Antje Schrupp im Netz

»Entfremdung als Chance«

Das Fremdsein der Frauen

Viele Frauen klagen über Entfremdung. Frauen fühlen sich fremd in der Welt, nicht eins mit sich selbst, mit der Natur, mit der Politik, mit der Arbeitswelt. Sie fühlen sich fehl am Platz, in den Unternehmen, im Konkurrenzkampf mit den Männern und mit anderen Frauen. Sie sind nicht zufrieden mit ihrem Körper, mit ihren Beziehungen, mit ihrer Arbeit. Woran liegt das? Und was kann man dagegen tun?

Das Gefühl der Entfremdung kann eine starke Motivation sein, das hat uns die Frauenbewegung gezeigt. Sich fremd zu fühlen, nicht richtig zu etwas zu passen, das kann ein starkes Begehren auslösen, diesen Zustand zu überwinden. Das kann Frauen dazu bringen, sich zu engagieren. Etwas verändern zu wollen. Zu protestieren, sich für eine bessere Welt zu engagieren.1Entfremdung kann aber auch lähmen. Und zwar dann, wenn sie den Zugang zum eigenen Begehren verstellt, wenn eine sich so falsch und fehl am Platz fühlt, dass sie keine Verbindung mehr herstellen kann zwischen sich selbst und den Umständen. Wann tritt das eine ein und wann das andere? Unter welchen Bedingungen?

Die Beantwortung dieser Frage hat viel mit unserer Einstellung zu dem Fremden, dem Anderen, zu tun. Ich bin hier und fühle mich fremd, entfremdet – und was tue ich nun? Gelingt es mir, mein eigenes Begehren mit dieser Situation zu verbinden, mich selbst und persönlich einzubringen, tätig und aktiv zu werden? Oder bin ich blockiert, frustriert, verängstigt, ablehnend, weil ich das Fremdsein – und das Fremde – nicht ertrage? Diese Frage ist natürlich auch höchst aktuell und politisch. Es ist die Frage nach der Differenz und unserem Umgang mit ihr.

Die sexuelle Differenz und die Existenz des Anderen

Das Fremde, das Andere, die Differenz und die Frauen haben sehr viel miteinander zu tun. Nicht nur, weil Frauen sich so oft fremd fühlen, während viele Männer sich einfach überall zu Hause zu fühlen scheinen, ganz egal, wo sie hinkommen.

Man könnte sogar sagen, die Frauen und das Fremde sind gleichzeitig erschaffen worden. Die Geschichte der Menschheit begann – nach der Schöpfungserzählung der hebräischen Bibel – mit einer Entfremdung. Das Menschenwesen, auf Hebräisch: Adam, das eins war mit sich und seiner Umgebung, das kein Geschlecht hatte und keine Sorgen, das ohne Mühsal und Widrigkeiten im Paradies lebte, war einsam. Es beklagte sich bei Gott und verlangte nach einem Gegenüber. Also schuf Gott die Frau. Und mit der Frau die sexuelle Differenz, und mit der sexuellen Differenz den Mann.2

Adam, das geschlechtslose Menschenwesen, das eine, ganzheitliche, ungetrennte und unentfremdete gibt es seither nicht mehr. Es gibt auf der Welt nur Frauen und Männer, möglicherweise noch andere Geschlechter, aber nicht mehr das Menschenwesen schlechthin. Menschsein ist also nicht Eins-sein. Menschsein ist viele sein.

Mit der Erschaffung der Frau, mit der sexuellen Differenz also, kam im Übrigen auch die Politik in die Welt: die Notwendigkeit, über die eigenen Wünsche mit anderen zu verhandeln, das Streben nach Erkenntnis, Diskussionen über gut und böse, die Notwendigkeit, eigene Urteile zu fällen und die Welt zu gestalten, zu Zweifeln, Dinge in Frage zu stellen, Antworten zu finden und wieder zu verwerfen. Sich mit anderen zusammen und auseinander zusetzen. Kurz gesagt: Die Welt nicht einfach nur passiv zu genießen und zu betrachten, sondern sie selbst gestalten, bearbeiten zu müssen, um überleben zu können. Mit Mühe und mit Freude.

