Das Rätsel des Bösen
In: Publik Forum, Nr. 21/2011, 4.11.2011 (für die Veröffentlichung wurde der Artikel noch etwas redigiert, dies ist die unbearbeitete Fassung)
„Ist Facebook böse?“ fragte die Berliner „tageszeitung“ kürzlich in ihrer wöchentlichen Pro-und-Contra-Umfrage. Eine „böse Überraschung“ erlebte eine Handynutzerin, als sie eine unerklärlich hohe Rechnung im Briefkasten fand. Der Tumor eines Bekannten hingegen erwies sich bei der medizinischen Untersuchung zum Glück als nicht „bösartig“.
Auch in säkularen, entmythologisierten Zeiten wie der unsrigen wird in vielen Alltagssituationen ganz selbstverständlich von dem „Bösen“ gesprochen. Aber gibt es das wirklich, das „Böse“?
Vielleicht ist das die falsche Frage. Das „Böse“ ist ja erst einmal nur ein Wort. Offenbar gibt es das Bedürfnis, ein solches Wort zu haben. Ein Wort, das ausdrückt, dass da etwas ist, wofür die anderen Worte nicht ausreichen: Unmoral, Egoismus, Gewalttätigkeit, Unterdrückung, Unglück, Ungemach, Leid, Zerstörung. Etwas „böse“ zu nennen heißt, dass manchmal etwas geschieht, das sich nicht vollständig mit Motiven, mit Zufällen, mit Fehlern, mit Gründen erklären lässt. Das Böse entzieht sich der Definition, es ist undurchschaubar, übergriffig. Man weiß nicht, was man dagegen tun soll. Es entzieht sich den üblichen Regularien: Es ist transzendent.
Daher gehört es auch in den Bereich der Götter. Fast alle Kulturen der Welt haben eine Gottheit für das Böse. Exu heißt sie zum Beispiel im brasilianischen Candomblé. Exu hat seine Hütte etwas abseits von den übrigen Göttern und Göttinnen. Vor jedem Ritual muss zu allererst ihm etwas geopfert werden. Das Böse will beschwichtigt, so gut es geht im Zaum gehalten werden. Entfernen, ausmerzen kann man es nicht. Auch nicht ignorieren, denn dann ist die Gefahr umso größer, dass es gerade in dem Moment hereinspaziert kommt, wo man es am allerwenigsten gebrauchen kann.
Die Rede vom Bösen wird aber oft auch missbraucht. Eine „Achse des Bösen“ identifizierte US-Präsident George W. Bush nach den Terroranschlägen vom 11. September unter jenen Ländern, die er als Feinde der USA ausgemacht hatte. Der Terrorist Anders Breivik identifizierte das Böse in muslimischen Migrantinnen und Migranten, die die Kulturen des traditionell christlichen Europas verändern.
Das Böse kann gefährlich leicht mit dem Anderen, dem Fremden, dem mir Unbekannten oder Unangenehmen verwechselt werden. Mit gutem Grund sind viele Menschen heute skeptisch, das Wort überhaupt zu gebrauchen. Ist denn nicht alles nur eine Frage der Perspektive, des Standpunktes?
Geradezu für eine Sinnestäuschung hält es etwa der katholische Zenbuddhist Willigis Jäger: „Böse nennen wir immer das, was unserem Ich schadet. Verliert nun das Ich an Gesicht, bekommt auch das Böse einen anderen Stellenwert. Bildlich gesprochen: Wenn sich ein Ast nur als Ast versteht, dann macht ihm das Dürrewerden und Abfallen Angst. Es gilt ihm gleichsam als böse. Würde der Ast aber seine Identität nicht in seinem Ast-Sein erkennen, sondern darin, dass er Baum ist, dann verlöre er die Angst vor dem Abfallen, da doch der Baum und das Leben des Baumes sein wahres Leben ist.“
Die Antwort scheint jedoch unbefriedigend. Und auch unpraktikabel. Kann man den Eltern eines brutal vergewaltigten Mädchens ernsthaft sagen, hier sei nichts Böses geschehen, das sei alles nur eine Frage der Perspektive und sie würden ihr Ich zu wichtig nehmen? Eine solche Gleich-Gültigkeit ist höchstens aus der Perspektive von kleinen grünen Marsmännchen möglich, die mit dem Geschehen auf der Erde und unter den Menschen nichts zu tun haben.
