen Grund, mich einmal mit Simone Weil zu befassen und besonders ihr Buch »Die Einwurzelung« zu lesen – etwas, das ich schon lange vorhatte, aber nie in Angriff genommen habe.
Wenn man dieses Buch, das ja schon über sechzig Jahre alt ist, heute liest, ist es verblüffend, wie aktuell es ist. Und vieles, was Simone Weil damals, 1943, über die Probleme schreibt, die die Entwurzelung der Menschen aus ihrer Geschichte, aus ihrer Kultur, aus ihren sozialen Bezügen mit sich bringt, ist heute noch viel offensichtlicher geworden.
Entwurzelung bedeutet für Simone Weil, dass Menschen sich nicht mehr eingebettet fühlen in eine Kontinuität von Gemeinschaften, in ein größeres Ganzes, zu dem sie gehören, von dem sie ein Teil sind, in dem sie sich aufgehoben fühlen und das ihrem Leben einen Sinn gibt, der über das einzelne Individuum hinaus geht. Diese größeren Bezüge können etwa Familien über viele Generationen hinweg sein, Dorfgemeinschaften, Regionen, Religionen, Kulturen, die Muttersprache. Es sind Bezüge, die ihre Wurzeln weit in der Vergangenheit haben und deren Bedeutung in die Zukunft hinein ragen sodass die oder der Einzelne sich nicht isoliert in der Welt empfindet.
Simone Weil, die Mystikerin, schreibt, dass es den Bedürfnissen der Seele widerspricht, wenn Menschen sich nicht auf diese Weise eingewurzelt fühlen. Wenn es keine Ordnungen gibt, an denen sie sich orientieren können, Ordnungen, die in etwas Größerem, Höheren verankert sind als in der jeweils Einzelnen selbst oder einem flüchtigen »Zeitgeist« und ständig wechselnden Moden.
Nur noch zwei Dinge seien es, so schreibt Simone Weil damals, Anfang der 1940er Jahre, »die durch die Gegenwart hindurch eine Verbindung zwischen Vergangenheit und Zukunft sichern«1: Das Geld und der Staat hätten alle sonstigen Bindungen ersetzt. Heute sieht es fast schon so aus, als sei nur noch das Geld übrig geblieben. Denn angesichts der Globalisierung spielt ja auch der Staat, die Nation immer weniger eine Rolle. Ausgerechnet das Geld – also jenes unabhängige Tauschmittel, das sich gerade durch Bindungslosigkeit auszeichnet, weil es völlig beliebig an die Stelle von allem treten kann – scheint das einzige Verbindungsglied zwischen den Menschen geworden zu sein.
Es ist interessant, dass dieses Phänomen der Entwurzelung, das heute ja ganz offensichtlich ist, Simone Weil schon vor 60 Jahren beschäftigt hat. Wir denken ja oft, dass die Phänomene der Globalisierung, der Migration rund um den Globus, der Flexibilisierung im Arbeitsleben und der zunehmenden Schwierigkeiten, verlässliche Beziehungsstrukturen aufzubauen, etwas ganz Neues wären.
Auf den ersten Blick sieht es so aus, als wäre heute noch alles viel schlimmer geworden als damals. Die Entwurzelung ist noch weiter voran geschritten, die Welt wird immer chaotischer und unsicherer. Aber ist das wirklich so? Simone Weil war jedenfalls damals sehr pessimistisch. Und trotz aller Schwierigkeiten, mit denen wir es heute zu tun haben, lebte sie ja in noch viel schwierigeren Zeiten: Hitler und die Nazis waren an der Macht, überzogen die Welt mit Krieg, betrieben die Ermordung von Millionen Juden. Die Weltwirtschaft lag am Boden, die Menschen kämpften mit dem Überleben.
Simone Weil konnte auch vieles nicht voraussehen. Zu ihrer Zeit gab es noch keine Globalisierung. Entwurzelung war damals meist eine Folge von Eroberungen, davon also, dass fremde Staaten die Macht in einem Land übernahmen und die Sitten und Gebräuche und Sprachen der eroberten Regionen unterdrückten. Heute hingegen sind wir mobil geworden. Nicht fremde Staaten kommen zu uns, sondern fremde Menschen – sie bringen uns neue Ideen, Anregungen, Herausforderungen. Und auch wir selbst sind mobiler geworden. Über das Internet können wir mit Menschen überall auf der Welt kommunizieren. Die Loslösung von überkommenen Strukturen und Ordnungen bietet auch eine Chance für Freiheit.
Was Simone Weil ebenfalls nicht voraussehen konnte, das war die Frauenbewegung, die die Welt in vielerlei Hinsicht verändert hat, und zwar zum besseren. Frauen haben heute viel mehr Möglichkeiten als damals, und sie haben die Befreiung von der alten patriarchalen Ordnung auch dazu genutzt, neue Beziehungen und Ordnungen aufzubauen. Auch bei einem anderen Problem, das schon Simone Weil beschäftigte, die zunehmende Arbeitslosigkeit, sind wir heute auf einem anderen Stand: Damals bedeutete Arbeitslosigkeit nicht nur eine Entwurzelung von der eigenen Identität des Berufes, sondern auch großes soziales Elend und Armut. Das bedeutet sie heute auch noch, aber es entwickeln sich auch neue Perspektiven. Wir sind –jedenfalls als Gesellschaft insgesamt – heute viel reicher. Unsere Wirtschaft ist so produktiv, dass sie auch ohne viele Arbeitskräfte zu benötigen, sehr viel Reichtum und Wohlstand erwirtschaftet, es käme nur darauf an, ihn zu verteilen. Das gibt uns, jedenfalls theoretisch die Chance, nach neuen Lebensformen und sinnvollen Tätigkeiten jenseits der Erwerbsarbeit zu suchen, ein Prozess, für den ich gute Chancen sehe. Zum Beispiel wird ja derzeit über ein leistungsunabhängiges Grundeinkommen diskutiert – wenn alle Menschen Geld hätten, auch unabhängig davon, ob sie Erwerbsarbeit haben, dann erweitern sich die Möglichkeiten dafür ja sehr. Außerdem sind ja inzwischen die Frauen voll ins Erwerbsleben integriert, aber trotzdem fixieren sie sich nicht auf den Beruf, sondern sind auch in der Familie, im Ehrenamt, in der Pflege von Beziehungen und in der Sorge um Kinder, Alte, Kranke aktiv. Sie könnten Vorbilder sein für arbeitslose Männer, die keinen Sinn mehr in ihrem Leben finden.