Das Essen vom Baum der Erkenntnis war – nach jüdischer Interpretation – kein Sündenfall, sondern eine notwendige und unausweichliche Folge der Tatsache der sexuellen Differenz. Wenn der Mensch nicht mehr eins ist, sondern zwei, drei, vier oder sechseinhalb Milliarden, dann gibt es das Eine nicht mehr. Dann kann man nicht mehr einfach tun, was man will. Dann wollen die einen dies und die anderen etwas anderes. Dann geht nicht immer alles so einfach, dann gibt es Hindernisse und Widerstände, wenn ich mit meinen Wünschen in der Welt aktiv werde. Es gibt die anderen und damit die Notwendigkeit, mich mit diesen Anderen in eine Beziehung setzen. Eine Beziehung, die gleichzeitig konfliktreich und lebensnotwendig ist.

Meine Existenz, die Existenz einer Frau, ist abhängig von der Existenz des Anderen, und das andere ist immer das Fremde. Das gilt im Übrigen eigentlich auch für den Mann, es gilt für alle Menschen.

Bekanntlich hat aber der Mann den Namen des geschlechtslosen Menschenwesens, Adam, für sich reklamiert. Hat sich selbst Adam genannt und somit behauptet, nach wie vor für die Ganzheit, das Eine, zu stehen. Und damit gleichzeitig die Frauen, wie alle anderen Anderen, zu den ihm Fremden erklärt. Hat also das Fremdsein nicht als eine Grundtatsache des Menschseins gesehen, sondern als eine Abweichung von sich selbst.

Wenn wir uns bei dieser Tagung mit diesem Phänomen der Entfremdung, des sich Fremd und fehl am Platz Fühlens, des nicht-Richtig-seins beschäftigen, ist es deshalb wichtig, zu fragen: Entfremdung wovon? Geht es um das Fremdsein, das die Grundlage unserer, der menschlichen Existenz ist, insofern Menschsein Vielesein heißt? Oder geht es um das Fremdsein im Hinblick auf das Männliche?

Das männliche Denken enthält heute eine verführerische Einladung, nämlich das Versprechen, das Fremdsein, die Entfremdung könnte überwunden werden. Sie bieten uns den Namen Adam an. Könnten wir nicht alle wieder geschlechtslose Menschenwesen werden? Nicht mehr Frau sein, sondern Mensch, Adam, eins mit uns, mit Gott und der Natur. Ein verlockendes Angebot.

Das männliche Konzept des Eins-Seins

Die Vorstellung, es könnte ein Eins-Sein geben, einen nicht entfremdeten Zustand, zieht sich durch die gesamte männliche Philosophiegeschichte. Da wurden Utopien entwickelt von idealen Welten und idealen Staatssystemen, Gebote wurden aufgestellt, deren Beachtung die Rückkehr zu paradiesischen Zuständen versprach. Vor diesem Hintergrund des Idealen erschien die konkrete, tatsächliche Welt natürlich ziemlich problematisch. Entfremdet eben, entfremdet von jenem Ideal des ganzheitlichen Einen.

Besonders geprägt worden in diesem Sinn ist das Wort Entfremdung vor allem von Karl Marx, der den Zustand der Entfremdung als charakteristisch für die kapitalistische Industriegesellschaft beschrieb. Diese Vorstellung war vor allem von Georg Friedrich Wilhelm Hegel beeinflusst. Hegel unternahm nämlich mit der »Dialektik« den Versuch, Differenz und Gleichheit zusammen zu denken. So interpretierte Hegel alle realen Differenzen, Widersprüche, Gegensätze, Fremdheiten, die auf der Welt zu finden sind, als »dialektische« Entfremdungen, die auf ein übergeordnetes Wirken eines Einen zurückzuführen sind.

In dieser Logik wird alles Fremde zum Entfremdeten. Damit wird das Fremde letztlich ausgelöscht. Es ist nicht für sich selbst, sondern nur eine Abweichung von dem Eigentlichen, von dem Einen, von der Norm. Eine konkrete Folge dieser Sichtweise war die Auffassung, die Frau sei lediglich eine Verdoppelung des Mannes – je nachdem sein Gegenteil oder sein Gleiches oder eine defizitäre Version davon.

Was aber, wenn es das Eine, das Eigentliche gar nicht gibt? Sondern nur das Viele, das Andere (in Großbuchstaben)? Diesen Gedanken haben wir der feministischen Philosophie zu verdanken, die nämlich die Auffassung, die Frau sei etwas vom Mann abgeleitetes, zurückgewiesen hat. Die stattdessen auf die weibliche Freiheit gepocht hat.

