Das Böse sichtbar machen, ohne sich von ihm anstecken zu lassen
In seinem Roman »Der Meister und Margarita« beschreibt Michail Bulgakow den Teufel so: »In der Folgezeit, als es längst zu spät war, legten verschiedene Behörden Berichte mit einer Beschreibung des Mannes vor. Ein Vergleich der Berichte bringt Erstaunliches zutage. So heißt es in dem einen Bericht, der Mann sei klein, habe Goldzähne und lahme auf dem rechten Fuß. Ein anderer Bericht besagt, der Mann sei riesengroß, habe Platinkronen und lahme auf dem linken Fuß. Ein dritter teilt lakonisch mit, der Mann habe keine besonderen Kennzeichen. Es sei zugegeben, dass die Berichte samt und sonders nichts taugen. Vor allem eines: der Beschriebene lahmte überhaupt nicht und war weder klein noch riesig, sondern groß. Was seine Zähne betrifft, so trug er links Platinkronen und rechts Goldkronen. Bekleidet war er mit einem teuren grauen Anzug und dazu passenden ausländischen Schuhen. Die graue Baskenmütze hatte er flott aufs Ohr geschoben, und unterm Arm trug er einen Stock mit schwarzem Knauf in Form eines Pudelkopfes. Dem Aussehen nach war er etwas über Vierzig. Der Mund war leicht schief. Das Gesicht glattrasiert. Brünett. Das rechte Auge war schwarz, das linke aber grün. Die Brauen waren schwarz, doch saß die eine etwas höher als die andere. Kurzum – ein Ausländer.«
Dies ist eine schöne Beschreibung für das Böse. Die Berichte über es widersprechen sich, man kriegt es nicht zu fassen – und doch existiert es. Es ist verführerisch zu denken, dass die Bösen einfach die anderen, die Ausländer sind. So werden politische Ereignisse wie Terroranschläge oder Kriege, aber auch Konflikte zwischen Bevölkerungsgruppen und Religionen metaphysisch aufgeladen: Der Feind ist nicht einfach ein Gegner mit anderen Interessen, Meinungen und Gewohnheiten, sondern er ist das Böse schlechthin. In der Realität führt dies meist zu unfruchtbaren Patt-Situationen und vergrößert das Leid ins Endlose – der nun schon seit Jahrzehnten andauernde Konflikt zwischen Israel und Palästina, für den eine Lösung Jahr für Jahr unwahrscheinlicher wird, ist dafür nur ein besonders einleuchtendes, aber keineswegs einzigartiges Beispiel.
Wenn wir diese Gleichsetzung des Bösen mit dem Anderen ablehnen, was ist es dann? Wie können wir, die wir doch immer parteiisch sind, weil selbst involviert, unterscheiden zwischen dem Bösen und dem, was einfach nur anders ist? Denn wenn wir das nicht tun, landen wir beim postmodernen Relativismus: Wenn alles einfach nur anders ist – gibt es dann das Böse gar nicht? Bilden wir uns den Teufel nur ein? Die Philosophin Diana Sartori schreibt dazu ein wenig sarkastisch: »Sie scheint wirklich eine große gute Mamma zu sein, dieser Dämon, der uns einflüstert, wir sollten immer an das Gute glauben. Das bedeutet aber nur, auf den größten Trick des Teufels hereinzufallen, nämlich den, uns glauben zu machen, dass er gar nicht existiert.«
Wie ist es also möglich, das Böse zu erkennen und zu benennen, ohne es aber mit dem Anderen gleichzusetzen?
In einem ersten Teil werde ich einen kurzen Rückblick auf die vier wichtigsten westlichen Denktraditionen zum Thema »Das Böse« geben und erläutern, warum sie letztlich nicht helfen, das Böse zu verstehen. In einem zweiten Teil komme ich dann zu möglichen Denkalternativen.
Das hauptsächliche Problem im Umgang mit dem Bösen liegt, wie gesagt, darin, dass es nicht leicht zu erkennen ist. Es stellt sich hinterher heraus, dass es »ganz normal« aussah. Der Teufel versteckt seinen Pferdefuß, wenn er sich unter die Menschen mischt. Vor allem aber sieht er gar nicht monströs aus. Arnold Less, ein Holocaust-Überlebender, beschreibt zum Beispiel seine erste Begegnung mit Adolf Eichmann, dem Organisator der nationalsozialistischen Judenermordung, beim Prozess 1963 in Jerusalem so: »Am 29. Mai gegen 16.45 Uhr sah ich Adolf Eichmann zum ersten Mal. Wir ließen ihn im Verhörraum vorführen und warteten gespannt, selbst der beherrschte Oberst konnte seine Nervosität nicht verbergen. Als der Häftling in Khakihose und -hemd und mit offenen Sandalen an den Füßen vor uns stand, war ich enttäuscht. Ich weiß nicht mehr, was ich erwartet hatte – wahrscheinlich einen Nazi, wie man ihn aus Filmen kannte: groß, blond, mit stechenden blauen Augen, ein brutales Gesicht, das herrische Arroganz ausstrahlt. Doch nun stand plötzlich ein ganz gewöhnlicher Mensch vor mir, wenig größer als ich, eher mager als schlank, mit sehr spärlichem Haarwuchs, kein Frankenstein, kein Teufel mit Klumpfuß und Hörnern. Diese Normalität ließ mich seine leidenschaftslosen Aussagen noch bedrückender empfinden, als ich sie mir aus den Dokumenten erwartet hatte.«
Das Böse wirkt äußerlich normal. Es wird nicht von dramatischer Musik und entsprechender Kameraführung begleitet. Das Böse trägt kein Schild auf der Stirn »Achtung, hier kommt das Böse.« Es lässt sich nicht an Markenzeichen erkennen, weder am Islamistenbart noch an der Uniform des Militärs und auch nicht am Vorstandsposten eines globalen Multikonzerns. Wenn man das Böse aber nicht an bestimmten Merkmalen erkennen kann, was ist sein Wesen? Wo kommt das Böse her und was sind seine Ursachen? Und was können wir tun, wenn wir ihm begegnen?
