Das Scherflein der Witwe
Feminstisch-theologische Überlegungen für ein Leben in Gerechtigkeit
Die Themen »Armut« und »Frauen« zusammen zu denken ist eine komplexe Angelegenheit. Auf den ersten Blick ist der Zusammenhang ja überdeutlich: Frauen haben viel weniger Vermögen und Einkommen, weltweit wie hierzulande. Sie sind also objektiv ärmer als Männer. So gesehen könnten sich Frauen bei einer moralisch-ethischen Aufarbeitung des Themas »Armut« gewissermaßen auf der sicheren Seite wähnen, nämlich eher auf der der Opfer als der Täter, der eher Unschuldigen als der Schuldigen.
Doch eine solche Sichtweise hat verschiedene Tücken. Erstens lässt sich gerade im Hinblick auf Armut kaum von »den Frauen« sprechen. Viele Frauen profitieren durchaus von dem Geld, das Männer verdienen oder besitzen. Zweitens haben Frauen in Zeiten der Emanzipation auch in eigener Person Zugang zum gesellschaftlichen Wohlstand. Und auch zwischen Frauen sind die Einkommensunterschiede enorm groß.
Über Armut zu diskutieren heißt also unweigerlich, über Reichtum zu diskutieren. Und da liegt die dritte Tücke. Wenn Frauen, und Menschen überhaupt, mit wenig Geld pauschal als arm kategorisiert werden, verstellt sich der Blick für das, was sie einzubringen haben als Vision für eine Welt, in der alle Menschen gut und mit Würde leben können. In der besten Absicht, »den Armen« zu helfen, übersieht man allzu leicht, dass die Lösung möglicherweise gar nicht darin liegt, »die Armen« an die Lebensgewohnheiten »der Reichen« anzupassen und ihnen eine Teilhabe zu gleichen Konditionen zu gewähren. Sondern darin, diese sogenannte Normalität in Frage zu stellen.
So wie es Jesus machte, als er beobachtete, wie bei der Tempelsammlung eine bettelarme Witwe zwei kleine Geldmünzen gab, die nur wenig wert waren. Diese Witwe stellte Jesus als Vorbild hin: »Alle anderen haben aus ihrem Überfluss heraus gegeben, sie aber hat aus ihrer Armut heraus alles hineingeworfen, was sie besaß – ihren ganzen Lebensunterhalt. Damit hat sie ihr ganzes Leben Gott anvertraut.« (Mk 12, 44)
Die Geschichte vom »Scherflein der Witwe« ist sehr populär. Ich selbst kenne sie schon seit dem Kindergottesdienst. Aber sie wurde mir immer als moralischer Appell präsentiert, sie wurde mir immer dann vorgehalten, wenn ich etwas für mich behalten wollte, zum Beispiel die geschenkte Tafel Schokolade. Das Beispiel der Witwe wurde als Lob auf den Verzicht ausgegeben, was gerade für Frauen, die ohnehin oft einen fatalen Hang zur Selbstaufopferung haben, eine problematische Botschaft ist.
Dabei ist es eigentlich eine Geschichte der Verheißung und des Vertrauens. Die Witwe gab nämlich nicht nur verhältnismäßig mehr ab als jemand der viel besitzt. Sondern sie vertraute grundsätzlich ihren Lebensunterhalt nicht dem Geld an. Während sich die Reichen der Illusion hingeben, dass ihr Geld ihnen Sicherheit garantiert, steht der Witwe diese Option gar nicht offen. Gerade weil sie so arm ist, hat sie entdeckt, dass ihr Lebensunterhalt auf etwas anderem gründet. Er gründet auf Gott.
Im Großen und Ganzen können sich Reiche – und dazu zählt, global gesehen, in Deutschland die große Mehrheit der Bevölkerung – der Illusion der Eigenverantwortlichkeit hingeben. Der Vorstellung also, dass sie ganz aus sich heraus wirtschaften und auf niemanden angewiesen sind. Auch die sozialpolitische Debatte rund um die Hartz-Reformen gründet ja auf dieser Grundannahme, dass im Prinzip alle Menschen für sich selbst sorgen können und soziale Hilfen nur im Notfall bereitgestellt werden müssen. Leider fügt sich auch der Feminismus teilweise in diesen Diskurs ein. Dass Frauen, gerade auch in ökonomischer Hinsicht, unabhängig werden sollen, ist eine verbreitete Argumentation, die sich fatalerweise exakt in den neoliberalen Trend einpasst.
