Dabei sein ist nicht alles. Was nach 100 Jahren Frauenwahlrecht noch zu tun bleibt
Vortrag am 18.1.2019 beim Symposium »Land-Frauen-Arbeit in der Weimarer Republik« im LVR-Freilichtmuseum Lindlar
Dieser Vortrag beschäftigt sich nicht speziell mit der Situation von Frauen auf dem Land, sondern allgemein mit der Frage des Frauenwahlrechts und der Frage, was hat es gebracht. Weil: Dabei sein ist eben nicht alles.
Das 100. Jubiläum des Frauenwahlrechts wird sehr groß begangen. Diese Herausstellung des Frauenwahlrechts und die Wertschätzung gegenüber diesem Jubiläum ist neu. Ich bin seit mehreren Jahrzehnten als Politikwissenschaftlerin mit der Frage der weiblichen politischen Ideengeschichte beschäftigt. Der Fokus liegt dabei auf den Fragen „Wie denken Frauen Politik?“ und „Was verstehen Frauen unter Politik?“, und zwar sowohl heute in politischen Bewegungen, im Feminismus und in der Frauenbewegung, als auch historisch mit der Frage „Was haben Frauen geschrieben über Politik?“.
Es gab bisher zwei Arten, sich diesem Thema zu nähern. Die erste war, dem Frauenwahlrecht keinen hohen Stellenwert einzuräumen. In meiner Ausbildung, sowohl in der Schule als auch im Studium der Politikwissenschaft, hat das Thema Frauenwahlrecht keine große Rolle gespielt. Vielmehr wurde die Französische Revolution als der wesentliche Einschnitt gelehrt, mit dem die Gleichheit aller Menschen ideengeschichtlich festgeschrieben wurde. Dass diese Gleichheit aller Menschen gleichzeitig die Ungleichheit der Frauen manifestiert hat, darüber wurde nicht gesprochen. Allerdings waren damals ja nur alle Männer gleich, nicht die Frauen. Während es vor der französischen Revolution sehr viele Unterschiede gesellschaftlicher Art gab z.B. auch zwischen Ständen und zwischen bestimmten Berufen, gab es jetzt nur noch eine wesentliche Unterscheidung, die zwischen Frauen und Männern: Männer sind gleich, Frauen nicht. Dieser Aspekt wurde in der Schule nie berücksichtigt, weit wichtiger wiegt dort die vermeintliche Einführung der Gleichheit. Die Tatsache, dass dies die Ungleichheit der Frauen bedeutete, mussten sich die Frauen und Mädchen selber zurechtdenken.
Das Narrativ ist, dass das Frauenwahlrecht damals quasi vergessen worden sei. Demnach wurde dieser Fehler mit der Emanzipation Anfang des 20. Jahrhundert dann korrigiert, das Versäumnis nachgeholt. In diesem Narrativ sei das „damals nun mal so gewesen“. Größtenteils wird über die Situation von Frauen in der Vergangenheit oft so geredet, nach dem Motto: „Ja, damals war das halt so, aber das war nicht so böse gemeint. Die Leute waren damals halt noch nicht so weit, die kamen noch nicht auf die Idee“.
Das zweite Narrativ, eine andere Art das Frauenwahlrecht anzuschauen, ist das feministische, das dann in den 70er, 80er, 90er Jahren aufgekommen ist. Aus dieser Perspektive werden die Vorkämpferinnen für das Frauenwahlrecht als Heldinnen gefeiert. Als Beispiel hierfür sind unter anderem die Filme über Alice Paul, die Suffragetten oder die vor zwei Jahren erschienene „Göttliche Ordnung“ über die Einführung des Frauenwahlrechts in der Schweiz zu nennen. Das heißt, die Frauenbewegung und die Feministinnen haben sich über die historische Frauenforschung dieses Thema angeeignet. Sie haben gesagt, das ist unsere Geschichte, das ist eine tolle Geschichte, und die feiern wir jetzt.