In der christlich-westlichen Tradition galt das Böse lange als etwas Externes, das von Außen in die Welt kommt – personifiziert in der Figur des Teufels. Das Böse wurde gesehen als etwas Metaphysisches, Übernatürliches, das die Menschen gewissermaßen wie eine Krankheit befällt und in seine Gewalt bringt. Die gnostische Tradition, von der das frühe Christentum beeinflusst ist (wenn es sich auch bald davon abgegrenzt hat) teilt die Welt sogar noch klarer in einen großen Dualismus auf: die Welt als permanenter Kampf zwischen dem Guten und dem Bösen. Gott und der Teufel streiten um die Macht, und die Menschen sind sozusagen nur Spielbälle in diesem Wettstreit. In dieser Sichtweise ist das Böse etwas Absolutes, das unabhängig von der menschlichen Perspektive existiert. Die Menschen bringen das Böse nicht hervor, sie können nur davon beeinflusst sein. Dieses Sichtweise führt unweigerlich zur Theodizee-Frage: Wie kann Gott das zulassen? Warum rottet er das Böse nicht einfach aus, wenn er doch allmächtig ist?
Man muss keine Feministin sein, um diese dualistische Weltsicht problematisch zu finden. Der Widerpart von Teufel und Gott hat jede Menge falscher Gegensätze nach sich gezogen, nicht nur den von Frau und Mann: Körper und Geist, Natur und Kultur, Krank und Gesund sind hier klar getrennt und den Bereichen gut und böse eindeutig zugeordnet, um nur einige zu nennen.
Solch ein dualistisches Schema führt das Denken in fast jeglicher Hinsicht aufs falsche Gleis. Spätestens mit der Aufklärung brachte die westliche Philosophie daher auch eine andere, bald ebenso wirkmächtige Gegenhypothese ins Spiel: Sie unternahm den Versuch, das Böse nicht mehr als metaphysisch und jenseitig zu verstehen, sondern an das Wesen des Menschen selbst zu binden. Nicht »der Teufel«, der von außen auf die Menschen einwirkt, sei das Böse, sondern etwas, das zum Menschen wesentlich dazu gehört und daher auch nicht ausgerottet werden kann. Es ist eine unmittelbare und unausweichliche Folge der Freiheit, wie es zum Beispiel der Philosoph Rüdiger Safranski schreibt, dessen Buch »Das Böse oder das Drama der Freiheit« als ein Standardwerk zum Thema gilt.
Freiheit wird hier also als Autonomie, als Unabhängigkeit definiert. Freiheit bedeutet, alles tun zu können, was man will – inklusive des Bösen. Safranski (und mit ihm die meisten Denker seit der Aufklärung) beruft sich dabei auf die Paradiesgeschichte der hebräischen Bibel, die als Parabel dafür gelesen wird, dass das Böse mit dem »Sündenfall« des Menschen in die Welt kam: Adam und Eva bekamen die Freiheit der Entscheidung ob sie die verbotenen Früchte essen oder nicht. Und natürlich aßen sie. Diese Interpretation des Bösen als »Preis der Freiheit« ist gleichzeitig auch die klassische Antwort auf die Theodizeefrage: Gott muss das Böse zulassen, weil er den Menschen die Freiheit gegeben hat. Jede Bitte darum, dass Gott das Böse eindämmen möge, wäre gleichzeitig auch die Bitte darum, den Menschen die Freiheit wieder wegzunehmen.
Doch ist Freiheit wirklich gleichzusetzen mit Unabhängigkeit? Die jüdische Theologin Eveline Goodman-Thau interpretiert die Geschichte von Adam und Eva anders. Mit der Erschaffung der Frau, also Evas, kam ihrer Ansicht nicht etwa das Böse in die Welt, sondern die menschliche Pluralität . Aus dem einen Adam, dem geschlechtslosen Menschenwesen, wurde die Vielheit der Menschen, repräsentiert in der Geschlechterdifferenz. Wenn es aber nicht den Menschen gibt, sondern lediglich viele Menschen, wenn Menschsein nur im Plural möglich ist, dann kann es auch keine harmonische Einheit mehr geben, weil diese Unterschiede der Menschen immer Differenzen sind. Das bringt unweigerlich Arbeit, nämlich die Last und Mühe des Verhandelns mit sich. Die sexuelle Differenz, die mit der Erschaffung Evas in die Welt kam, hat die Bedingungen des Menschseins verändert. Der Mensch ist nicht mehr eins mit sich und mit Gott, sondern unterschieden, also abhängig vom Anderen. Doch dies ist nicht das Böse. Was Gott den Menschen gegeben hat, weil es für das pluralistische Menschsein unverzichtbar ist, war nicht etwa die Fähigkeit, Böses zu tun , sondern die Fähigkeit, gut und böse erkennen und unterscheiden zu können. Das ist ein wichtiger Unterschied.