Feministische Theologinnen und Ethikerinnen haben jedoch inzwischen eine ganze Reihe von Studien vorgelegt, die im Gegensatz dazu eine »Weltsicht der Freiheit in Bezogenheit« entwickeln.1Sie gehen davon aus, dass das Bild vom Selbstversorger nicht trägt, weil alle Menschen nicht nur auf die Fürsorge anderer angewiesen sind, sondern sie auch längst erfahren haben – zum Beispiel als Babys von ihrer Mutter oder anderen Erwachsenen an ihrer Stelle. Das Bild des rational-selbstsüchtigen Homo Oeconomicus, der nur aufs Geld schaut, ist eine Schimäre. Gerade viele Frauen geben ja gute Beispiele dafür, dass im echten Leben durchaus andere Faktoren eine Rolle spielen, wenn sie zum Beispiel mehr Wert auf den Sinn oder die Familienfreundlichkeit ihrer beruflichen Tätigkeit legen als darauf, möglichst viel Geld dafür zu bekommen.
Gerade die aktuelle Finanzkrise könnte ein guter Anlass sein, jenen feministischen Blick auf die Wirtschaft in die öffentliche Debatte einzubringen, der sich im sozialpolitischen Diskurs vom Paradigma des autonomen Selbstversorgers verabschiedet und stattdessen ein Beispiel an der Witwe und ihrem Scherflein nimmt.
Dies setzt aber auch eine Arbeit am Gottesbild voraus. Was bedeutet es, wenn die Witwe ihr Leben nicht ihren Geldvorräten, sondern Gott anvertraut? Eine Sichtweise, die der jungen Jesusbewegung ganz offensichtlich wichtig war, denn es gibt ja noch mehr Gleichnisse, die in diese Richtung weisen, denken wir nur an die »Lilien auf dem Felde« (Mt 6, 25ff).
Dieses urchristliche Vertrauen darauf, dass Gott für meinen Lebensunterhalt sorgt, spielt vermutlich deshalb heute faktisch keine Rolle mehr, weil es durch eine theologische Tradition verschüttet wurde, die Gott als großen Vater gezeichnet hat. In patriarchaler Tradition sind ja Fürsorge und Schutz in der Regel an – kindliches – Wohlverhalten und Unterwerfung geknüpft – genauso wie heute noch die Sozialeistungen von »Vater Staat«. Kein Wunder also, dass gerade Frauen sich aus solcher Abhängigkeit lösen wollen und lieber dem, historisch allerdings ebenfalls männlichen, Streben nach Autonomie und Unabhängigkeit nacheifern. Umso wichtiger, dass die »Bibel in gerechter Sprache« gerade an dieser Stelle von »Gott, Vater und Mutter für euch im Himmel« spricht. Freiheit in Bezogenheit ist nämlich nur möglich, wenn Fürsorge, auch die göttliche, von patriarchaler Bevormundung befreit ist.
Die Schweizer Theologin Ina Praetorius hat die Formulierung »Gott dazwischen« vorgeschlagen.2Wenn wir Gott nicht als eine Macht sehen, die über uns steht und uns »in der Hand hat«, sondern als Beziehungsgeschehen zwischen uns, können wir auch die konkreten ökonomischen Verhältnisse neu in den Blick nehmen und versuchen, sie gerechter zu gestalten. Die Frankfurter Frauenpfarrerin Eli Wolf hat in diesem Zusammenhang betont, dass die biblische Gerechtigkeit nichts mit formalem Recht und einer blinden Justitia zu tun hat. Stattdessen zitiert sie den Propheten Maleachi, wo es heißt: »Euch aber, die ihr meinen Namen achtet, geht die Sonne der Gerechtigkeit auf, ihre Flügel bringen Heilung.« (Maleachi 3,20)
Gerechtigkeit ist keine abstrakte Größe, sie lässt sich nicht durch Gesetze oder Systeme ein für alle mal herstellen. Sondern immer dann, wenn Menschen aus Bedrückung und Not gerettet werden, ereignet sie sich. Gottes Gerechtigkeit bringt etwas in Ordnung, stellt etwas richtig, das in Unordnung geraten und falsch war – hier und jetzt, in dieser konkreten Situation.