»Entfremdung als Chance« habe ich also meinen Vortrag genannt, weil ich in dieser Entwicklung hin zu einer globalen, flexiblen Welt tatsächlich eine Chance sehe. Wenn fremde Kulturen mir einfach übergestülpt werden, zum Beispiel von fremden Eroberern, kann ich wenig machen. Wenn die Fremdheit aber mit Mobilität verknüpft ist, dann kann ich aktiv werden. Dann kann ich mitmischen. Dann kann ich in Bewegung sein. Das Zusammenbrechen einer alten Ordnung bedeutet immer auch die Chance, neue Ordnungen zu schaffen, und vielleicht bessere. Wenn der Verlust des Arbeitsplatzes nicht mehr gleichbedeutend sein muss mit Armut, dann können wir neue Lebensstile und Identitäten erfinden. Das passiert natürlich nicht von selbst. Es kommt auf uns an, auf unseren Erfindungsreichtum und unser Engagement.
Viele sehen das natürlich nicht so optimistisch. Angesichts des Fremden macht sich Angst breit. Von einem »Kampf der Kulturen« ist inzwischen schon die Rede. Von Parallelgesellschaften. Im Bezug auf die wirtschaftliche Entwicklung machen wir uns Sorgen um unsere Rente, um die soziale Teilhabe der Menschen ohne Arbeitsplatz.
Diese Angst und Unsicherheit führt in vielen Bereichen zu einem rückwärtsgewandten Reflex. Können wir nicht einfach alles so machen wie früher? Könnten nicht zum Beispiel Frauen und Männer wieder in ihre klassische Rollenverteilung schlüpfen – die eine backt Apfelkuchen und schafft Mann und Kindern ein heimeliges Zuhause, während der andere in die böse Welt hinaus zieht und das Geld heranschafft? Auch die Renaissance der Religionen gehört dazu: Im Islam gibt es derzeit eine große Erweckungsbewegung, aber auch die Kirchen reagieren ja darauf, indem sie nach einem eigenen Profil suchen, das sich klar von anderen Glaubensformen abgrenzen will. Allem Neuen steht man da skeptisch gegenüber.
Aber solche rückwärtsgewandten Versuche sind immer irgendwie hohl, sie bieten keine Lösungen für die Zukunft. Die Geschichte kommt aber nicht wieder zurück. Aber was wäre die Alternative?
Keine Alternative ist jedenfalls der gegenteilige Versuch, alle kulturellen Unterschiede einfach auszumerzen und alle auf einen einheitlichen Standard einzuschwören. Sozusagen einen einheitlichen Weltbürger zu schaffen und alle kulturellen Besonderheiten in den Bereich des Privaten zu verdrängen. Die Religion, die Essgewohnheiten, die Kleidungsstile – all das soll im öffentlichen, gemeinsame Leben unsichtbar bleiben und keinen Einfluss haben. Kopftücher werden also verboten, und alle sollen immer nur deutsch sprechen, sogar schon im Kindergarten. Dieser Versuch, wie er derzeit in einigen hessischen Kommunen unternommen wird, ist natürlich eine Entwurzelung ohnegleichen – die Muttersprache ist das allerwichtigste Bindeglied zur eigenen Kultur und den eigenen Wurzeln, sie gering zu schätzen ist geradezu verbrecherisch. Und es ist dumm zu glauben, dass dadurch die Verständigung leichter würde. Im Gegenteil. Wer nämlich die eigene Muttersprache nicht beherrscht, kann auch andere Sprachen nicht lernen. Es ist nicht so, dass wir da eine begrenzte Kapazität haben, und wenn zuviel Türkisch im Kopf ist, passt kein Deutsch mehr rein. Die Frage ist nicht, wie viele Sprachen wir können, sondern ob wir überhaupt sprechen können, ob wir also eine Muttersprache haben, in der wir zuhause sind – und wenn das so ist, wird es uns leicht fallen, auch andere Sprachen zu lernen. Kinder, denen wir die Muttersprache nehmen, können überhaupt nicht sprechen lernen, in keiner Sprache.
Beide Tendenzen, die zur Vereinheitlichung allgemeiner Standards ebenso wie die zum rückwärtsgewandten Hervorgraben vermeintlich reiner und ursprünglicher Traditionen, können gar nicht funktionieren. Sie sind letztlich nur zwei Seiten derselben Medaille. Sie zeigen, dass wir nicht gelernt haben, mit dem Anderen umzugehen, sodass wir gemeinsam Welt gestalten, das Andere aber anders bleibt. Dass wir um uns herum mit dem Fremden konfrontiert sind, ist aber eine Tatsache. Ebenso, dass unsere Lebensläufe flexibler werden müssen, dass wir uns nicht darauf verlassen können, dass das, was wir heute machen, auch in zehn oder auch noch fünf Jahren genauso sein wird. Trotzdem bleiben die Bedürfnisse der Seele, um mit Simone Weil zu sprechen, nach wie vor bestehen, das Bedürfnis, sich eingebettet zu fühlen in eine größere Ordnung, deren Wurzeln in die Vergangenheit reichen und die Sicherheit und Orientierung für die Zukunft bietet.