Auch die brasilianische Theologin Ivone Gebara, die ebenfalls ein Buch über das Böse geschrieben hat, bezweifelt, dass wirklich Freiheit die Ursache für das Böse ist. Sie zeigt nämlich, dass das »Böse« für viele Frauen gerade nicht daher rührt, dass sie zuviel Freiheit haben, sondern zu wenig. Auch ein Mangel an Freiheit kann Böses bewirken, wenn zum Beispiel jemand sich nicht gegen seine oder ihre Unterdrücker wehrt, wenn Menschen »das Böse« also nicht als solches identifizieren und erkennen und benennen, sondern als Schicksal, als Plan Gottes oder als Bestrafung für eigene Sünden akzeptieren. Das »Nicht-Können« von Menschen, ihre Unfreiheit also, hat ebenso Böses zur Folge, wie ihr »Können«, ihre Freiheit.
Eine dritte Denkrichtung der westlichen Philosophiegeschichte ist der Auffassung, dass das Böse für sich genommen gar nicht existiert, sondern immer relativ ist, also vom Standpunkt abhängig. So schreibt etwa Willigis Jäger, ein zeitgenössischer katholischer Mystiker: »Böse nennen wir immer das, was unserem Ich schadet. Verliert nun das Ich an Gesicht, bekommt auch das Böse einen anderen Stellenwert. Bildlich gesprochen: Wenn sich ein Ast nur als Ast versteht, dann macht ihm das Dürrewerden und Abfallen Angst. Es gilt ihm gleichsam als böse. Würde der Ast aber seine Identität nicht in seinem Ast-Sein erkennen, sondern darin, dass er Baum ist, dann verlöre er die Angst vor dem Abfallen, da doch der Baum und das Leben des Baumes sein wahres Leben ist.«
Ist also das Böse nur eine Frage der Perspektive, der Sichtweise? Dies ist eine Ansicht die auch vielen Frauen attraktiv scheint. Allerdings haben bedeutende Philosophinnen dem widersprochen, zum Beispiel Simone Weil, deren 100. Geburtstag in diesem Jahr ist. Ihr Einwand ist vor allem deshalb interessant, weil sie wie Willigis Jäger eine Mystikerin ist, also ebenfalls meint, dass die Aufgabe des Ichs zu Erkenntnis führt. Allerdings nach Ansicht von Weil zu einer genau entgegen gesetzten: Zwar stimmt sie zu, dass das Ich, solange es sich in den Vordergrund drängelt, immer dazu neigen wird, das, was ihm selbst schadet oder einfach nur anders ist, für das Böse zu halten, und das, was ihm nützt oder ihm gleicht, für das Gute. Aber wenn das Ich wirklich einmal beiseite tritt, dann stellt sich nach ihrer Ansicht keineswegs heraus, dass Gut und Böse nur relative Kategorien sind, sondern dann zeigen sich das Gute und das Böse vielmehr erst in ihrer wahren Gestalt. In der Ichlosigkeit der mystischen Erfahrung können Menschen also das Böse erkennen, weil sie in diesem Zustand von ihren eigenen Interessen frei sind.
Vielleicht sind diese beiden unterschiedlichen Einschätzungen des Mystikers und der Mystikerin auch ein Ausdruck der Geschlechterdifferenz. Willigis Jäger argumentiert gewissermaßen gegen seine eigenen Geschlechtsgenossen, wenn er sagt, dass diejenigen sich irren, die versprechen, das Böse auszurotten, indem sie es bekämpfen. Diese Hoffnung, man könne das Böse besiegen, wenn man nur entschlossen genug dagegen vorgeht, hegen ja deutlich mehr Männer als Frauen. Simone Weil hingegen, so könnte man sagen, wendet sich an eine eher weibliche Leserinnenschaft, wenn sie erwidert, dass auch die Gegenstrategie nicht aufgehen wird – nämlich zu versuchen, für das Böse Verständnis zu haben und es zu entschuldigen oder darin doch noch irgen etwas »eigentlich« auch Gutes zu sehen. Eine Versuchung, der mehr Frauen als Männer erliegen. Nein, widerspricht Weil, das Böse gibt es wirklich und es ist nicht schön zu reden.
Eine vierte Denkrichtung schließlich möchte ich noch kurz ansprechen, auch wenn sie vergleichsweise schlicht ist, aber sie ist im Alltagsdenken weit verbreitet. Hiernach lässt sich Gut und Böse an dem erkennen, was eine Tat hervorbringt, ob sie erfolgreich ist oder nicht. Es ist sozusagen die »Der Zweck heiligt die Mittel«-Argumentation. Kann Erfolg der Ausweis des Guten sein? Ist gut, was sich am Ende durchsetzt? Auch Adolf Eichmann hat so argumentiert. Er sagte im Jerusalemer Verhör: »Hitler mag hundertprozentig Unrecht gehabt haben, aber eins steht jenseits aller Diskussion fest: der Mann war fähig, sich vom Gefreiten der deutschen Armee zum Führer eines Volkes von 80 Millionen emporzuarbeiten. Sein Erfolg allein beweist mir, dass ich mich ihm unterzuordnen hatte.« Wir schlagen uns gerne auf die Seite der Sieger und meinen, das wären die Guten.
Es gibt natürlich viele Argumente gegen diese Sichtweise. Schon rein logisch gesehen, ist sie unsinnig, da man ja erst am Ende der Geschichte wissen könnte, was gut und böse ist. Denn solange die Welt noch besteht und Dinge sich verändern, ist das letzte Wort ja nicht gesprochen. Der Sozialismus im Stile der Sowjetunion zum Beispiel konnte mehrere Jahrzehnte lang durchaus als siegreich gelten, seit 1989 wissen wir es besser. Auch das westliche Modell der Aufklärung, das zurzeit noch siegreich scheint, könnte irgendwann seine weltanschauliche Vorrangstellung der »Guten« verlieren.