Die Existenz der Frauen war immer ein Stachel in dem Einheitsstreben der männlichen Philosophie, denn die weibliche Tätigkeit des Gebärens blieb den Männern vorenthalten. Dies allein zeigt ja schon, dass Arbeitsteilung etwas Normales ist, und sie zeigt auch, dass es Entfremdung immer gibt, die Entfremdung des Kindes von der Mutter zum Beispiel und die Entfremdung des Mannes vom Geburtsgeschehen. Nur dass daran für sich genommen gar nichts Schlimmes ist, es kommt darauf an, wie die Tatsache der Arbeitsteilung, des Partikularen eben, kulturell organisiert wird. Bekanntlich ist das männliche Denken einen anderen Weg gegangen und hat die mütterliche Tätigkeit des Gebärens nicht als Arbeit, also nicht als menschliche körperlich-geistige Aktivität interpretiert, sondern als Teil der Natur sozusagen ausgeklammert.

Es gibt noch einen anderen Grund für die Notwendigkeit von Arbeitsteilung und damit die Unmöglichkeit einer nicht entfremdeten Existenz im marxistischen Sinne: Nämlich die Tatsache unserer Abhängigkeit. Menschen werden als Abhängige geboren, und sie bleiben jederzeit abhängig, angewiesen auf die Hilfe und Fürsorge von anderen. Wir können uns nicht selbst helfen, sondern brauchen das Andere, ein Gegenüber, ein Mehr, um uns entfalten, entwickeln und wachsen zu können.

Auch diese Tatsache haben Männer wie Marx – und natürlich nicht nur er – aus ihrer Philosophie hinaus definiert. Sie haben ihre eigene Abhängigkeit als Entfremdung thematisiert, also als einen Zustand, der der Erlösung bedarf, der nur vorübergehend ist, der nicht normal ist, der also abgeschafft werden muss.

Und heute sind wir Frauen also eingeladen, uns dieser Sichtweise anzuschließen. Wir sind eingeladen, nicht mehr das Andere zu sein, sondern ebenfalls das Eine, der geschlechtslose Adam. Meine These ist nun, dass die Entfremdung der Frauen, über die wir heute nachdenken, nicht mehr ihr Ausgeschlossen sein aus dem männlichen Kosmos betrifft, sondern vielmehr die Entfremdung vom Frau-Sein selbst. Wir sind fremd in dieser Welt, weil wir zwar Frauen sind, diese Welt (und mit ihr wir selbst) aber nicht weiß, was Frausein überhaupt bedeutet. Vor diese Herausforderung hat uns die Emanzipation gestellt, die nämlich oftmals nur möglich zu sein scheint unter Bedingung der Aufgabe des Frauseins. Deshalb sind emanzipierte Frauen heute so oft ihrem eigenen Geschlecht entfremdet.

Dies hat gegenwärtig zwei Tendenzen zur Folge, die ich beide bedenklich finde. Die eine ist die Rückkehr des Biologismus – also die Vorstellung, es gebe ein natürliches »Wesen« der Frau – sowie den Dekonstruktivismus, also die Vorstellung, die sexuelle Differenz sei lediglich eine übergestülpte und unbewusst mit unterstützte kulturelle Konstruktion und »eigentlich« gebe es sie gar nicht. So unterschiedlich diese beiden Modelle zu sein scheinen, haben sie doch eines gemeinsam: Sie legen die Bedeutung des Frauseins von außen fest. Ich bin eine Frau – dieser Satz bedeutet entweder: Ich bin biologisch so und so gepolt, oder er bedeutet: Ich bin von der Kultur so und so gemacht worden. Vor allem aber ist die Vergleichsgröße bei beidem immer und immer wieder der Mann. Frauen sind das nicht-männliche, Frauen sind die anderen des Mannes.

Aber Frauen sind nicht die anderen des Mannes, sie sind auch nicht die gleichen, wie der Mann, sie sind das Andere schlechthin (in Großbuchstaben). Sie sind anders, als sie selbst. Sie sind anders, als andere Frauen, sie sind anders, als sie es selbst sich vorstellen, und sie werden anders sein, als sie es heute noch sind – jede einzelne Frau, und die Frauen allgemein auch.

Einheit als Beziehung

Das Ideal des Nirvana, des absoluten Eins-Seins, der Perfektion, der universellen Harmonie, ist also eine männliche Vision. Nun könnte man vielleicht entgegnen, dass es doch gerade die Frauen sind, die immer nach Harmonie streben, die Konflikte vermeiden, die nach Ganzheitlichkeit und Zugehörigkeit streben. Ich glaube aber, das hängt gerade miteinander zusammen: Weil die Männer davon überzeugt sind, dass es das Eine, die Einheit »eigentlich« gibt, sind sie viel weniger ängstlich darin, Konflikte auszutragen, sich zu zerstreiten, Kriege zu führen, andere zum Objekt zu machen oder sogar sich selbst zum Objekt machen lassen. Sie sind einfach überzeugt, dass diese ganzen innerweltlichen Auseinandersetzungen irgendwo »oben« wieder in das Eine zusammenlaufen.