Aber wenn uns heute eine Einwurzelung gelingen soll, dann kann das nur eine Einwurzelung in der Fremdheit sein. Die Globalisierung ist eine Tatsache. Wir können uns nicht mehr säuberlich auseinander sortieren. Wir können aber auch nicht alles zu einem tristen Einheitsbrei verrühren. Es gibt keinen anderen Ausweg: Wir müssen lernen, uns in der Begegnung mit dem Fremden heimisch zu fühlen.
Das Fremdsein der Frauen
Wie das gehen kann, dafür ist mir die Frauenbewegung ein Vorbild. Frauen sind ja nicht nur fremd im Gegenüber zu anderen Kulturen, Sitten und Religionen, sondern auch fremd im Hinblick auf ihr Geschlecht: Sie sind, um es mit Simone de Beauvoir zu sagen, das andere Geschlecht, die Anderen, die sich einrichten und zurecht finden mussten in einer von Männern für Männer gemachten Welt, zu deren Institutionen sie bis vor wenigen Jahrzehnten keinen Zugang hatten, in der sie keine institutionelle Macht hatten, wenig Geld, in deren Geschichtsschreibung sie nicht vorkamen und so weiter. Wie sind Frauen mit dieser Entfremdung zurecht gekommen? Welche Möglichkeiten haben sie gefunden, sich in einer Welt einzuwurzeln, die von anderen dominiert wird? Wie konnten sie, obwohl sie doch keine Macht hatten, die Welt so enorm verändern wie mit der Frauenbewegung? Und was können wir als Gesellschaft davon lernen?
Das Fremde, das Andere, die Differenz und die Frauen haben ja schon immer sehr viel miteinander zu tun. Man könnte sogar sagen, die Frauen und das Fremde sind gleichzeitig erschaffen worden. Die Geschichte der Menschheit begann – nach der Schöpfungserzählung der hebräischen Bibel – mit einer Entfremdung. Das Menschenwesen, auf hebräisch: Adam, das eins war mit sich und seiner Umgebung, das kein Geschlecht hatte und keine Sorgen, das ohne Mühsal und Widrigkeiten im Paradies lebte, war einsam. Es beklagte sich bei Gott und verlangte nach einem Gegenüber. Also schuf Gott die Frau. Und mit der Frau die sexuelle Differenz, und mit der sexuellen Differenz den Mann.[2]
Adam, das geschlechtslose Menschenwesen, das eine, ganzheitliche, un-getrennte und un-entfremdete gibt es seither nicht mehr. Es gibt auf der Welt nur Frauen und Männer, möglicherweise noch andere Geschlechter, aber nicht mehr das Menschenwesen schlechthin. Seite es die Frau gibt, das Gegenüber, ist Menschsein nicht mehr Eins-sein, sondern viele sein.
Mit der Erschaffung der Frau, mit der sexuellen Differenz also, kam auch die Politik in die Welt: also die Notwendigkeit, über die eigenen Wünsche mit anderen zu verhandeln, das Streben nach Erkenntnis, Diskussionen über gut und böse, die Notwendigkeit, eigene Urteile zu fällen und die Welt zu gestalten, zu zweifeln, Dinge in Frage zu stellen, Antworten zu finden und wieder zu verwerfen. Sich mit anderen zusammen und auseinander zu setzen. Kurz gesagt: Die Welt nicht einfach nur passiv zu genießen und zu betrachten, sondern sie selbst gestalten, bearbeiten zu müssen, um überleben zu können. Mit Mühe und mit Freude.
Das Essen vom Baum der Erkenntnis war – nach jüdischer Interpretation – kein Sündenfall, sondern eine notwendige und unausweichliche Folge der Tatsache der Pluralität. Wenn der Mensch nicht mehr eins ist, sondern zwei, drei, vier oder sechseinhalb Milliarden, dann kann man nicht mehr einfach tun, was man will. Dann wollen die einen dies und die anderen etwas anderes. Dann geht nicht immer alles so einfach wie im Paradies, dann gibt es Hindernisse und Widerstände, wenn ich mit meinen Wünschen in der Welt aktiv werde. Es gibt die anderen und damit die Notwendigkeit, mich mit diesen Anderen in eine Beziehung setzen. Eine Beziehung, die gleichzeitig konfliktreich und lebensnotwendig ist.
Das heißt: Meine Existenz, die Existenz einer Frau, ist abhängig von der Existenz des Anderen, und das andere ist immer das Fremde. Das gilt natürlich auch für den Mann, es gilt für alle Menschen. Aber der Mann hat lange nicht verstanden, was die Erschaffung der Frau und damit die Pluralität der Menschen wirklich bedeutet. Statt zu sagen, okay, es gibt Mann und Frau und damit Fremdes und Unterschiedliches, hat er bekanntlich den Namen des geschlechtslosen Menschenwesens, Adam, für sich reklamiert. Hat sich selbst also Adam genannt und damit behauptet, nach wie vor für die Ganzheit, das Eine, zu stehen. Er hat also nicht akzeptiert, dass alle Menschen, Männer wie Frauen, Einheimische wie Zugewanderte, Fremde sind füreinander, sondern hat stattdessen die Frauen, wie alle anderen Anderen, zu den ihm Fremden erklärt. Hat also das Fremdsein nicht als eine Grundtatsache des Menschseins gesehen, sondern als eine Abweichung von sich selbst. Für die Frau ist das Anderssein das Normale. Für den Mann ist das Mannsein das Normale – genauer, das ein weißer, erwachsener und gesunder Mann sein. Das hat weit reichende Folgen, die man in der männlichen Philosophie und Politikgeschichte gut nachlesen kann: Frauen gelten da sozusagen als unnormale Männer, Menschen mit dunkler Hautfarbe als unnormale Weiße, Kranke als unnormale Gesunde, Kinder als noch nicht Erwachsene und so weiter. Die Menschen in ihrer Vielfalt und Unterschiedlichkeit werden danach beurteilt, wie nach oder fern sie der Norm sind, und diese Norm ist das Männliche, Gesunde, Erwachsene.