In der jüdisch-christlichen Tradition ist es die Hiobsgeschichte die deutlich macht, dass man das Gute nicht am Erfolg erkennt – denn Hiob, der vom Schicksal Geschlagene und vom Pech Verfolgte, ist dennoch von Gott geliebt. Ivone Gebara hat zudem noch darauf hingewiesen, dass auch das Böse durchaus zu positiven Ergebnissen führen kann, ebenso wie das Gute zu negativen. Nein, an seinen Früchten erkennen wir das Böse nicht, jedenfalls nicht zu unseren Lebzeiten.
Dies waren also die vier westlichen Denktraditionen zum Bösen: Das Böse als absolut anderes, das Böse als zum Wesen des Menschen gehörend, das Böse als Frage der Perspektive und das Böse als das, was unterliegt. Ich komme nun zu meinem zweiten Teil: Wie können wir aus dem Dilemma herauskommen, dass das Böse offensichtlich etwas ist, das weder völlig losgelöst als übermenschliches Prinzip über uns hereinbricht, noch aber etwas einfach nur Relatives ist?
Die Philosophin Annarosa Buttarelli schlägt vor, sich das Böse als etwas vorzustellen, »das eine Unabhängigkeit hat im Hinblick darauf, was wir damit machen und davon wissen können, egal wie sehr wir uns anstrengen, es zu verstehen oder uns ihm entgegenzustellen oder dafür ein Heilmittel zu finden«, doch sie fügt hinzu, dass diese Unabhängigkeit nicht absolut sei. Dies ist auf den ersten Blick ein schwieriger Gedanke: eine Unabhängigkeit, die nicht absolut ist.
Vielleicht hilft dabei weiter, was Beti über das Böse erzählt, eine Frau aus einem brasilianischen Armenviertel, die Ivone Gebara in ihrem Buch zitiert. Beti sagt: »Die Frauen in den Slums leiden alle unter denselben Problemen. Sie waschen die Wäsche. Wenn es Wasser gibt, fehlt die Seife. Wenn sie Seife haben, gibt es kein Wasser. Sie tragen einen Wäschezuber, um die Wäsche an einer Wasserstelle waschen zu gehen. Sie gehen zur Arbeit. Sie haben viele Kinder, für die sie sorgen müssen. Der Ehemann kommt oft entnervt nach Hause. Er trinkt, und die schwierige Situation verführt ihn zum Trinken. Die Frau streitet mit ihm. Oft ist sie sich nicht der Tatsache bewusst, dass es die Gesellschaft ist, die uns diese Momente der Müdigkeit, Aggressivität und Unruhe aufzwingt. Nachts wacht man auf, weil es in das Haus hineinregnet. Man hört die Ratten in der Küche. Man pflegt sein Kind, das sich am Fuß verletzt hat, als es mit dem Ball auf der Straße gespielt hat.«
Betis Beschreibung zeigt, wie unentwirrbar miteinander verbunden all die verschiedenen Faktoren sind: Die gesellschaftlichen Umstände (wenn es Seife gibt, gibt es kein Wasser, wenn es Wasser gibt, keine Seife), das individuelle Verhalten anderer Menschen (der trinkende Ehemann) sowie das eigene Zutun (zu viele Kinder bekommen), das Nichterkennen des Bösen, das als Schicksal akzeptiert wird, sowie die unvermeidlichen Unwägbarkeiten und Risiken des Lebens (der beim Spielen verletzte Fuß des Kindes).
Beti entlarvt die vermeintlichen Alternativen, die das philosophische oder theologische Denken gezogen hat, als falsche oder Scheinalternativen. Das Böse ist nicht eine metaphysische Größe, die über die Menschen hereinbricht, sie ist aber auch kein »Systemfehler« der Freiheit. Es ist Missbrauch der Freiheit ebenso wie das Fehlen der Freiheit. Es ist sowohl vermeidbar als auch unvermeidbar. Es macht machtlos, und es fordert gleichzeitig zum Handeln heraus. Oder, in den Worten von Gebara: »Jede persönliche Erfahrung mit dem Bösen macht die Erfahrung des Bösen insgesamt um so komplexer und schwerer verständlich, als die verschiedensten Elemente eine Rolle spielen. Es ist wie ein Labyrinth ohne Ausgang. Darin ist man versklavt und frei zugleich. Darin lebt man das Paradox der Existenz ohne zufrieden stellende Antworten.« Gebara nennt das die gleichzeitige Transzendenz und Immanenz des Bösen. Sie schreibt: »Die Transzendenz/Immanenz des Bösen ist für mich Anstoß, mich zu der Wirklichkeit zu bekehren, die ich wahrnehme, zu diesem wirklichen Gemisch, in dem kein Wort von definitiver Geltung ist, kein Gott der Allmächtige sein kann, kein Gut unübertrefflich ist und kein Übel das letzte Wort über das Leben spricht.«
Die gleichzeitige Immanenz und Tranzdendenz des Bösen bedeutet: Es existiert unabhängig von uns, aber es kann nur wirken, wenn wir uns dazu in eine Beziehung setzen. Es ist nicht das, was wir darin sehen, aber es ist nur, wenn Menschen es zu- und einlassen. Oder, wie Annarosa Buttarelli schreibt: Das Böse »ist auf uns angewiesen, um da zu sein, aber es ist nicht notwendigerweise davon abhängig, wie wir es denken.« Die Menschen sind nicht die Urheberinnen und Urheber des Bösen, aber es kommt nur durch die Menschen in die Welt hinein. Oder es ist, um ein anderes Bild zu verwenden, so ähnlich wie bei einer »bösen« Krankheit, etwa Krebs. Es ist untrennbar mit uns verbunden, in diesem Fall mit unserem Körper, aber doch ungerufen. Das Böse kann nicht bekämpft werden, ohne das Ich selbst zu bekämpfen. Die Krankheit gehört nicht zum Körper, aber ohne den Körper kann sie nicht existieren.