Während im ersten Narrativ das Frauenwahlrecht etwas Nebensächliches ist, ist es in dem zweiten Narrativ etwas ganz Tolles und Wichtiges, das wir endlich erkämpft haben und worauf wir jetzt stolz sein können.
Wenn man sich jedoch diese beiden Narrative anschaut, bleibt eine wichtige Frage offen, nämlich: Was ist am ursprünglichen Verständnis von Demokratie eigentlich falsch gewesen, sodass es überhaupt möglich war, die Frauen zu vergessen? Warum konnte es überhaupt dazu kommen? Und, was man dann bei einem Jubiläum für die Zukunft fragen müsste: Ist vielleicht immer noch etwas falsch daran? Ist vielleicht das, was ursprünglich falsch war und zum Ausschluss der Frauen geführt hat, auch heute noch falsch? Ist das Problem wirklich damit gelöst, dass Frauen auch wählen dürfen?
Grundsätzlich muss darüber nachgedacht werden, ob das Wahlrecht für Frauen überhaupt ausreicht und nicht nur Probleme der Demokratie zuschüttet.
Wirft man den Blick darauf, wie sich die Beteiligung der Frauen an der Politik, an der Parlamentspolitik und an der Parteienpolitik entwickelt hat, muss man sagen, dass nach 100 Jahren immer noch nicht alles im Ruder ist. Nur 30 Prozent Frauen lassen sich unter den Abgeordneten im Bundestag finden. Das sind im aktuellen Bundestag wieder weniger Frauen, als in den Legislaturperioden davor.
Die Gleichberechtigung der Frauen wird häufig so erzählt, als hätte die Entwicklung in einer dunklen Vorzeit angefangen, in der die Frauen fürchterlich unterdrückt waren. Im Lauf der Zeit habe sich die Situation der Frauen dann kontinuierlich verbessert, bis sie in einer glorreichen Zukunft endlich bei einer exakten Gleichberechtigung von 50 Prozent Frauenanteil überall ankommt.
Dieser Weg gilt vielen als selbstverständlich, die einzige Frage, die dabei gestellt wird, ist höchstens die nach der Dauer – also wie lange wird es dauern, bis Frauen endgültig gleichberechtigt sind? Das ist die bestimmende Zahl in den Gleichstellungsreporten, die regelmäßig angefertigt werden: Vielleicht wird es noch 500 Jahre dauern? Nicht hinterfragt wird die Annahme, dass die Entwicklung auf jeden Fall in diese Richtung gehen wird.
Aber ist das sicher? Woher wissen wir, dass es sich nicht auch mal wieder rückläufig entwickelt? Niemand kann davon ausgehen, dass das Verhältnis der Geschlechter irgendwann bei der Gleichstellung ankommt. In vielen Ländern gibt es antifeministische Rückschläge. Dieses Phänomen umzingelt uns – Ungarn, Russland, USA oder Türkei.
Es zeigt sich also, dass auch 100 Jahre nach dem Frauenwahrecht Engagement gefragt ist. Einzig an die Heldinnen zu denken, die das Wahlrecht erreicht haben und die nächsten 100, 500 bis 1000 Jahre abzuwarten, bis es automatisch zur Gleichberechtigung kommt, wird nicht funktionieren. Vielmehr müssen wir uns überlegen, warum und woran hapert es, wo sind die Probleme zu finden?
Es gab in den vergangenen Monaten im historischen Museum in Frankfurt eine Ausstellung über 100 Jahre Frauenwahlrecht. Heute stellen sich viele die Frage, wie die Gesellschaft auf die Idee kam, sich über das Wahlrecht für Frauen zu streiten, schließlich ist das Recht zu wählen heute völlig selbstverständlich. Heute kann sich kaum noch jemand vorstellen, wieso dieses Recht erst erstritten werden musste.
