Ein Slogan wird ausrangiert
Das Zurückhalten von Wissen taugt als Machtinstrument immer weniger. Ganz im Gegenteil: Wer Aufmerksamkeit erzeugen kann, ist einflussreich.
Im Internet sind heute so viele Informationen allgemein verfügbar, wie es das in der Geschichte der Menschheit noch nie gegeben hat. Bequem vom heimischen Wohnzimmersofa aus kann ich Busverbindungen in Brasilien recherchieren, Details aus dem Leben berühmte und weniger berühmter Menschen in Erfahrung bringen, oder Parteitage live am Bildschirm verfolgen. In diktatorischen politischen Systemen wie im Iran oder in China fällt es den Machthabern immer schwerer, Informationen zurückzuhalten. Von jedem Erdbeben und jeder regierungskritischen Demonstration kursieren schon Minuten später Bilder, Berichte und unterschiedliche Einschätzungen im weltweiten Netz. Da ist das Verheimlichen nicht mehr so leicht wie früher, und die alte Gleichsetzug Wissen ist Macht gerät ins Wanken.
Aber auch in den demokratischen Gesellschaften verlieren die alten »Torwächter« des Wissens an Einfluss. Zeitungen bekommen Konkurrenz durch unabhängige Blogs. Plattformen wie Wikileaks (wikileaks.org) machen geheime Dokumente allen Interessierten zugänglich. Wer da auf alte Machtpolitik setzt, lebt gefährlich. Die Diözese Regensburg etwa versuchte mit Abmahnungen eine kritische Berichterstattung über ihren Umgang mit den Opfern pädophiler Gewalt zu unterbinden. Woraufhin sich diese Nachricht erst recht in Windeseile durch das Internet verbreitete.
Blosses Wissen ist noch nicht Weisheit
Die Zeiten, in denen Macht bedeutete, Wissen zu kontrollieren und gegebenenfalls der Öffentlichkeit vorzuenthalten, sind tendenziell vorbei. Aber bedeutet das auch eine Verlagerung der Macht – weg von den alten »Machthabern« hin zu einer demokratischen öffentlichen Basis? Nicht automatisch. Denn Wissen ist für sich genommen nur ein Haufen von Daten. Relevant wird eine Information erst, wenn sie nicht nur ins eigene Wissensrepertoire »kopiert« wurde, sondern wenn auch eine Verknüpfung hergestellt wurde zwischen dem eigenen Leben, der konkreten Realität, und der Information selbst. Wenn man also diese Information nicht nur »hat«, sondern wenn sie auch Einfluss nimmt auf das eigene Urteilen und Handeln. Zum Beispiel: Dass bei einer Tagung ausschließlich Männer auf dem Podium sitzen, wird nur dann relevant, wenn jemand dieses Wissen mit prinzipiellen Überlegungen zum Verhältnis der Geschlechter verknüpft. Informationen müssen also nicht nur verfügbar sein – man muss sie auch »durchdenken«. Und dieser Prozess kostet Zeit. Man kann ihn nicht computerisierten.
»Aufmerksamkeitsökonomie« ist gefragt
Die Schlüsselrolle, die Wissen und Macht miteinander verbindet, hat sich verschoben: Nicht mehr die Informationen selbst sind die knappe Ressource, sondern die Aufmerksamkeit, die ihnen entgegengebracht wird. Oder anders gesagt: Die alltägliche Frage, die uns bewegt, lautet nicht mehr: Woher bekomme ich die für mich relevanten Informationen? Sondern: Mit welcher der unendlich vielen Informationen, die mir zur Verfügung stehen, soll ich mich denn nun tatsächlich beschäftigen? »Aufmerksamkeitsökonomie« nennen das die Medienwissenschaften. Die Frage, wie und woher man die Aufmerksamkeit anderer Menschen für die eigene Nachricht bekommt, ist derzeit noch offen. Klar scheint nur zu sein, dass die alten Methoden der Werbeindustrie – möglichst grell, möglichst laut, möglichst sensationell – nur noch eingeschränkt funktionieren. Die Verantwortlichkeit für die Art und Weise, wie Informationen sich verbreiten, wandert tendenziell immer mehr vom Sender hin zu den Empfängerinnen und Empfängern. Die entscheiden selbst, was sie lesen und was nicht – und was sie vielleicht in ihren sozialen Netzwerken weiter empfehlen.
Auch für andere Meinungen offen bleiben
Der amerikanische Rechtsprofessor Cass Sunstein hat in seinem Buch »Republic.com« auf eine Gefahr hingewiesen, die dieser Wandel mit sich bringen könnte: Schlimmstenfalls nehmen wir bald nur noch das zur Kenntnis, was unserem eigenen Weltbild entspricht. Zum Beispiel werde ich beim Zeitungslesen zwangsläufig mit allen möglichen Themen konfrontiert, auch mit solchen, die mich eigentlich nicht interessieren. Ich muss sie zumindest überblättern. Im Internet hingegen kann ich Unliebsames von vornherein herausfiltern: Ich abonnieren nur die Artikel meiner Lieblingsautorinnen und zu meinen Lieblingsthemen. Verantwortlicher Medienkonsum bedeutet daher heute vor allem die Fähigkeit, auch für andere Meinungen offen zu sein.
Helfen könnten dabei soziale Netzwerke wie Facebook oder Twitter. Auf diesen Plattformen vernetzen sich Menschen untereinander und tauschen kurze Nachrichten aus. Und es zeigt sich, dass gerade die »schwachen Kontakte«, also Menschen, mit denen ich dort verbunden bin, die ich aber nur sehr oberflächlich kenne, am meisten Einfluss auf mich haben. Denn anders als meine wirklichen Freundinnen und Freunde schlagen sie mir Themen und Artikel vor, die mein derzeitiges Weltbild hinterfragen. Aber weil diese Hinweise nicht von gänzlich Fremden kommen, widme ich ihnen doch ein Mindestmaß an Aufmerksamkeit.
Wer weiß, vielleicht hat ja die neue Wissensgesellschaft weniger mit Macht im alten Sinne zu tun, als vielmehr mit Einfluss auf Menschen, deren knappstes gut die Aufmerksamkeit ist. Ihr Motto würde dann nicht mehr lauten: »Wissen ist Macht«, sondern: »Aufmerksamkeit macht einflussreich«.
In: Wendekreis, Nr. 8/9 2010.