Wenn das Böse also etwas Eigenständiges ist, aber immer eine Beziehung zu den Menschen benötigt, um in die Welt zu kommen, dann stellt sich die Frage, wie diese Beziehung zum Bösen aussieht und wie sie gestaltet werden kann. Es kommt also, und das ist eine meiner zentralen Thesen, moralisch-ethisch gesehen nicht darauf an, das Böse zu definieren und zu analysieren, denn das ist unmöglich, weil das Böse eben transzendent, jenseitig ist. Wir können es nicht definieren oder abstrakt fassen, sondern es existiert immer nur in konkreten Situationen, die untereinander völlig unterschiedlich sein können und nicht auf einen konkreten Nenner zu bringen sind.
Dies erfordert von uns im westlich-modernen Denken Aufgewachsenen einen Perspektivenwechsel. Wir sind es gewohnt, gewissermaßen übergeordnete ethische Prinzipien von Gut und Böse zu entwickeln und dann auf konkrete Situationen sozusagen »anzuwenden«. Dies aber genau ist das, was nicht funktioniert. Sondern es ist anders herum: Nur in der genauen Beobachtungen der konkreten Situationen im Alltag können wir das Böse überhaupt wahrnehmen, und es kommt nicht darauf an, daraus eine Regel zu gießen, sondern in genau dieser Situation dann angemessen zu handeln, wissend, das das nicht auf andere Situationen übertragbar ist.
So zeigte sich das »Böse« im Fall von Adolf Eichmann nach Ansicht von Hannah Arendt gerade in seiner Beziehungsunfähigkeit anderen Menschen gegenüber. Sie schreibt: »Er war nicht imstande, vom Gesichtspunkt eines anderen Menschen aus sich irgendetwas vorzustellen. Verständigung mit Eichmann war unmöglich, nicht weil er log, sondern weil ihn der denkbar zuverlässigste Schutzwall gegen die Worte und gegen die Gegenwart anderer, und daher gegen die Wirklichkeit selbst umgab: absoluter Mangel an Vorstellungskraft.«
Arendt identifiziert also die Unfähigkeit zu denken, die Gedankenlosigkeit, als eine Art und Weise, wie Menschen zum Durchgang für das Böse werden. Das Nicht-Denken und das Nicht-Urteilen. Das hat keineswegs mit Dummheit zu tun. Auch die Intelligenten und Klugen können gedankenlos sein und dadurch zu Kompagnons des Bösen werde – wie Arendt selbst unter ihren Studienkollegen in Deutschland Anfang der 1930er Jahre erleben musste. Intellektualismus kann sogar in dieser Hinsicht noch viel gefährlicher sein, als Dummheit, weil die Intellektuellen spitzfindig genug sind, um sich auch das offensichtlich Böse schönzureden.
Ein weiterer Durchgang für das Böse ist das, was Diana Sartori »die Versuchung des Guten« nennt. Das kontingente, zufällige Böse lässt sich nämlich nicht bekämpfen mit einem guten Willen, dieses Böse zu beherrschen und zu unterdrücken und zu korrigieren. Denn wenn das Böse kein abstraktes, theoretisch zu fassendes Ding ist, dann lässt sich ihm auch nicht mit einem Prinzip des Guten beikommen. Es ist eben tatsächlich so, wie Ivone Gebara sagt, »dass das Gute und das Böse voneinander zehren und dass es folglich kein Mittel zur radikalen Trennung von Unkraut und Weizen gibt.«
Diese Versuchung des Guten lässt sich in verschiedenen Ausformungen beobachten. Da wäre etwa die Versuchung des Guten, die soweit gehen kann, dass man selbst zu bösen Mitteln zu greift, um das Böse zu bekämpfen. Es ist »der Wille, um jeden Preis das Gute zu tun, also auch um den Preis des Bösen«, wie Sartori schreibt. Es ist zu kurz gegriffen, in diesen Fällen den Menschen, die unbedingt das Gute tun wollen, zu unterstellen, sie würden ja in Wirklichkeit doch nur ihre eigenen Interessen verfolgen, wären also eigentlich gar keine Guten, sondern Böse. Solche Heuchler gibt es natürlich auch, aber das ist nicht der Punkt. Auch dann, wenn jemand ganz uneigennützig ist und wirklich nur das Gute will, hält dieses Gute das Böse erst recht am Leben. Weil das Gute in dieser Haltung zu einem Prinzip wird.
In diesem Zusammenhang ist die Hochschätzung, die vor allem in einer linken Tradition dem Widerstand als der einzig legitimen Haltung gegen das Böse zugesprochen wird, kritisch zu hinterfragen. Widerstand bedeutet, etwas gegen etwas zu unternehmen. Der Bezugspunkt des Handelns ist also das Böse selbst. Dadurch bekommt aber das Böse, das also, wogegen ich Widerstand leiste, eine sehr große Macht. Es steht schließlich im Zentrum der Aufmerksamkeit.