Wenn wir uns also mit diesem Phänomen der Entfremdung, des sich Fremd und fehl am Platz fühlens beschäftigen, ist es deshalb wichtig, zu fragen: Entfremdung wovon? Geht es um das Fremdsein, das die Grundlage unserer, der menschlichen Existenz ist, insofern Menschsein Vielesein heißt? Oder geht es um das Fremdsein im Hinblick auf etwas, das sich selbst für die Norm und für das Normale hält?
Das männliche Denken enthält heute eine verführerische Einladung an die Frauen, nämlich das Versprechen, das Fremdsein, die Entfremdung könnte überwunden werden. Anders gesagt: Die Männer bieten uns den Namen Adam an. Könnten wir nicht alle wieder geschlechtslose Menschenwesen werden? Nicht mehr Frau sein, sondern Mensch, Adam, eins mit uns, mit Gott und der Natur. Ein verlockendes Angebot. Es wird derzeit auch den Migrantinnen und anderen Völkern gemacht: Werdet so wie wir, übernehmt unsere Werte, unsere Kultur, unsere Gewohnheiten – und alles wird gut.
Wir dürfen aber nicht Einwurzelung mit Eins-Sein verwechseln. Im Gegenteil hat ja das Streben nach Einheit die Verwurzelung der Menschen in ihren jeweils besonderen Kulturen und Gemeinschaften gerade zerstört. Zuhause bin ich nicht in »der Menschheit« oder »auf der Welt«. Zuhause bin ich mit ganz bestimmten Menschen, mit meiner ganz speziellen Geschichte, in meiner ganz speziellen Umgebung. Die Unterscheidung zu anderen ist lebensnotwendig. Erinnern wir uns an die Schöpfungsgeschichte: Der Mensch braucht eine Gehilfin, die ihm Gegenüber ist, also das Andere. Ohne Pluralität, ohne Differenzen wären wir keine Menschen, sondern wie Tiere oder Automaten.
Das männliche Konzept des Eins-Seins
Die Vorstellung, es könnte ein Eins-Sein geben, einen nicht entfremdeten Zustand, zieht sich aber durch die gesamte Philosophiegeschichte. Da wurden Utopien entwickelt von idealen Welten und idealen Staatssystemen, Gebote wurden aufgestellt, deren Beachtung die Rückkehr zu paradiesischen Zuständen versprach.
Damit ergab sich natürlich ein Problem, nämlich dass das wahre Leben mit diese Utopien so gar nichts zu tun hat. Es ja schön und gut, sich die Welt und die Menschheit als Einheit vorzustellen. Aber sobald man die Studierstube verlässt, wird ja klar, dass es diese Einheit nicht gibt. Wohin man auch schaut: überall Verschiedenheit. Wie haben die Philosophien dieses Problem gelöst?
Sie haben sich vorgestellt, dass diese Unterschiede, die man im realen Leben sieht, keine wirklichen Unterschiede sind, sondern nur Variationen von eigentlich dem Selben. Zentral für dieses Denken war etwa der Philosoph Hegel, der mit seiner Erfindung der »Dialektik« den Versuch unternahm, Differenz und Gleichheit zusammen zu denken. So interpretierte Hegel alle realen Differenzen, Widersprüche, Gegensätze, Fremdheiten, die auf der Welt zu finden sind, als »dialektische« Entfremdungen, die auf ein übergeordnetes Wirken eines Einen zurückzuführen sind. Hegel nannte das den »Weltgeist«. Andere haben dieses Eine, das Höhere, das sozusagen Schiedsrichter über die tatsächlichen Verschiedenheiten führen soll, Gott genannt, oder Vernunft.
Was aber, wenn es das Eine, das Eigentliche gar nicht gibt? Sondern nur das Viele, das Andere (in Großbuchstaben)? Diesen Gedanken haben wir der feministischen Philosophie zu verdanken, also der Kritik daran, dass die Frauen immer als etwas vom Mann Abgeleitetes verstanden wurden. Die Existenz der Frauen war ja schon immer ein Stachel in dem Einheitsstreben der männlichen Philosophie. Die Tatsache, dass Menschen – und zwar alle ausnahmslos – nur deshalb auf der Welt sind, weil sie von einer Frau geboren wurden, zeigt ja schon, dass wir nicht gleich sind, sondern als Unterschiedliche auf die Welt kommen. Es gibt keinen nicht entfremdeten Zustand, unser Leben beginnt mit der Abnabelung, der Entfremdung des Kindes von der Mutter. Unterschiedlichkeit und Arbeitsteilung ist etwas Normales: Die Arbeitsteilung von Mann und Frau im Geburtsvorgang, die Arbeitsteilung von Erwachsenen und Kindern im Lernen und so weiter. Für Hannah Arendt ist die Tatsache der Gebürtigkeit der Grund für die Pluralität der Menschen: Jeder und jede ist einzigartig und anders als alle Anderen.
Die mütterliche Tätigkeit des Gebärens wurde von den männliche Philosophen aber nicht als Arbeit und Kulturleistung, also nicht als menschliche körperlich-geistige Aktivität interpretiert, sondern als Teil der Natur – und deshalb dann sozusagen aus der Politik ausgeklammert und ins Private verlagert. Dass Menschen als Abhängige geboren werden und ihr Leben lang abhängig bleiben, angewiesen auf die Hilfe und Fürsorge von anderen, das ist sozusagen in dieser Logik Privatsache, ein Problem, um das sich die Frauen zuhause kümmern sollen, während die Männer Geld verdienen oder mit ihresgleichen, sozusagen »auf Augenhöhe« große Politik machen.
