Das Sein, das Sollen und der Sex
In: Publik Forum, Nr. 20/2011, 21.10.2011 (für die Veröffentlichung wurde der Artikel noch etwas redigiert, dies ist die unbearbeitete Fassung)
Bei keinem anderen Thema klaffen die gesellschaftliche Debatte und die offizielle katholische Lehrmeinung derart krass auseinander wie bei der Sexualethik. Dass zwei Männer oder zwei Frauen wie ein Ehepaar zusammenleben ist inzwischen genauso akzeptiert wie Sex zwischen Unverheirateten. Aber nicht nur die Gesetzeslage und der Common Sense, auch der akademische Diskussionsstand ist im Bezug auf Geschlechtlichkeit inzwischen Galaxien von der katholischen Lehrmeinung entfernt.
Freilich stehen in diesen Fragen auch die meisten Katholikinnen und Katholiken in Deutschland eher auf Seiten des gesellschaftlichen und akademischen Konsenses und nicht auf Seiten des Lehramtes. Aber in der öffentlichen Wahrnehmung bleibt hängen, dass Katholizismus gleichbedeutend ist mit Homophobie und überholten Geschlechterstereotypen. Das macht es schwer, christliche Positionen für eine Sexualethik zu entwickeln, die auch in säkularen Milieus und universitären Debatten ernst genommen werden.
Genau diesen Versuch unternahm jedoch eine Tagung zum Thema „Let’s think about sex“, die die Tübinger Ethikerin und Theologin Regina Ammicht Quinn – der mehrmals das „Nihil Obstat“, also die theologische Lehrerlaubnis verweigert wurde – organisiert hatte. Eigentlich hätte die Tagung in der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart stattfinden sollen, doch der dortige Bischof Gebhard Fürst hat sie verboten, wohl auf Druck streng konservativer Kirchenkreise. Also wanderte die Tagung quasi ins säkulare Exil aus: Sie fand in den Räumlichkeiten der Frankfurter Rundschau statt, finanziert wurde sie aus Mitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft.
Das öffentliche Interesse war durch den Konflikt eher größer geworden. Rund siebzig Teilnehmerinnen und Teilnehmer hörten die hochkarätig besetzten Referate. Auch viele junge Leute waren da, der BDKJ dokumentierte die Tagung im Film. Zwar kamen die meisten aus einem katholischen Milieu, Ammicht Quinn glaubt aber, dass das Publikum durch die Verlegung vielfältiger geworden ist.
Wie könnte also eine katholische Sexualethik heute aussehen?
Verabschieden müsse man sich zunächst vom Naturrecht und einer essentialistischen Geschlechteranthropologie, betonte die Kölner Fundamentaltheologin Saskia Wendel. Der katholische Katechismus gehe bis heute davon aus, dass es eine bestimmte „Essenz“, also ein natürliches, unabänderliches Wesen des Menschen gebe, an dem sich die „Existenz“, also das Leben und seine Regeln, zu orientieren hätten. In Sexualmoral übersetzt heißt das: Frauen und Männer gelten als mit unhintergehbaren und je unterschiedlichen Wesenseigenschaften ausgestattet, aus denen sich ihre jeweiligen Aufgaben und Kriterien für „richtige“ und „falsche“ Sexualitäten und Lebensformen ableiten lassen.
Diese schlichte Sicht der Welt, wonach aus einem faktischen „Sein“ ein normatives „Sollen“ abgeleitet wird, sei in der Philosophiegeschichte schon lange hinterfragt worden, betonte Wendel. Nicht erst die so genannten „Gender Studies“ hätten das kritisiert, sondern auch schon bei Spinoza, Kant, Heidegger und vielen anderen fänden sich gewichtige Einwände gegen den Essentialismus.
Aber nicht nur philosophische und sozialwissenschaftliche Erkenntnisse sprechen dagegen. Auch theologisch sei dieses Denken unhaltbar. Der zentrale Punkt sei hier die Gottebenbildlichkeit der Menschen. Dies bedeute, dass Gott den Menschen Freiheit gegeben hat, und das beinhalte auch die Freiheit, „ihre eigene Existenz performativ zu gestalten“ – also zum Beispiel die kulturelle Bedeutung von Frausein und Mannsein ihren eigenen Wünschen entsprechend zu beeinflussen. Eine katholische Sozialethik könne nicht mit einem fixen und unhinterfragbaren Schöpferwillen argumentieren, sondern müsse die Einzigartigkeit und Unverwechselbarkeit der einzelnen Menschen betonen, die sich mit ihrer jeweiligen Individualität an den „diskursiven Praxen“ über Sexualität und Geschlechtlichkeit beteiligen.
Anschlussfähig wäre eine solche katholische Sexualethik auch an neuere Ergebnisse der Psychologie, wie sie die Frankfurter Psychoanalytikerin Ilka Quindeau vorstellte. Sie geht davon aus, dass sexuelle Lust keineswegs eine Folge der natürlichen Beschaffenheit von Sexualorganen oder genetischer Veranlagung sei. Die Art und Weise, wie ein Mensch sexuelle Lust empfindet, entstehe aus der frühkindlichen Beziehung zwischen Babies und Erwachsenen. Eine prinzipielle Unterscheidung in „männliche“ und „weibliche“ Sexualität könne dabei nicht getroffen werden.