Vor einiger Zeit war ich in Warschau und besuchte dort das Denkmal für den Aufstand im Getto, ein mutiges Aufbäumen der Jüdinnen und Juden gegen die Nazi-Herrschaft. Mehrere zehntausend Menschen starben in jenen Tagen. Vor dem Denkmal, das diesen Aufstand würdigte, fühlte ich mich unbehaglich. Ich kann natürlich gut verstehen, dass dieser Aufstand symbolisch wichtig ist für die jüdische Erinnerung an den Holocaust. Ich sah die muskulösen Arme der Männer und die kämpferischen Gesichter der Frauen, die auf diesem Denkmal abgebildet sind, und spürte auch in mir eine tiefe Bewunderung für ihren Mut. Aber ich bin mir nicht sicher, ob es gegen das Böse hilft.
Kurz zuvor hatte ich die Tagebücher von Etty Hillesum gelesen, einer holländischen Jüdin, die sehr lange mit dem Wissen lebte, dass ihr wahrscheinlich ein Schicksal in einem Nazi-Konzentrationslager bevorsteht. In ihren Tagebüchern schildert sie, wie sie sich mental und physisch auf diese Zeit vorbereitet. Worauf es ihr im Angesicht des Bösen vor allem ankam war, unbedingt zu vermeiden, dass sie selbst von diesem Bösen infiziert wird, dass es in ihre Seele eindringt und sie selbst damit zur Plattform wird, mit deren Hilfe sich das Böse noch weiter ausbreiten kann. Sie leistete keinerlei Widerstand, sie verweigerte sich aber auch konsequent jedem Kollaborationsangebot und schlug damit jede Möglichkeit in den Wind, ihr eigenes Leben vielleicht zu retten.
Das Handeln von Etty Hillesum unterscheidet sich ganz deutlich von dem der Jüdinnen und Juden, die den Aufstand im Warschauer Getto organisiert haben. Es geht mir überhaupt nicht darum, zu entscheiden, welches Handeln besser oder schlechter, richtig oder falsch ist. Ein solches Urteil steht mir auch gar nicht zu. Was mich beschäftigt ist vielmehr der Umstand, dass in der Rückschau beide Haltungen unterschiedslos als »Widerstand« bezeichnet werden. Wichtig scheint nur zu sein, dass sie sich gegen einen gemeinsamen Gegner, das Böse eben, richten, und alle Unterschiede im Denken von Etty Hillesum oder den Widerstandskämpfern und –kämpferinnen des Warschauer Gettos werden bedeutungslos.
Mir scheint es aber wichtig zu sein, diesen Unterschied zwischen aktivem Kampf gegen etwas und der Weigerung, bei etwas mitzumachen, zu sehen und ernst zu nehmen. Es ist durchaus nicht unerheblich, ob ich etwas bekämpfe (und also den Fokus des eigenen Handelns auf den Gegner, das Böse lege) oder ob ich mich weigere, mich an etwas zu beteiligen (und also der Fokus bei mir selbst bleibt). Ein Unterschied, den Annarosa Buttarelli so ausdrückt: »Das Böse ist nicht einfach ein Problem, das zu lösen wäre, sondern ein Mysterium, das wir ertragen müssen.«
Ertragen? Das ist für unsere Ohren ein ganz schlimmes Wort. Wer das Böse erträgt, gilt automatisch als feige. Gerade die linke, revolutionäre Tradition hat das immer herausgestellt. Sicher, es stimmt, manche leisten dem Bösen bloß deshalb keinen Widerstand, weil sie Angst haben und feige sind. Aber für Etty Hillesum zum Beispiel trifft das mit Sicherheit nicht zu. Ich denke auch an das ideengeschichtliche Schicksal einer literarischen Figur, die viel mit Hillesum gemeinsam hat: »Onkel Tom«, die Romanfigur in einem Buch von Harriet Beecher Stowe. Es ist eine Anklage gegen die Sklaverei in den USA, geschrieben Mitte des 19. Jahrhunderts. Die Titelfigur, der Sklave Tom, erträgt das Böse, er leistet seinen Herren keinen Widerstand. Deshalb gilt die Bezeichnung »Onkel Tom« unter Schwarzen in den USA heute als Schimpfwort. Dabei ist er von Beecher-Stowe durchaus als Held angelegt. Denn er achtet ebenso wie Hillesum sehr darauf, dass seine Seele durch das Böse nicht in Mitleidenschaft gezogen wird. Er weigert sich zum Beispiel, anderen Sklavinnen und Sklaven Befehle zu erteilen oder sie zu quälen. Er macht sich nicht zum Handlanger, egal wie hoch die Strafe ist. Er weigert sich aber auch, gegen seine Herren zu kämpfen, also seinerseits anderen Menschen Leid zuzufügen, und seien es auch die »Bösen«.
Onkel Tom ist seine Seele wichtiger als die Freiheit. Er weiß, dass er im Recht ist, aber er besteht nicht darauf. Er versucht, ganz ähnlich wie Etty Hillesum, sich angesichts des Bösen, dessen Opfer er ist, nicht anstecken zu lassen.
Es kann natürlich Situationen geben, in denen dieses Ertragen unmöglich wird, in denen Widerstand nötig scheint. Doch wer Widerstand leistet, folgt damit vielleicht einer Notwendigkeit, ist aber dennoch nicht im Recht. Dies ist jedenfalls die Ethik von Dietrich Bonhoeffer, jenem evangelischen Theologen, der sich am Widerstand einiger Wehrmachtsoffiziere gegen Hitler beteiligte und sogar so weit ging, Selbstmordattentäter zu segnen. Bonhoeffer litt sehr unter diesem Dilemma, und er machte es sich keineswegs so leicht wie diejenigen, die ihn posthum als Helden feiern. Bonhoeffer kommt zu dem Schluss, dass es in einer konkreten Situation zwar sinnvoll erscheinen, ja notwendig sein kann, aktiven Widerstand zu leisten, etwa sich an einem Attentat zu beteiligen. Dies sei aber keinesfalls eine moralisch richtige Handlung, sondern man wird in dabei zwangsläufig selbst zum Sünder oder zur Sünderin. Auch im Umgang mit dem Bösen rechtfertigt der Zweck die Mittel nicht, und wer zu ihnen greift, kann sich nicht auf die Moral berufen, sondern muss selbst mit eigener Verantwortung dafür gerade stehen.