Erst in den letzten Jahren rückt das alles – Stichwort Pisa-Studie, Stichwort Pflegenotstand – ganz langsam ins Zentrum der Politik. Ob es ihr gelingen wird, gute Lösungen zu finden, ist derzeit noch offen. Ich meine, es wird darauf ankommen, dass wir uns von diesem patriarchalen Menschenbild verabschieden, dass wir also einsehen, dass Hilfsbedürftigkeit und aufeinander Angewiesen sein kein Sonder- oder Notfall ist, sondern die Normalität, die für alle jederzeit gilt.
Über die schädlichen Folgen der Assimilierung und Integration in eine andere Kultur haben sich Frauen lange Gedanken gemacht. Sollen sie werden wie Männer? Gibt es überhaupt etwas bleibend Weibliches? Nachdem wir bis vor kurzem alle versuchten, möglichst emanzipiert zu sein, gibt es derzeit wieder einen Ausschlag in die zweite Richtung. Die Vorstellung, es gebe ein natürliches, quasi biologisch festgelegtes »Wesen« der Frau ist wieder ziemlich populär – peinlich vorgeführt zum Beispiel von Eva Hermann in ihrem Buch, das aber zum Glück nur ein kurzes Strohfeuer war. Andere hingegen glauben, dass die sexuelle Differenz sei lediglich eine übergestülpte kulturelle Konstruktion sei und dass es »eigentlich« gar keinen Unterschied zwischen Frauen und Männern gebe, sondern nur quasi geschlechtsneutrale Menschen.
Der Feminismus hat beide Modelle abgelehnt, und zwar deshalb, weil sie nicht mit der Freiheit der Frauen zu vereinbaren sind. Beide legen nämlich die Bedeutung des Frauseins von außen fest. Ich bin eine Frau – dieser Satz bedeutet entweder: Ich bin biologisch so und so gepolt, oder er bedeutet: Ich bin von der Kultur oder der Erziehung so und so gemacht worden. Vor allem aber ist die Vergleichsgröße bei beidem immer wieder der Mann. Frauen sind das nicht-männliche, Frauen sind die anderen des Mannes.
Frauen und insbesondere Feministinnen haben aber gesagt: »Die Frauen« gibt es nicht, denn jede Frau ist anders, hat andere Wünsche, Absichten, Meinungen und Ideen. Es gibt deshalb auch keine »unweiblichen« Frauen: Alles was eine Frau tut ist weiblich, einfach weil es eine Frau ist, die es tut. Eine Frau, die Hosen trägt, trägt kein männliches Kleidungsstück, sondern macht Hosen zu einem Kleidungsstück für Frauen. Das heißt, eine Frau ist auch dann ganz und gar weiblich, wenn sie etwas anderes tut als die Mehrheit ihrer Geschlechtsgenossinnen. Etwas allgemein Weibliches gibt es nicht, und was heute noch als »unweiblich« gilt kann morgen schon für alle Frauen ganz normal sein.
Aber obwohl jede Frau anders ist, ist trotzdem das Frausein nicht bedeutungslos. Denn wir, freie Frauen, sind es, die dem Frausein eine Bedeutung geben – und es dadurch ständig verändern, zum Besseren oder zum Schlechteren.
Frauen sind nicht die anderen des Mannes, sie sind auch nicht die gleichen, wie der Mann, sie sind das Andere schlechthin (in Großbuchstaben). Sie sind anders, als sie selbst. Sie sind anders, als andere Frauen, sie sind anders, als sie es selbst sich vorstellen, und sie werden anders sein, als sie es heute noch sind – jede einzelne Frau, und die Frauen allgemein auch. Und dies ist eine Erkenntnis, die für alle Menschen gilt, egal welcher sozialen Gruppe sie zugerechnet werden. Hannah Arendt hat gesagt, dass es im politischen Handeln nicht darauf ankommt, was wir sind, sondern wer wir sind.
Diese Erkenntnis des Feminismus, dass die Zugehörigkeit zu etwas – zum Beispiel zu den Frauen – nicht festlegt, was ich, eine bestimmte Person, tun soll oder will, könnte auch im Hinblick auf andere gesellschaftliche Gruppen und Unterschiede fruchtbar gemacht werden. Auch im Umgang mit anderen Kulturen verfahren wir ja oft ähnlich. Wir fragen danach, was »der Islam« zur Demokratie sagt oder was unverzichtbar ist für »die deutsche Leitkultur«, was die Kernkompetenzen »des Christentums« sind und ob »die Musliminnen« unterdrückt sind. Wir haben uns irgendwie angewöhnt, Menschen nur noch als Repräsentanten ihrer sozialen Gruppe zu sehen: Sie ist Deutsche, sie ist Ausländerin, er ist Agnostiker, er ist Hindu, sie ist arbeitslos und so weiter. Und dann ziehen wir irgend eine neue Studie oder Statistik aus der Schublade, die uns Aufschluss darüber geben soll, was »die Frauen« oder »die Arbeitslosen« oder »die« wer auch immer denken, brauchen, wollen und tun.
Das Wesen einer Person zeigt sich aber im individuellen Handeln und Sprechen, nicht in ihrer Zugehörigkeit zu dieser oder jener soziologischen Kategorie. Deshalb müssen wir uns, wenn wir Menschen begegnen, nicht fragen: Was ist sie oder er? Sonder wer ist sie oder er?