Das Böse ist unbestreitbar eine menschliche Kategorie. Aber es ist keine Frage der Perspektive. Eine Alternative, wie das zu denken wäre, bietet Simone Weil. Sie teilt zwar mit Jäger die Prämisse, dass die Aufgabe des Ichs notwendig ist, um zu Erkenntnis zu gelangen. Und sie stimmt auch zu, dass das Ich, solange es sich in den Vordergrund drängelt, immer dazu neigen wird, das, was ihm selbst schadet oder einfach nur anders ist, für das Böse zu halten, und das, was ihm nützt oder gleicht, für das Gute. Aber wenn das Ich wirklich einmal beiseite tritt, dann stellt sich ihrer Ansicht nach keineswegs heraus, dass Gut und Böse nur relative Kategorien sind, im Gegenteil: Dann zeigen sich das Gute und das Böse in ihrer wahren Gestalt. Gerade in der Ichlosigkeit der mystischen Erfahrung, so Weil, können Menschen das Böse erkennen, weil sie in diesem Zustand von ihren eigenen Interessen frei sind.
Immerhin haben die Menschen nach biblischer Überlieferung mit dem Essen der verbotenen Frucht im Garten Eden die Fähigkeit erhalten, gut und böse unterscheiden zu können. Und was die eingangs erwähnten Alltagssituationen betrifft, so scheint das auch ganz gut zu funktionieren: Die Rede vom Bösen trifft oft sehr gut den Kern einer Situation.
Kompliziert wird es in dem Moment, wo das Böse abstrakt definiert werden soll. Denn wer setzt hier die Normen? Nach welchen Maßstäben beurteilen wir, was böse ist? Entscheidet darüber die demokratische Mehrheit? Die objektive menschliche Vernunft im Sinne von Kant? Oder Gott?
Gott. Ein Gott. Vor allem mit dem Monotheismus wurde die Rede vom Bösen problematisch. Denn wenn es nur einen Gott gibt, gar noch einen allmächtigen, wird das Böse erklärungsbedürftig. Es kann nicht mehr als eine von vielen miteinander im Widerstreit liegenden transzendenten Entitäten eine eigene Hütte bekommen. Denn es gibt nur einen Gott, und er ist allmächtig. Wie aber kann Gott dann das Böse zulassen? Oder müssen wir umgekehrt schließen, dass Gott selbst nicht nur gut, sondern auch böse ist?
Die radikalste Antwort auf die Theodizee-Frage hat Stendhal formuliert: „Die einzige Entschuldigung Gottes ist, dass er nicht existiert.“ Aber es gab noch andere Erklärungsversuche. Der spätantike Manichäismus ging von zwei miteinander widerstreitenden Prinzipien aus, dem Guten und dem Bösen. Dem Neuplatonismus zufolge ist zwar Gott zwar die einzige schöpferische Kraft, aber das, was Gott ordnet, die Materie nämlich, sei vom Wesen her böse, und daran könne Gott nichts ändern. Dieses Böse breche sich immer wieder Bahn. Eine dritter Erklärungsversuch war die Ansicht, das Böse habe kein eigenständiges Wesen, sondern sei nur die Abwesenheit Gottes, so wie auch die Dunkelheit für sich genommen nicht existiert, sondern nur die Abwesenheit von Licht ist.
Allerdings sind diese Erklärungsversuche allesamt nicht lupenrein monotheistisch. Um die Allmacht des einen Schöpfergottes zu retten, rekurriert bereits Augustinus auf die menschliche Freiheit: Da der Mensch autonom sei, habe er auch die Freiheit, Gottes Willen zu missachten. Dies sei der Ursprung des Bösen. Häufig wird bei dieser Argumentation auf die Paradiesgeschichte verwiesen. Adam und Eva konnten entscheiden, ob sie die verbotenen Früchte essen oder nicht. Und natürlich aßen sie. Gott muss also das Böse zulassen, denn jede Bitte, Gott möge das Böse eindämmen, wäre gleichzeitig auch die Bitte darum, den Menschen die Freiheit wieder wegzunehmen. Eine Argumentationslinie, die ziemlich gradlinig in die Aufklärung mündete und unser heutiges Verständnis von Freiheit als Autonomie geprägt hat: Freiheit als Möglichkeit, das Böse zu tun.
Das Böse wurde also gleichgesetzt mit der Sünde. Das ist zwar eine recht elegante Lösung der Theodizee-Frage, allerdings hat sie dem Missbrauch der Mächtigen mit diesem Begriff Tür und Tor geöffnet. Zumal in einer Religion wie der christlichen, deren feste Kircheninstitutionen mit ihren Konzilen und Lehrämtern verbindlich festgelegen, was Gottes Wille sei. Wenn die Abkehr von Gottes Willen nicht nur eine Sünde, eine menschliche Verfehlung ist, sondern qua Definition böse, also transzendent – dann ist der Weg nicht nur frei zu Ketzerprozessen und Hexenverbrennungen, sondern auch zu den heute so verbreiteten Diffamierungen politischer Gegner, weltanschaulicher Feinde und Andersmeinender generell als „den Bösen“.