Annarosa Buttarelli ist der Meinung, dass, wenn man mit dem Bösen konfrontiert ist, Passivität mehr erreichen kann als der gute Wille. Da das Böse unabhängig davon ist, was wir ihm entgegensetzen oder wie wir darauf reagieren, bleibt uns nur eines: Gar nicht reagieren. Sie schreibt: »Mir scheint, dass das Böse sogar fähig dazu ist, sich selbst zu zerstören, wenn man ihm nichts anderes als sich selbst anbietet.« Oder anders: Das Böse wird sterben, wenn wir ihm nicht länger etwas Gutes anbieten, das es am Leben hält. Denn hier »zeigt seine Unabhängigkeit gleichzeitig seine Bezogenheit: Das Böse braucht das Gute außerhalb und das Vergnügen innerhalb seiner selbst, um weiter existieren zu können.« Wenn die Guten sich nicht über die Bösen ärgern, macht das Bösesein keinen Spaß.
Nicht auf das Böse reagieren, passiv bleiben und keinen Widerstand leisten – das ist jedoch nicht gleichbedeutend mit Nichtstun. Annarosa Buttarelli zeigt drei Möglichkeiten auf. Die erste ist eine traditionelle weibliche Weise, gewissermaßen auf »passive« Art Politik zu machen: der Fluch. Verfluchen heißt auf italienisch »maledire«, also das Böse sagen, das Böse nenennen . Wenn ich etwas verfluche, also sage: »Das ist böse«, dann ist dies keine moralische Verurteilung, es heißt nicht, dass ich dem Bösen Unglück wünsche, sondern ich spreche eher eine Art Prophezeiung aus. Buttarelli nennt folgendes Beispiel: »Verfluchen bedeutet, das Böse nicht zu verschleiern oder schönzureden, und sich gleichzeitig doch nicht in den Kreislauf und die Logik der Anhäufung von Bösen zu begeben. Es ist auch eine mütterliche Praxis. Wie oft hat sie es gesagt: ‚Wenn du nicht aufpasst, wirst du dir noch wehtun.’ Ja, und so war es dann auch. Sie wollte uns damit nichts Böses. Aber sie wusste, dass das Böse geschehen kann, dass wir selbst es sind, die ihm Einlass in unser Leben gewähren, und sie wies uns darauf hin, was manchmal etwas nützte, manchmal aber auch nicht. Wenn nicht, dann ist Weinen ebenfalls eine Möglichkeit, die Existenz des Bösen sichtbar zu machen, ohne sich aber von ihm anstecken zu lassen.«
Eine andere Weise, mit dem Bösen umzugehen, ist das Gebet – eine die klassische passiv-aktive Handlung. Ein gutes Beispiel sind Trauerklagen, wenn jemand gestorben ist. Beten heißt in diesem Fall, dass ich bei dem, was passiert, also dem Bösen, anwesend bleibe, ohne aber deshalb zu wünschen, dass es nicht geschehen soll. Ich trauere darüber, dass jemand gestorben ist, ohne mir zu wünschen, dass er ewig leben möge. Dies gilt als eine paradoxe Haltung – wir sind, rationalistisch gepolt, gewohnt, darin eine Alternative zu sehen: Wenn ich etwas beklage, dann muss ich doch auch versuchen, es zu ändern! Ich kann aber durchaus etwas ablehnen und betrauern, ohne meinen Willen daran zu setzen, es zu verändern. Beten hilft, das Böse zu überleben, ohne sich davon anstecken zu lassen – und auf diese Weise entzieht es dem Bösen die Macht, sich überall hin auszubreiten.
Der dritte Vorschlag, den Buttarelli macht, ist der, dem Bösen gegenüber nichts zu fragen und nichts zu fordern. Denn egal wie lange man das Böse befragt und erforscht, man wird darin keinen Sinn finden, denn es hat keinen. Vielmehr eröffnet die Frage: »Warum?« sogleich einen Diskurs über Rechte und Rechtfertigungen, über Opfer und Täter, über Schuldner und Gläubiger, man beginnt zu verhandeln und zu relativieren, begibt sich also letztlich zwangsläufig auf eine gemeinsame Ebene mit dem Bösen.
Die Frage: »Warum geschieht Böses?« führt zu nichts, sondern hält uns nur in der Beziehung zum Bösen fest, was sich auch bei Frauen zeigt, die von ihren Männern geschlagen und misshandelt werden und die ja ebenfalls immer wieder genau diese Frage an den Übeltäter stellen: »Warum tust du mir Böses?« Wie Therapeutinnen aber wissen, ist diese Frage sinnlos und bewirkt lediglich, dass die Bindung an diese Männer bestehen bleibt. Sinnlos ist die Frage deshalb, weil es nur eine mögliche Antwort darauf gibt, die aber niemals gehört und eingestanden werden kann, weil sie die Beziehung sofort beenden würde: »Weil ich dich nicht liebe.« Wo keine Liebe ist, keine Bindung, kein gemeinsames Ziel – also da, wo das Böse eben ist – ist es sinnlos, Fragen zu stellen, nach Gründen und Erklärungen zu suchen, Forderungen zu erheben. Es gibt – neben Verfluchen und Beten – nur eine Möglichkeit, und es ist dieselbe wie bei den geschlagenen und misshandelten Frauen: Nichts fragen, nichts fordern, sondern weggehen.
