Die Schlüsselrolle der Frauen
Kommentar zum geplanten neuen Sozialwort der Kirchen, erschienen in: Publik Forum, 12/2013, 28.6.2013.
Ein Sozialwort der Kirchen muss heute nicht nur „genderbewusst“ sein, also bei allen Überlegungen explizit thematisieren, inwiefern Frauen und Männer von bestimmten Problemlagen oder Lösungsansätzen unterschiedlich betroffen sind, und gleichzeitig vermeiden, stereotype Rollenmuster zu wiederholen. Es muss vor allem auch Ideen und Vorschläge von Frauen enthalten, das heißt: Im Kreis der Autorinnen und Autoren müssen Frauen mindestens die Hälfte stellen, besser noch mehr.
Wir brauchen kein weiteres Papier, in dem überwiegend Männer ihre Sicht auf die Welt und ihre Forderungen nach Veränderung darlegen. Frauen sind nämlich nicht nur von den Folgen des neoliberalen Umbaus besonders stark betroffen, sie sind auch die Expertinnen für die dabei anstehenden Fragen. Mehr Frauen als Männer sind von Armut betroffen, vor allem, wenn sie für Kinder sorgen. Frauen erledigen zum größten Teil diejenigen Arbeiten, die so wichtig für den gesellschaftlichen Wohlstand sind, von denen aber noch längst nicht klar ist, wie sie in Zukunft menschenfreundlich organisiert werden können: als Mütter, Töchter oder Schwiegertöchter mit unbezahlter Haus- und Fürsorgearbeit in den Familien, als Migrantinnen mit prekärem Aufenthaltsstatus in der Versorgung von alten Menschen oder bei häuslichen Dienstleistungen der deutschen Erwerbsbevölkerung, schlecht bezahlt und überlastet in der professionellen Pflege in Krankenhäusern und Alteneinrichtungen, oder als Ehrenamtliche in caritativen oder sozialen Projekten.
Sie alle haben nicht nur unter den gegenwärtigen sozialen Ungerechtigkeiten in besonderem Maße zu leiden und die politischen Fehlentscheidungen der vergangenen Jahrzehnte auszubaden, sie sind es auch, die aufgrund ihrer Erfahrungen und ihrer Alltagspraxis über wertvolles Wissen verfügen, das unverzichtbar ist, wenn man Auswege finden und Lösungen entwickeln will.
Zusätzlich zu diesen Praktikerinnen sollten aber auch feministische Wissenschaftlerinnen und Aktivistinnen an einem Sozialwort mitarbeiten, denn auf diesem Gebiet ist in den letzten Jahren vieles geforscht und erkämpft worden, was jedoch im gesellschaftlichen Mainstream nur selten zur Kenntnis genommen wird.
Dabei ist klarzustellen, dass es nicht die Aufgabe dieser Frauen sein kann, „im Namen der Frauen“ zu sprechen oder eine irgendwie geartete „Frauenperspektive“ zu vertreten. Frauen haben ja nicht qua Geschlecht dieselben Ansichten und Interessen, sondern das weibliche Denken ist in sich pluralistisch und auch kontrovers. Aber gerade diejenigen Punkte, zu denen unter Frauen keine Einigkeit herrscht, sind häufig Knotenpunkte, an denen die Schwierigkeiten eines gesellschaftlichen Umbaus deutlich werden.
Ist das Paradigma der individuellen Vollzeiterwerbsarbeit zukunftsweisend oder brauchen wir eine stärkere „Durchlöcherung der Erwerbsnotwendigkeit im Lebenslauf“, wie Christina Klenner, Ökonomin bei der Hans-Böckler-Stiftung, kürzlich forderte? Liegt die Zukunft der Pflegearbeit in weiterer Professionalisierung oder gilt es nicht vielmehr, unbezahlte Formen des Engagements zu fördern, etwa durch ein Bedingungsloses Grundeinkommen? Sollten wir auf mehr Migration setzen, um die Nachfrage an Pflegearbeit und häuslichen Dienstleistungen zu befriedigen, oder beuten wir auf diese Weise nur prekäre Lebensverhältnisse in anderen Ländern aus?
Die feministischen Debatten der vergangenen Jahre haben gezeigt, dass sich Frauen längst nicht mehr mit ihrer „Gleichstellung“ im Rahmen vorgegebener Institutionen zufrieden geben, sondern Fragen stellen und Lösungsvorschläge machen, die die männliche Norm als Orientierungspunkt hinter sich gelassen haben. Ein Sozialwort, das zukunftsweisend sein will, muss diesen Prozess abbilden, und zwar bereits bei der Zusammensetzung seiner Autorinnenschaft.