Sich an der armen Witwe ein Beispiel nehmen bedeutet also nicht, einfach aufopferungsvoll alles zu geben, was man hat, sondern mit dem eigenen Wohlstand – in finanzieller wie in genereller Bedeutung des Wortes – verantwortlich, nämlich gerecht und von Gott inspiriert umzugehen. Geld ist ein Mittel, das helfen kann, den gesellschaftlichen Wohlstand zu verteilen, Arbeit und Waren und Dienstleistungen zu tauschen. Geld an sich kann aber keine Sicherheit garantieren. Im Gegenteil, es ist ja gerade ein Symbol dafür, dass wir jederzeit auf Austausch mit anderen angewiesen sind.
Gottvertrauen hilft nicht nur dabei, sich von den Illusionen der Autonomie und Eigenverantwortlichkeit frei zu machen, sondern auch, sich gegen ungerechte Strukturen und Situationen zu engagieren. Oder, wie Eli Wolf schreibt: »Gottes Gerechtigkeit ist etwas ganz Irdisches. Menschen können sich von der biblischen Gerechtigkeit inspirieren lassen. Und sich dafür einsetzen, dass alle Menschen ein Leben in Fülle leben können. Sie tun dies nicht aus Angst vor einem möglichen Gericht und auch nicht mit erhobenem Zeigefinger. Sondern ihr Leben, ihr Lachen, ihre Aufmerksamkeit für Unrecht und ihre Suche nach dem, was Gerechtigkeit fördert, sind wie ein Spiegel, der die Strahlen der Gerechtigkeit Gottes reflektiert und aufscheinen lässt in unserem Leben.«3
In: Mitteilungen der Ev. Frauen in Deutschland e.V., Dezember 2008
Zu diesem Artikel schickte mir Ursula Knechteine interessante Ergänzung:
Hab' heute im Zug dein »Scherflein der Witwe« gelesen und es hat mir gut gefallen. Hätte eine nette Ergänzung aus der Apostelgeschichte (3.1-11): Petrus und Johannes gehen zum Tempel, um zu beten. Am Eingang ist ein Mann, der von Geburt aus gelähmt ist und jeden Tag dorthin getragen wird, um zu betteln. Petrus geht auf ihn zu, schaut ihn an und sagt, dass er weder Gold noch Silber besitze, aber das, was er habe, gebe er ihm. Er nimmt ihn bei der Hand, richtet ihn auf und sagt: »Im Namen Jesu Christi, des Nazaräers, geh umher!« Er ist geheilt. Die Geschichte ist im Wortlaut sehr schön und farbig erzählt, musst sie nachlesen.
Ich habe mich bei dieser Geschichte immer gefragt, was passiert wäre, wenn Petrus und Johannes Geld gehabt hätten? Hätten sie ihm eine Münze zugesteckt, ohne ihn richtig anzuschauen und wären in den Tempel gegangen, um zu beten? Weil sie kein Geld hatten, blieb ihnen eben nichts anderes übrig, als ihn zu heilen :-)) oder? Ich
finde es eine »wunder«schöne tiefsinnige Geschichte.
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Vgl. insb. Ina Praetorius (Hg): Sich in Beziehung setzen. Für eine Weltsicht der Freiheit in Bezogenheit, Königstein 2005, sowie dies: Handeln aus der Fülle. Postpatriarchale Ethik in biblischer Tradition, Gütersloh 2005. Einen ausführlichen Überblick, in dem diese Theologie explizit mit der Armutsdiskussion zusammengebracht wird, bietet Michaela Moser: A Good Life for All: Feminist Ethical Reflections on Women, Poverty, and the Possibilities of Creating a Change (Diss), Lampeter (Wales), 2007. ↩
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Ina Praetorius: Gott dazwischen. Eine unfertige Theologie, Ostfildern 2008. ↩
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Eli Wolf: »Sonne der Gerechtigkeit« in: Evangelisches Frankfurt, Nr. 4/2008, S. 7. ↩