Dies ist im Übrigen eine ganz ähnliche Sichtweise, wie Hannah Arendt sie vorgeschlagen hat, die nämlich der Meinung war, »dass unsere Entscheidungen über Recht und Unrecht von der Wahl unserer Gesellschaft, von der Wahl derjenigen, mit denen wir unser Leben zu verbringen wünschen, abhängen werden.« Das heißt: Ob ich ein guter oder ein böser Mensch bin, das hängt nicht davon ab, ob ich abstrakte ethische Maßstäbe befolge, ob ich einer universalen Moral gemäß lebe und etwa einem kategorischen Imperativ à la Kant folge. Denn der Mensch tendiert unweigerlich dazu – und wenn wir ehrlich sind, müssen wir das an uns selbst zugeben – das für richtig zu halten, was die Menschen in seiner Umgebung für richtig halten. Es ist extrem schwierig und praktisch unmöglich, alleine gegen den Strom zu schwimmen, auch wenn uns die Hollywood-Helden das immer suggerieren. Die einzige Möglichkeit, nicht böse zu werden ist, die Gesellschaft böser Menschen zu meiden, die Beziehung zu ihnen aufzukündigen.
Eine Moral, die sich darauf stützt, dass einsame Helden sich dem Trend zum Bösen mutig entgegenstellen, ihm Widerstand leisten, und so weiter, ist zum Scheitern verurteilt, weil das immer nur in Einzelfällen gelingen wird. Vielmehr muss – und auf diesen Nenner könnte man die »weibliche« Philosophie des Bösen vielleicht bringen – jede Ethik und Moral damit rechnen, dass Menschen im Allgemeinen Mitläufer sind. Wir sind untrennbar mit unserer Umwelt und unseren Mitmenschen verwoben und können uns nicht von ihrer Beeinflussung »frei« machen. Diese Bezogenheit der Menschen müssen wir also berücksichtigen, wenn wir eine Ethik erarbeiten.
Oder, um es in den Worten von Hannah Arendt zu sagen: »Diese Gesellschaft wird durch Denken in Beispielen ausgewählt, in Beispielen von toten oder lebenden wirklichen oder fiktiven Personen und in Beispielen von vergangenen oder gegenwärtigen Ereignissen. In dem unwahrscheinlichen Fall, dass jemand daherkommen könnte und uns erzählen, er würde gerne mit Ritter Blaubart zusammen sein, ihn sich also zum Beispiel wählen, ist das einzige, was wir tun können, dafür zu sorgen, dass er niemals in unsere Nähe gelangt.« Und sie weist noch auf etwas anderes hin, wenn sie fortfährt: »Doch ist, so fürchte ich, die Wahrscheinlichkeit weitaus größer, dass jemand kommt und uns sagt, es sei ihm egal, jede Gesellschaft wäre ihm gut genug. Diese Indifferenz stellt, moralisch und politisch gesprochen, die größte Gefahr dar, auch wenn sie weit verbreitet ist. Und damit verbunden und nur ein bisschen weniger gefährlich ist eine andere gängige moderne Erscheinung: die häufig anzutreffende Tendenz, das Urteilen überhaupt zu verweigern. Aus dem Unwillen oder der Unfähigkeit, seine Beispiele und seinen Umgang zu wählen, und dem Unwillen oder der Unfähigkeit, durch Urteil zu Anderen in Beziehung zu treten, entstehen die wirklichen »skandala«, die wirklichen Stolpersteine, welche menschliche Macht nicht beseitigen kann, weil sie nicht von menschlichen oder menschlich verständlichen Motiven verursacht wurden. Darin liegt der Horror des Bösen und zugleich seine Banalität.«
Mit diesem Appell zum Urteilen sind wie wieder bei Eva und Adam: Wir haben als Menschen die Fähigkeit, gut und böse zu unterscheiden, aber wir müssen sie auch anwenden, und zwar im Hier und Jetzt, in unseren alltäglichen Entscheidungen. Wir können das Böse nicht in theoretischen und abstrakten Konzepten definieren, ebenso wenig wie das Gute, aber das heißt nicht, dass wir es nicht erkennen können, von Fall zu Fall, in jeder konkreten Situation. Auch wenn uns dieses Denken im Konkreten ungewohnt erscheint, weil es der westlichen Philosophie entgegenläuft. »Eine Politik, die mit dem Negativen rechnet, ohne sich auf die gleiche Ebene mit dem Teufel zu begeben, können wir uns nicht leicht vorstellen«, schreibt Diana Sartori, »vielleicht weil die Vorstellung sich nicht auf das stützt, was man nur von Mal zu Mal tun kann, wirklich alleine wir, in diesem Moment, in diesem Kontext, an diesem kleinen Punkt.«
Ebenso wie das Böse ist auch das Gute nicht ein abstraktes Etwas, das wir durch logisches Nachdenken zu fassen kriegen können, sondern eine Praxis im Alltag. Oder, wie Diana Sartori es formuliert: »Das Gute wiederholt sich niemals auf dieselbe Art und Weise, es geschieht einmalig in der Zufälligkeit, der Kontingenz, der bestimmten Gelegenheit, die sich bietet, um gut zu sein. Deshalb ist das Gute nicht irgend etwas, das sein müsste, sondern ein Sein, ein Da-Sein im Realen, genau hier, genau wir in Fleisch und Blut. Wir sind es, lebende Vermittlungen des Sinns und der Wirklichkeit, des Guten und des Bösen.«
Workshop auf Einladung des Frauenring Ansbach, 13.3.2009