Auf ein grundlegendes Problem der Vermittlung katholischer und säkularer Positionen wies der Grazer Moraltheologe Walter Schaupp hin. Die kirchliche Perspektive sei traditioneller Weise „deontologisch“, das heißt, man gehe davon aus, dass eine bestimmte Handlung – Sex zwischen Männern, Sex außerhalb der Ehe – aus sich heraus schlecht sei. Die neuzeitliche Ethik hingegen bewerte stärker das Kriterium der Folgenabwägung. Sexualität gelte dann als moralisch verwerflich, wenn sie negative Auswirkungen für die Beteiligten hat. Es sei für viele Menschen unverständlich, warum sich die Kirche etwa im Zusammenhang mit sexuellem Missbrauch eher dafür interessiert, ob und wann ein Priester „unkeusch“ gehandelt hat, als dafür, welche Folgen sein Verhalten für die Opfer hatte.
Überhaupt sei es falsch, die säkulare Sexualethik als eine Geschichte des Verfalls zu beschreiben, betonte Schaupp. Keineswegs gelte dem so oft geschmähten „Zeitgeist“ alles als erlaubt, was gefällt. Es gehe sehr wohl um moralische Werte und Normen, sogar mehr als früher: Eine sexuelle Beziehung müsse heute auf Gleichheit und gegenseitiger Achtung, Authentizität und Ehrlichkeit aufbauen. Was früher toleriert wurde – etwa Gewalt und Beziehungen oder rein ökonomische Zweckgemeinschaften – gelte heute als moralisch verwerflich.
Ähnlich argumentierte Joachim Frank, engagierter Katholik und bis vor kurzem Chefredakteur der Frankfurter Rundschau und jetzt in der DuMont-Mediengruppe. Er diagnostizierte ein eklatantes Kommunikationsversagen der Kirche. Im Umgang mit sexuellen Übergriffen in ihren eigenen Reihen habe sie vorschnell die Schuld anderen zugschoben – den 68ern zum Beispiel. Statt selbstkritisch zu reflektieren, inwiefern die eigenen Strukturen einen Anteil haben, werde das Bild von einer „reinen Kirche und Lehre“ gezeichnet, die lediglich von einigen Einzelfällen oder bösen Mächten „verschmutzt“ worden sei.
Was aber ist eigentlich der Grund für die in wissenschaftlicher Perspektive so irrationale Haltung der katholischen Lehrmeinung zum Thema Sexualität? Jedenfalls nicht ein eindeutiger biblischer Befund oder Treue zur kirchlichen Tradition, glaubt der Münchner Theologe Norbert Reck. In der Bibel sei auch das Essen von Schalentieren und das unverschleierte Ausgehen von Frauen verboten – und trotzdem werde das vom kirchlichen Lehramt nicht mehr eingefordert. Es gebe auch über die Jahrhunderte keineswegs eine einheitliche katholische Haltung, sondern in der Tradition böten sich durchaus Anknüpfungspunkte für eine liberalere Haltung zu Fragen der Sexualmoral.
Reck glaubt, dass es sich hier um ein Krisenphänomen handelt, bei dem versucht wird, die Schuld für negative Entwicklungen bestimmten Menschengruppen anzulasten. Es sei auffällig, dass immer wieder dieselben drei Gruppen angegriffen würden: „Sodomisten“, also Männer, die gleichgeschlechtlichen Sex haben, „unzüchtige“ Frauen, also solche, die sich nicht die ihnen zugewiesenen Geschlechtsrollen fügen, und „Juden“, also alle, die sich nicht der kirchlichen Lehre und Weltsicht unterordnen.
Angesichts der problematischen wechselseitigen Geschichte von Sexualität und Kirchenmoral forderte Regina Ammicht Quinn zu einer „theologischen Umkehr“ auf. Es gehe nicht darum, hier und da etwas besser zu machen, etwa die Regeln für Wiederverheiratete zu lockern oder die Diskriminierung von Schwulen und Lesben etwas abzumildern. Sondern es sei ein echter Dialog mit anderen notwendig. Dabei müsse man sich vom Konzept einer speziellen Sexualmoral verabschieden. „Im Bezug auf Sexualität gelten dieselben Normen und Werte wie im restlichen Leben auch: Die Achtung der Würde des Anderen und die Ablehnung von Gewalt.“ Es gehe nicht darum, das Sexualleben der Menschen zu reglementieren, sondern es zu kultivieren. Ein guter Ausgangspunkt für eine christliche Reflektion könne etwa die Inkarnation sein: Was bedeutet es, dass Gott „Fleisch geworden“ ist?
Ihre Kollegin Saskia Wendel wies darauf hin, dass jedes Ergebnis einer ernsthaften, christlich motivierten Auseinandersetzung mit Sexualität in einer säkularen Umwelt vertreten werden muss. Dass etwas in der Bibel steht, sei für die meisten Menschen heute kein Argument mehr. „Als Christen und Christinnen kommen wir vielleicht aus einer bestimmten theologischen Intuition und Motivation zu unseren Einsichten, aber wir müssen danach vernünftige Gründe finden, um diese Einsichten auch denen zu vermitteln, die nicht daran glauben.“