Frauen hingegen wissen, dass diese Einheit eine Illusion ist. Sie befürchten, dass durch Streit und Kriege es zu einer wirklichen Trennung kommen kann, dass beide Seiten auseinanderdriften, möglicherweise die eine die andere vernichtet. Deshalb tun sie mehr als Männer dafür, Harmonie und Einheit herzustellen, was nicht immer nur gut ist. Manche Konflikte, die oberflächlich ruhig gehalten werden, brodeln unter der Oberfläche weiter. Aber die Vorsicht ist berechtigt. Wenn es keinen »einen« Geist gibt, der das Menschliche trotz aller Gewalt wieder zusammenführt, dann sind nämlich wir es, die dafür zuständig sind, dass nicht alles auseinander fällt, dass das Andere, das Fremde, nicht vernichtet wird.

Welche gedankliche Alternative aber hat nun die weibliche Philosophie für den Umgang mit dem Fremden und dem Entfremdeten, dem Anderen also, gefunden? Es ist die Beziehung. Es ist die Erkenntnis, dass das Andere, dem ich begegne, mir zwar nicht entspricht, dass wir nicht gleich sind, dass wir uns aber dennoch zueinander in eine Beziehung setzten können. Das es etwas geben kann, das zwischen mir und dem anderen vermittelt.

Diese Antwort haben die Frauen zuerst in ihrer privaten und politischen Praxis gefunden – es war nämlich immer die persönliche Beziehung, mit der sie die Verbindung zu anderem hergestellt haben. Ich kann eine Beziehung nicht nur zu Meinesgleichen herstellen, sondern auch zum Anderen, zum Fremden. Ich kann das Andere zwar vielleicht nicht verstehen, aber doch zu ihm eine Beziehung haben. Sogar mehr noch: Nur in einer Beziehung zum Anderen gibt es überhaupt jenes Mehr, das eine Antwort auf mein Begehren, die Veränderungen ermöglicht. Alles andere wäre nämlich nur Selbstbespiegelung.

Zwei Stichworte sind hierfür wichtig: Liebe und Sprache. Liebe ist die Art und Weise, mich persönlich, mit ganzer Person, mit etwas in Beziehung zu setzen.3Und Sprache ist dasjenige Medium, das zwischen mir und dem Anderen vermittelt, mit dem wir uns verständigen können über unser Wünsche, Konflikte, Ansprüche, Erwartungen, über unsere Interessen, das Inter-Esse, das also, was zwischen uns ist, das uns gleichzeitig trennt und verbindet.4

Liebe basiert nicht auf Gemeinsamkeiten, auch nicht auf Verträgen – was beides eine gewisse Gleichheit voraussetzt – und auch nicht auf Gefühlen, sondern auf persönlichem Begehren und der Entscheidung, sich in Beziehung zu setzen. Wobei Liebe sich nicht nur auf andere Personen beziehen muss und natürlich schon gar nicht auf die kleine Einheit Paar und Familie, auf die der Begriff in unserer Kultur reduziert wurde. Liebe kann sich auch auf Dinge, auf Projekte, auf Tätigkeiten, auf Gott, auf die Welt insgesamt beziehen. Liebe heißt: Ich möchte eine persönliche Beziehung zu dir haben, und zwar auch gerade dann, wenn ich dich nicht verstehe, wenn wir nicht einig sind, wenn ich dich nicht ganz durchschaue. So gesehen gewinnt auch die Aufforderung »Liebe deine Feinde« einen Sinn. Auch einen Konflikt zu führen bedeutet, eine Beziehung zu haben. Das Gegenteil von Liebe wäre nicht Abneigung, Feindschaft oder Hass, sondern Gleichgültigkeit, Abbruch der Beziehung, Desinteresse. Wenn nichts mehr zwischen uns steht, das uns verbindet.5

Entfremdung wäre damit also nicht der Verlust einer Einheit, des Eins-Seins, der Identität, Ganzheitlichkeit und Harmonie, sondern der Verlust der Beziehung, des Interesses. Die Liebe ist verloren gegangen, das Fremde, das Andere ist zwar noch da, aber es gelingt mir nicht mehr, mich und mein persönliches Begehren damit in eine Beziehung zu setzen. In interessiere mich nicht mehr dafür. Ich bin entfremdet im wahrsten Sinn des Wortes, denn ich habe das Fremde verloren, ich begehre es nicht mehr, und deshalb ist es mir auch kein Gegenüber und keine Hilfe mehr.