Einheit als Beziehung
Wenn ich sagte, dass das Ideal des Eins-Seins, der Perfektion, der universellen Harmonie, eine männliche Vision sei, könnte man vielleicht entgegnen, dass es doch gerade die Frauen sind, die immer nach Harmonie streben, die Konflikte vermeiden wollen. Ich glaube aber, das hängt gerade miteinander zusammen: Weil die Männer davon überzeugt sind, dass es das Eine, die Einheit »eigentlich« gibt, sind sie viel weniger ängstlich darin, Konflikte auszutragen, sich zu zerstreiten, Kriege zu führen. Sie sind einfach überzeugt, dass diese ganzen innerweltlichen Auseinandersetzungen irgendwo »oben« wieder in das Eine zusammenlaufen. Bei Gott oder der Vernunft oder vor Gericht – irgendwo ist ein Schiedsrichter, der entscheidet, wer recht hat.
Frauen hingegen wissen, dass diese Einheit eine Illusion ist. Sie befürchten, dass durch Streit und Kriege es zu einer wirklichen Trennung kommen kann, dass beide Seiten auseinanderdriften, möglicherweise die eine die andere vernichtet. Deshalb tun sie mehr als Männer dafür, Harmonie und Einheit herzustellen, was nicht immer nur gut ist. Manche Konflikte, die oberflächlich ruhig gehalten werden, brodeln unter der Oberfläche weiter. Aber
die Vorsicht ist berechtigt. Wenn es keinen »einen« Geist gibt, der das Menschliche trotz aller Gewalt wieder zusammenführt, dann sind nämlich wir es, die dafür zuständig sind, dass nicht alles auseinander fällt, dass das Andere, das Fremde, nicht vernichtet wird.
Welche gedankliche Alternative aber hat nun die weibliche Philosophie für den Umgang mit dem Fremden und dem Ent-fremdeten, dem Anderen also, gefunden? Wenn es nicht die Einheit der Vernunft, des einen Gottes, des Weltgeistes ist?
Es ist die Beziehung. Es ist die Erkenntnis, dass das Andere, dem ich begegne, mir zwar nicht entspricht, dass wir nicht gleich sind, dass wir uns aber dennoch zueinander in eine Beziehung setzten können. Das es etwas geben kann, das zwischen mir und dem anderen vermittelt. Ein Inter-Esse, wie Hannah Arendt sagt, etwas, das zwischen uns ist – inter-est – und uns gleichzeitig trennt und verbindet, wie Luce Irigaray sagt.
Diese Antworten, die Philosophinnen ausformuliert und aufgeschrieben haben, haben die Frauen zuerst in ihrer privaten und politischen Praxis gefunden – es war nämlich immer die persönliche Beziehung, mit der sie die Verbindung zu anderem hergestellt haben, zum Beispiel zu den Männern. Ich kann eine Beziehung nicht nur zu Meinesgleichen herstellen, sondern auch zum Anderen, zum Fremden, indem ich Beziehungen knüpfe oder auch löse, verändert sich die Welt. Ich kann das Andere zwar vielleicht nicht verstehen, aber doch mich dafür interessieren, mich mit ihm anfreunden. Sogar mehr noch: Nur in einer Beziehung zum Anderen gibt es überhaupt jenes Mehr, das eine Antwort auf mein Begehren, das Veränderungen ermöglicht.
Zwei Stichworte sind hierfür wichtig: Liebe und Sprache. Liebe ist die Art und Weise, mich persönlich, mit ganzer Person, mit etwas in Beziehung zu setzen.[3] Und Sprache ist dasjenige Medium, das zwischen mir und dem Anderen vermittelt, mit dem wir uns verständigen können über unser Wünsche, Konflikte, Ansprüche, Erwartungen, über unsere Interessen, das Inter-Esse, das also, was zwischen uns ist, das uns gleichzeitig trennt und verbindet.[4]
Liebe basiert nicht auf Gemeinsamkeiten, auch nicht auf Verträgen und auch nicht auf Gefühlen. Sondern auf individuellem, persönlichem Begehren und der Entscheidung, sich in eine Beziehung zu setzen. Wobei Liebe sich nicht nur auf andere Personen richten muss und natürlich schon gar nicht auf die kleine Einheit Mann und Frau, auf die der Begriff in unserer Kultur reduziert wurde. Liebe kann sich auch auf Dinge, auf Projekte, auf Tätigkeiten, auf Gott, auf die Welt insgesamt richten. Liebe heißt: Ich möchte eine persönliche Beziehung zu etwas oder jemandem haben, und zwar auch gerade dann, wenn ich dieses etwas oder diesen jemand nicht verstehe, wenn wir nicht einig sind, wenn ich dieses etwas oder diesen jemand nicht ganz durchschaue. Aber es interessiert mich, es fasziniert mich, es regt mich an oder regt mich auf. So gesehen gewinnt auch die Aufforderung »Liebe deine Feinde« einen Sinn. Auch einen Konflikt zu führen bedeutet, eine Beziehung zu haben. Das Gegenteil von Liebe ist nicht Abneigung, Feindschaft oder Hass, sondern Gleichgültigkeit, Abbruch der Beziehung, Desinteresse. Wenn nichts mehr zwischen uns steht, das uns verbindet.[5]
Ent-Fremdung wäre damit also nicht der Verlust einer Einheit, des Eins-Seins, der Identität, Ganzheitlichkeit und Harmonie, sondern der Verlust der Beziehung, des Interesses. Die Liebe ist verloren gegangen, das Fremde, das Andere ist zwar noch da, aber es gelingt mir nicht mehr, mich und mein persönliches Begehren damit in eine Beziehung zu setzen. In interessiere mich nicht mehr dafür. Ich bin ent-fremdet im wahrsten Sinn des Wortes, denn ich habe das Fremde verloren, ich begehre es nicht mehr, und deshalb kann es mir auch kein Gegenüber und keine Hilfe mehr sein.