Die dualistische Gegenüberstellung von Gut und Böse hat die Moral ins Spiel gebracht. Das Böse war nicht mehr – wie etwa der Candomblé-Gott Exu – nur eine von vielen verschiedenen jenseitigen Entitäten, sondern das eine Gegenprinzip zum Guten, zu dem einen Gott. Und damit wurde es zu einer moralischen Herausforderung für uns, die wir doch alle gerne gut sein möchten. Das Böse zu bekämpfen wurde zu einer Aufgabe für alle gottesfürchtigen Menschen. Und angesichts der moralischen Zweiteilung steht auch fest, wie das geht: „Überwinde das Böse mit Gutem“ lautet etwa der Rat des Apostel Paulus, den die Evangelische Kirche in Deutschland in diesem Jahr zu ihrer Jahreslosung gemacht hat.
Doch diese Sichtweise hat ihre Tücken. Die Philosophin Diana Sartori nennt es „die Versuchung des Guten“. Sie gibt zu bedenken, dass gerade der Wunsch, Gutes zu tun, oft keineswegs zur Überwindung des Bösen führt, sondern im Gegenteil dazu, dass es sich vermehrt. So als würde das Böse nur darauf warten, sich von dem Guten, das ihm entgegen gesetzt wird, zu nähren und zu stärken. So ähnlich wie es bei vielen Frauen ist, die sich aus gewalttätigen Beziehungen nicht befreien können, weil sie immer wieder versuchen, zu verstehen, was geschieht, warum ihnen das angetan wird, weil sie nach Gründen und Motiven forschen, weil sie die Hoffnung nicht aufgeben, dass sich doch noch einmal etwas verändert. Auf diese Weise geben sie dem Bösen ständig neue Nahrung. Es bleibt aber in solchen Situationen nur eine Option: Nichts fragen, nichts fordern, sondern weggehen. Der Glaube, das Böse überwinden zu können, ist eine Illusion. Und eine Überforderung. Die Hybris des modernen Menschen, der immer für alles eine Lösung haben will.
Worauf es hingegen ankommt ist, sich nicht vom Bösen infizieren zu lassen. Diese Lehre zog jedenfalls Etty Hillesum im Angesicht der „Bösheit“ des Nationalsozialismus. Mit Schrecken beobachtete sie in ihrer niederländischen Heimat, wie der Kampf gegen die Nazis viele aufrechte Menschen dazu brachte, selbst „böse“ zu werden – und zum Beispiel andere zu verraten, um ihr eigenes Leben zu retten, oder auch dazu, zu Handlangern der Nazis zu werden in der Hoffnung, die Situation unterm Strich ein wenig zu verbessern. Für sich selbst zog sie den Schluss, dass das Wichtigste nicht sei, die Nazis zu besiegen oder das eigene Leben zu retten, sondern die eigene Seele vor dieser Ansteckung zu schützen. Damit man nicht selbst dazu beiträgt, dass sich das Böse immer weiter ausbreitet in der Welt.
Wer mit dem Bösen konfrontiert ist, kommt nicht darum herum, die eigene Hilflosigkeit einzugestehen. So wie es zum Beispiel eine Mutter ihrem kleinen Kind nahelegt, das sich gerade an einem spitzen Stein das Knie aufgeschlagen hat, wenn sie sagt: „Dieser böse Stein!“ Das Beispiel mag banal sein, aber dass das Böse eben genau so ist und keineswegs mit großen Pauken und Trompeten daher kommt, wissen wir seit Hannah Arendt.
Was die Mutter dem Kind signalisiert, ist: Du hast das Recht, zu weinen und zu klagen, denn dir ist etwas Böses widerfahren. Du musst jetzt nichts weiter unternehmen, es gibt für das keine Gründe, keine Rechtfertigungen, keine Maßnahmen, die ergriffen werden müssen: Der Stein war eben böse. Und gegen das Böse haben wir Menschen nichts in der Hand. Wir können nur weinen, wir können die Folgen lindern, wir können uns gegenseitig trösten, wir können aufpassen, dass wir nicht infiziert werden und dann aus Wut selber Leid verursachen, und wir können uns in Zukunft davor in Acht nehmen.
Doch der Grat ist schmal. Alles hängt davon ab, die Situation richtig einzuschätzen: Ist das, womit ich konfrontiert bin, wirklich das Böse, das mich hilflos macht und dem ich eine klare Grenze setzen muss, um nicht davon infiziert zu werden? Oder ist es ein Konflikt, der bearbeitet, ein Problem, das gelöst, eine Fremdheit, zu der ich Brücken schlagen kann?
Denn eines muss man sich klar machen: Das Böse ist selten. Die allermeisten Widrigkeiten im komplizierten Zusammenleben der Menschen in ihrer Pluralität sind in der Tat moralische Fragen, bei denen es um richtig oder falsch, um angemessen oder unangemessen, um widerstreitende Interessen oder diese oder jene Vorlieben geht, und die überhaupt nichts mit dem Bösen zu tun haben.