Das Fremde in mir selbst

Wichtig ist hier aber auch noch ein anderer Punkt: Und zwar, dass das Fremde, die Entfremdung, nicht nur etwas ist, das sich zwischen mir und der Welt abspielt, sondern auch zwischen mir und mir selbst. Das Fremde, die Krankheit, im eigenen Körper, im eigenen Geist.

Gerade bei diesem Thema ist die Vorstellung vom Heil-Sein als Eins-Sein sehr verbreitet. Heilung, Ganzheitlichkeit, die Ausmerzung der Krankheit, vielleicht sogar der Schwäche, ist ein weit verbreitetes Versprechen, und es ist für viele Frauen vielleicht sogar noch verführerischer als die Einladung zur Gleichheit und zur Emanzipation.

Aber ist »heil« wirklich nur ein gesunder Körper? Bedeutet Gesundheit perfektes Funktionieren? Oder geht es nicht vielmehr auch hierbei weniger um einen Zustand, als vielmehr um eine Beziehung? Also darum, ob ich meinen eigenen Körper ablehne und bekämpfe, oder ob ich mit ihm in eine Beziehung trete, in einen inneren Dialog (der durchaus auch als Streit verlaufen kann)? Weil ich nämlich weiß, dass ich meinen Körper brauche, dass er ich ist, auch wenn er nicht funktioniert und ich furchtbar wütend auf ihn bin?

Die Entfremdung von mir selbst betrifft aber nicht nur die Differenzen zwischen meinem Ich und meinem Körper, sondern auch viele andere Aspekte des Verhandelns zwischen mir und mir selber. Immer wenn das Begehren im Spiel ist, geht das Verhandeln nämlich los. Denn das Begehren richtet sich immer auf das Neue, auf das Noch nicht, das aber allein dadurch, dass ich es begehre, bereits in den Bereich des Vorstellbaren und Möglichen rückt.

Wirkliche Entfremdung, diejenige, die uns nicht anspornt und in Bewegung setzt, sondern die uns lähmt und blockiert, ist deshalb nicht die Differenz zwischen mir und anderen oder zwischen mir und der Welt, so wie sie ist, mit allen ihren Macken und Schwierigkeiten. Sondern die wirkliche und problematische Entfremdung ist die zwischen mir selbst und meinem eigenen Begehren.

Eins-Sein als Transzendenzerfahrung

Wie kann diese Entfremdung, der Verlust der Beziehung zum Anderen also, überwunden werden? Wenn es nicht nur um die Beziehung zu diesen oder jenen anderen ist (in Kleinbuchstaben), sondern zum Anderen schlechthin?

Viele Frauen haben diese Überwindung in der Tat erfahren. Oft beschreiben sie dies als eine spirituelle Erfahrung. Einssein, Harmonie, Perfektion, Erleuchtung – das alles gibt es. Aber wie immer man diesen herrlichen Zustand der Nicht-Entfremdung (das Eins-sein mit dem Anderen – in Großbuchstaben – das nicht das Aufgehobensein im Sinne der Hegel’schen Dialektik bedeutet, sondern ein echtes und unaufhebbares Paradox) bezeichnen will, es ist kein Zustand, den man ein für alle Mal erreichen kann. Sondern es ist eine Transzendenzerfahrung. Es ist die Überschreitung einer Grenze, die Verbindung mit dem Anderen, in Großbuchstaben, also nicht dem anderen unserer selbst, sondern dem ganz Anderen, mit Gott. (Gott ist das Andere in der weiblichen Mystik)

Chiara Zamboni hat es einmal als Lichtfunken einer anderen Welt beschrieben, die uns orientieren können. Dorothee Markert hat von 100-Prozent-Situationen gesprochen, die vergänglich sind, die aber unser Begehren wecken, wieder dorthin zu kommen.6Es sind spirituelle, mystische Situationen, in denen wir die Nicht-Erfremdung erfahren können – nicht unbedingt solche, die in ein Ritual oder einen Kult eingebunden sind, sondern auch ganz Alltägliche. Ein gutes Buch, das mir neue Sichtweisen ermöglicht, »Geistesblitze«, plötzlichen Erkenntnisgewinn. Ein intensives Gespräch, bei dem, ohne dass ich weiß, wie, neue Ideen geboren werden. Erlebnisse in der Natur, die mich die Verbindung mit dem Anderen körperlich spüren lassen.