Resumee: Relativität statt Relativismus
Was heißt dies alles nun für unsere Eingangsfrage, danach also, wie heute eine Einwurzelung in der Fremdheit gelingen kann? Wie kann es möglich sein, den Bedürfnissen der Seele nach Kontinuität und Gemeinschaft gerecht zu werden angesichts der Tatsache, dass das Fremdsein nicht ein Sonderfall ist, ein Unfall, eine Ausnahme, sondern das Normale, eine Bedingung nicht nur der heutigen globalisierten Zeiten, sondern des Menschseins schlechthin?
Sich selbst in Beziehung setzen – darauf kommt es an. Die Relativität, also die konkrete Beziehung, ist eine Alternative zu den herkömmlichen Modellen, von denen ich eingangs gesprochen habe: Ist jede Kultur für sich abgeschlossen und muss ihre Ursprünglichkeit bewahren? Oder geht es andererseits darum, all diese Unterschiede und Eigentümlichkeiten miteinander zu vermischen? Leben wir in einem Kampf der Kulturen oder in einer fröhlichen, unverbindlichen Multi-Kulti-Idylle? Müssen wir die Eigenarten anderer Kulturen respektieren, auch wenn sie grausam sind? Oder müssen wir alle auf gemeinsame Standards einschwören wie die universalen Menschenrechte und sie kompromisslos überall durchsetzen?
All das sind falsch gestellte Fragen. Weder das eine noch das andere wird funktionieren. Die Bedürfnisse der Seele – um es mit Simone Weil zu sagen – widersprechen einem Trend, alles zu vereinheitlichen und keine Besonderheiten mehr zuzulassen. Wenn man alle schönen bunten Farben einfach unterschiedlos zusammenmischt, entsteht ein tristes Braun, das niemand mehr schön findet, mit dem sich niemand identifizieren und in dem sich niemand heimisch und eingewurzelt fühlen kann. Wenn sich aber die unterschiedlichen Kulturen gegeneinander abschotten, werden sie allesamt versteinern und verknöchern, sie sind nicht mehr lebendig und bieten der Seele daher ebenso wenig eine Möglichkeit der Einwurzelung.
Die Philosophie der Relativität, der Beziehung, die aus den Erfahrungen der Frauen in ihrem Umgang mit der Fremdheit gewonnen ist, weist einen Ausweg aus diesem Dilemma. Kulturen sind nichts feststehendes, sie verändern sich ständig, sowohl aus sich selbst heraus als auch in der Begegnung mit anderen. Das bedeutet aber nicht, dass sie sich angleichen und früher oder später auf eine Einheitskultur hinauslaufen. Es ist vielmehr ein ständiger Prozess der Vermischung und der gleichzeitigen erneuten Trennung. Kulturen lösen sich auf, andere entstehen neu.
Aus der Relativität, der Beziehung der Kulturen untereinander, und das heißt der Einzelnen zu den Kulturen und Gemeinschaften, in die sie hinein geboren sind, entsteht Veränderung und neue Vergewisserung. Kulturen verändern sich, aber es bleiben weiterhin viele unterschiedliche Kulturen, die ihren Mitgliedern Heimat und Einwurzelung bieten. Das ist kein Kampf, sondern eine Beziehung, die auf Neugier an dem Anderen gründet, auf gegenseitigem Interesse, und die nicht das Ziel hat, die anderen mir anzugleichen oder mich meinerseits an sie. Es gibt keinen Schiedsrichter, der festlegt, welche Kultur Recht hat, sondern entscheidend ist, was diese Kulturen, also die Menschen, die ihnen angehören, also Sie und ich und wir alle, untereinander aushandeln. Wie wir uns selbst verändern und wie wir die anderen verändern, wie es uns gelingt, andere zu überzeugen und uns von anderen überzeugen zu lassen, wie wir andere anregen, sich selbst zu verändern und uns in der Begegnung mit anderen Ideen kommen, was wir an uns selbst verändern können.
Beispiele dafür gibt es ja schon. Zum Beispiel hat es im Christentum der westlichen Ländern in den letzten dreißig Jahren die feministische Theologie gegeben. Sie hat heraus gefunden, dass viele der die alten Texte in aus männlicher Sicht übersetzt worden sind, dass Frauen dabei unter den Tisch gekehrt worden sind. Herausgekommen ist ein besseres Wissen über unsere eigene christliche Tradition, und das hat diese Tradition gleichzeitig verändert wie auch bewahrt. Von diesem Engagement christlicher Frauen haben sich auch muslimische Theologinnen inspirieren lassen. In Köln gibt es zum Beispiel ein Zentrum für islamische Frauenforschung, wo sie auf ähnliche Weise Textkritik und historische Kritik des Korans vorantreiben. Aber ihr Ziel ist es nicht, den Islam zu christianisieren, sondern im Gegenteil den Islam zu bereichern und zu verändern und sich so als Musliminnen in ihrer eigenen Religion neu zu verwurzeln.
Die Relativität, also das sich-in-Beziehung setzen, kann also Veränderung bewirken. Wir müssen nicht alles nebeneinander stehen lassen und zum Beispiel untätig zuschauen, wie muslimische Männer ihre Töchter zwangsverheiraten oder zuhause einsperren, sondern wir können mit ihnen über unsere Werte und Ansichten streiten. Wobei aber jedes echte Gespräch, jede echte Auseinandersetzung bedeutet, dass der Dialog offen ist. Dass nicht von vornherein feststeht, wer recht hat und wer nicht. Und zwar deshalb nicht, weil es keinen Schiedsrichter gibt, sondern alles von unserem eigenen Verhandlungsgeschick, von unserer Überzeugungskraft abhängt. Ich muss bereit sein, das Risiko einzugehen, dass am Ende des Gesprächs auch ich mich verändert haben werde. Wer nicht bereit ist, den eigenen Standpunkt in Frage zu stellen, wird andere niemals überzeugen können. Ich bin deshalb auch nicht der Meinung, dass die Kirche zum Beispiel erst ihr eigenes »Profil« stärken muss, bevor sie mit anderen Religionen in einen Dialog treten kann. In der Unbeholfenheit, mit der Christinnen und Christen derzeit in die Diskussion gehen, zeigt sich doch nur, dass sie sich gar nicht mehr wirklich für ihre eigene Religion interessiert, dass sie religiös entwurzelt sind. Ein schärferes Profil kann diese Tatsache, dass es den meisten Menschen gar nichts mehr wirklich bedeutet, Christen zu sein, nur übertünchen, aber nichts daran ändern. Mit Slogans und Parolen ist noch niemand überzeugt worden.