Vilem Flusser hat das an einem Beispiel anschaulich gemacht: Ein Schachspieler, dem eine Niederlage droht, wirft das Schachbrett um. Das ist zerstörerisch, vielleicht auch falsch und unmoralisch, aber nicht böse, denn es ist mit einer Absicht verbunden, mit Motiven, also erklärbar und verstehbar. Böse wäre, wenn ein gänzlich gleichgültiger und unbeteiligter Dritter hingeht und das Schachbrett umwirft, auf dem gerade zwei andere spielen. Flusser schreibt: „Es gibt, wenn auch selten, die Geste der reinen, absichtslosen Zerstörung und Destruktion… Aus solchen Gesten kann man das Dasein als Gegenwart des Bösen in der Welt herauslesen; als das echte, radikale Böse. Es gibt den ‚Teufel‘.“
Das Böse ist kein übermenschliches Prinzip, das einfach über uns hereinbricht, es ist aber auch nicht einfach nur relativ. Vielleicht hilft weiter, was Beti über das Böse erzählt, eine Frau aus einem Armenviertel, die die brasilianische Befreiungstheologin Ivone Gebara in ihrem Buch über „Die dunkle Seite Gottes“ zitiert. Beti sagt: „Die Frauen in den Slums leiden alle unter denselben Problemen. Sie waschen die Wäsche. Wenn es Wasser gibt, fehlt die Seife. Wenn sie Seife haben, gibt es kein Wasser. Sie tragen einen Wäschezuber, um die Wäsche an einer Wasserstelle waschen zu gehen. Sie gehen zur Arbeit. Sie haben viele Kinder, für die sie sorgen müssen. Der Ehemann kommt oft entnervt nach Hause. Er trinkt, und die schwierige Situation verführt ihn zum Trinken. Die Frau streitet mit ihm. Oft ist sie sich nicht der Tatsache bewusst, dass es die Gesellschaft ist, die uns diese Momente der Müdigkeit, Aggressivität und Unruhe aufzwingt. Nachts wacht man auf, weil es in das Haus hineinregnet. Man hört die Ratten in der Küche. Man pflegt sein Kind, das sich am Fuß verletzt hat, als es mit dem Ball auf der Straße gespielt hat.“
Beti entlarvt die vermeintlichen Alternativen, die das philosophische oder theologische Denken gezogen hat, als falsche oder Scheinalternativen. Das Böse ist nicht eine metaphysische Größe, die über die Menschen hereinbricht, es ist aber auch kein „Systemfehler“ der Freiheit. Es ist Missbrauch der Freiheit ebenso wie das Fehlen der Freiheit. Es ist sowohl vermeidbar als auch unvermeidbar. Es macht machtlos, und es fordert gleichzeitig zum Handeln heraus. Gebara nennt das die gleichzeitige Transzendenz und Immanenz des Bösen: Das Böse ist „jenseitig“, also unabhängig von uns Menschen. Aber es kann nur in dieser konkreten Welt, also bei uns, wirken.
Wir Menschen haben die Fähigkeit, gut und böse zu erkennen, und deshalb dürfen wir uns nicht aus der Verantwortung stehlen. Denn, so hat schon Hannah Arendt beobachtet, die größte Gefahr ist nicht der Drang zum Bösen, sondern die Gleichgültigkeit ihm gegenüber: „In dem unwahrscheinlichen Fall, dass jemand daherkommen könnte und uns erzählte, er würde gerne mit Ritter Blaubart zusammen sein, ihn sich also zum Beispiel wählen, ist das einzige, was wir tun können, dafür zu sorgen, dass er niemals in unsere Nähe gelangt. Doch ist, so fürchte ich, die Wahrscheinlichkeit weitaus größer, dass jemand kommt und uns sagt, es sei ihm egal, jede Gesellschaft wäre ihm gut genug. Und damit verbunden und nur ein bisschen weniger gefährlich ist die häufig anzutreffende Tendenz, das Urteilen überhaupt zu verweigern. Aus dem Unwillen oder der Unfähigkeit, durch Urteil zu Anderen in Beziehung zu treten, entstehen die wirklichen „skandala“, die wirklichen Stolpersteine, welche menschliche Macht nicht beseitigen kann, weil sie nicht von menschlichen oder menschlich verständlichen Motiven verursacht wurden.“
„Geistesgegenwärtigkeit“ könnte man es nennen, diese Fähigkeit und Bereitschaft, das Böse, das sich in einer konkreten Situation zeigt, zu benennen und angemessen zu reagieren. Für religiöse Menschen ist das die Stelle, wo wieder Gott ins Spiel kommt: Gott ist nicht der Gegenspieler des Bösen. Aber Gott steht uns bei, wenn wir dem Bösen begegnen.