Diese Transzendenzerlebnisse, die Erfahrung, dass die engen Grenzen des Gegebenen nicht starr und unüberwindlich sind, sondern durchlässig, das »Licht der Qualität in der Welt«, wie Chiara Zamboni es nennt, rühren die Seele an.7Sie sind vergänglich, aber sie hinterlassen Spuren. Sie hinterlassen nämlich ein Begehren, eine Sehnsucht, diese Qualität wieder zu erleben. Und sie werfen ein anderes Licht auf die alltäglichen Situationen, in denen ich diese Qualität vermisse.

Aber wie lässt sich diese Sehnsucht leben? Nicht instrumentell jedenfalls, sie lässt sich nicht erzwingen, und Wiederholung hilft schon gar nichts. Es nützt nichts, einfach wieder an denselben romantischen Waldsee zu fahren oder mich mit demselben Menschen in derselben Kneipe erneut zu verabreden. Wiederholung ist nichts für die Lichtfunken Gottes. Der Geist weht, wo er will, heißt es ja auch. Gotteserfahrung lässt sich nicht herstellen.

Möglich ist aber, dafür offen zu sein, mit ihr zu rechnen. Dinge zu verändern, die ihr im Weg stehen. Sich nicht abwenden, wenn sie geschieht. Das Begehren, das aus der Entfremdung wächst, die schon einmal die Erfahrung gemacht hat, dass Grenzen überwunden werden können, dass eine echte Beziehung möglich ist, fordert zu ständigem Experimentieren heraus. Es hat keine Rezepte, ist immer persönlich und unverhofft. Es ist das Wissen darum, dass alles auch anders sein kann, dass es das Andere gibt und dass ich mein Begehren daran knüpfen kann.

In: Lachesis. Sonderheft Nr. 2 des Berufsverbandes für Heilpraktikerinnen zum Thema »Entfremdung«, Dezember 2008.

Die ungekürzte Fassung steht hier: Entfremdung_Lachesis

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  1. Vgl. dazu auch: Antje Schrupp: Zukunft der Frauenbewegung. Christel Göttert-Verlag, Rüsselsheim 2004. 

  2. Diesen Gedanken verdanke ich der jüdischen Theologin und Rabbinerin Eveline Goodman-Thau, vgl. antjeschrupp.de/goodman-thau. 

  3. Vgl: Andrea Günter: Weltliebe. Gebürtigkeit, Geschlechterdifferenz und Metaphysik. Ulrike Helmer-Verlag, Königstein 2003. Liebe bedeutet ihrer Ansicht nach nicht ein gutes Gefühl der Sympathie und Zuneigung, sondern es ist eine Art und Weise, sich mit etwas in Beziehung zu setzen, trotz aller Differenzen. 

  4. Vgl. dazu insb: Chiara Zamboni: Unverbrauchte Worte. Übersetzt und mit Erläuterungen versehen von Dorothee Markert, Christel-Göttert-Verlag, Rüsselsheim 2005. 

  5. Eine ganze Reihe von Denkerinnen hat dieses Thema, dass das, was die Welt zusammenhält, nicht die Idee des Einen – des einen Geistes, des einen Gottes – ist, sondern vielmehr das äußerst komplexe, stabile, aber auch fragile Netz der menschlichen Beziehungen ist, auch theoretisch bearbeitet. Vgl. insbesondere Hannah Arendt: Vita Activa, München 1981; Ingeborg Nordmann u.a. (Hg): Weibliche Spiritualität und politische Praxis, Christel Göttert-Verlag, Rüsselsheim 2004; Ina Praetorius (Hg): Sich in Beziehung setzen. Zur Weltsicht der Freiheit in Bezogenheit. Ulrike Helmer-Verlag, Königstein 2005; Ina Praetorius: Handeln aus der Fülle. Postpatriarchale Ethik in biblischer Tradition. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2005. 

  6. Dorothee Markert: Wachsen am Mehr anderer Frauen. Vorträge über Begehren, Dankbarkeit und Politik. Christel Göttert-Verlag, Rüsselsheim 2002. 

  7. In: Diotima u.a.: Die Welt zur Welt bringen, Politik, Geschlechterdifferenz und die Arbeit am Symbolischen, Ulrike-Helmer-Verlag, Königstein 1999.