Den Relativismus des Nebeneinander und die Gefahren eines Kulturkampfes können wir nur vermeiden, wenn wir bereit sind, auch uns selbst und unsere eigenen Überzeugungen aufs Spiel zu setzen. Wir können uns nur streiten, dem Fremden nur dann unsere eigenen Ideen entgegen halten, wenn wir bereit sind, uns auf eine wirkliche Beziehung einzulassen. Wenn wir bereit sind, zuzuhören, uns in die Menschen, mit denen wir es konkret zu tun haben, hineinzuversetzen – nicht in »die Muslime« oder in »die Männer«, sondern in diese konkrete Person, mit der ich es zu tun habe. So wie wir es auch in Liebesbeziehungen tun. Oder, um es mit den Worten der Philosophin Luisa Muraro zu sagen:»Die Relativität, als Gedankengebäude und vor allem als geistige Einstellung, kann als ein unvorhergesehener Sieg über den Relativismus betrachtet werden. Dieser Sieg wird errungen, indem man Vermittlungen sucht, um von dem einen zum anderen Standpunkt zu kommen. In der Praxis heißt das, Übersetzungen zu suchen zwischen dem, was ich in erster Person lebe, weiß, fühle in etwas, dass der/die andere verstehen kann, weil es dem, was er oder sie weiß, fühlt, lebt ähnlich ist oder darauf eine Antwort bietet, nachdem ich zugehört habe, als er/sie versucht hat, mir die Bedeutung seiner/ihrer Erfahrungen zu erklären.«
Und damit sind wir wieder bei Simone Weil, für die die Vermittlung, die Übersetzung ja ein ganz entscheidender Punkt war: Es geht nicht darum, die Wahrheit zu beweisen oder per Dekret durchzusetzen – etwa die Wahrheit der Menschenrechte oder der Frauenemanzipation oder des Christentums oder der parlamentarischen Demokratie. Sondern es geht darum, diese Wahrheit zu übersetzen, sodass sie von den anderen, mit denen wir es jeweils zu tun haben, auch verstanden werden kann. Simone Weil schreibt: »Die Kunst, die Wahrheiten zu übersetzen, ist eine der wesentlichsten und der wenigst bekannten. Ihre Schwierigkeit beruht darauf, dass man sich zu ihrer Ausübung in den Herzpunkt einer Wahrheit versetzt haben und sie in ihrer Nacktheit jenseits der besonderen Form ihres jeweiligen zufälligen Ausdrucks, besessen haben muss. Im übrigen ist die Möglichkeit der Übersetzung ein Prüfstein für eine Wahrheit. Was sich nicht übersetzen lässt, ist keine Wahrheit.«
Dies sollten wir uns immer vor Augen halten wenn es in der heutigen Zeit darum geht, mit dem Fremden zurecht zu kommen. Gelingt es uns, die Wahrheit unserer eigenen Kultur und Überzeugungen anderen zu vermitteln? Es ist sinnlos, wenn wir versuchen zu beweisen, dass alles an unserer eigenen Auffassung die reine Wahrheit ist, denn das geht nicht. Aber wir können versuchen, das zu übersetzen, was daran wahr ist.
Konkret: Ist die Wahrheit unserer emanzipatorischen Überzeugung, dass Frauen frei sind oder dass sie kein Kopftuch tragen dürfen? Ist die Wahrheit unserer christlichen Überzeugung, dass alle Menschen vor Gott gerechtfertigt sind oder dass im Klassenzimmer ein Kreuz hängen muss? Ist die Wahrheit unserer demokratischen Überzeugung, dass alle Menschen in der Politik mitbestimmen dürfen, oder dass sie einen Fragebogen ausfüllen müssen, bevor sie eingebürgert werden?
Wo immer wir uns in Äußerlichkeiten verzetteln und das Zufällige für das Wesentliche halten, haben wir keine Überzeugungskraft, sind wir einfach nur Partei im Kampf um die Vorherrschaft. Es wird uns nicht gelingen, Einwurzelung zu ermöglichen, Beziehungen herzustellen. Sobald wir aber in den Kern unserer eigenen Kultur vordringen und das entdecken, was an ihr wahr ist, da wird es uns auch gelingen, Übersetzungen und Vermittlungen dafür zu finden, um diese Wahrheit auch anderen zu vermitteln.
Und so entsteht zwischen uns und den Anderen eine gemeinsame Welt, in der wir verwurzelt sind, weil unsere Vergangenheit und unsere Herkunft darin einen Raum hat, der aber nicht starr ist und abgeschottet, sondern lebendig und offen. Eine Welt, eine Gemeinschaft, die über das einzelne Individuum hinausreicht, die die Vergangenheit – und die vielen verschiedenen Vergangenheiten – aufgreift. Aber nicht, um sie in ein Museum einzusperren, sondern um darin Anregungen und Ideen zu finden, die Lösungen für die Zukunft sein können. Eine Zukunft, in der alle sechseinhalb Milliarden Menschen dieser Welt gut leben können.
Vortrag am 3.11.06 in der Ev. Kirche Limburg
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Simone Weil: Die Einwurzelung, S. 151. ↩