Gerade daher war die Ausstellung interessant, weil es auch Ausstellungsstücke gab, die die Antiwahlrechtsbewegung thematisierten. Vor allem wird dort eines deutlich: Der Gedanke, Männer hätten den Frauen zu große Emotionalität oder fehlende Vernunft vorgeworfen und deshalb das Wahlrecht verwehrt, ist falsch. Diese Argumente spielten keine große Rolle bei den Frauenwahlrechtsgegnern. Das Hauptargument war die Frage: Wenn die Frauen Politik machen, wer kümmert sich dann um die Kinder? Das ist eine Frage, die wir heute stellen. Die Frauenbewegungen in den 20er Jahren gingen davon aus, dass Frauen parallel zur Kindererziehung aktiv Politik machen, also „wie Männer“ in der Öffentlichkeit aktiv sein könnten. Sie spielten die Doppelbelastung herunter. Inzwischen sehen wir jedoch, dass man Kinder und Haushalt nicht einfach „nebenbei“ erledigen kann.
Das zweite, weniger bekannte Argument war: Wieso sollen Frauen wählen, das ändert doch nichts, denn Frauen wählen schließlich sowieso dasselbe wie ihre Männer! Das ist ein politikwissenschaftlich interessantes Argument, weil weitgehend stimmt. Es ist tatsächlich so, dass sich verschiedene Bevölkerungsgruppen im Wahlverhalten deutlich unterscheiden. Arbeiter wählen anders als Bürger oder Beamte, junge Leute wählen anders als alte Leute, und auch das Wahlverhalten von Land und Stadt unterscheidet sich.
Das Wahlverhalten von Frauen und Männern hingegen unterscheidet sich kaum. Frauen und Männer desselben sozialen Milieus wählen tatsächlich meist dasselbe. Das Hauptmotiv, warum und wen eine Person wählt, liegt eher am sozialen Umfeld und nicht am Geschlecht.
Es gibt aber interessante Ausnahmen bei extremen Parteien, vor allem bei rechtsradikalen Parteien. Das heißt, das Geschlechterverhältnis der Wählerschaft der Grünen, der FDP der CDU und der SPD ist relativ ausgeglichen. Bei den Grünen gibt es einen Frauenüberschuss, bei der SPD einen Männerüberschuss, diese Überschüsse sind jedoch minimal. Bei der AfD gibt es hingegen einen sehr großen Männerüberschuss. Rechtsextreme Parteien werden tatsächlich mehr von Männern, als von Frauen gewählt.
Das hat sich auch bei der vergangenen Wahl in den USA deutlich gezeigt, bei der Frage, wer hat Donald Trump gewählt. Das ist in Deutschland in den Medien vor allem hinsichtlich der großen weiblichen Wählerschaft diskutiert worden. Und tatsächlich, unter den weißen Frauen hat die Mehrheit Trump gewählt, immerhin 53 Prozent. Im Gegensatz dazu haben aber von den weißen Männern 64 Prozent Trump gewählt, das sind über 10 Prozentpunkte Unterschied, und das ist sehr ungewöhnlich.
Trump wurde also von den Weißen gewählt, und von den Schwarzen und von den Latinos nicht – und zwar geschlechtsunabhängig. Gleichzeitig haben aber in allen diesen Gruppen deutlich mehr Männer als Frauen Trump gewählt. Das heißt, das Argument, dass Frauen dasselbe wählen wie ihre Männer, stimmt im Großen und Ganzen, im Detail dann aber doch nicht. Das Wahlergebnis wird nicht grundsätzlich von den Stimmen der Frauen beeinflusst. Allerdings: von den Stimmen von Männer auch nicht.
Es gab in den vergangenen Jahren immer wieder Versuche, eine feministische Partei zu gründen. Es gab auch die Frage: Warum wählen Frauen denn nicht einfach Leute oder eine Partei, die Politik in ihrem Sinne machen? Aber nach diesem Prinzip funktionieren Geschlechterdifferenzen eben nicht. Menschen sind nicht in erster Linie Mann oder Frau, sondern sie definieren sich in erster Linie über ihre Communities.
Warum ist es also wichtig, dass Frauen wählen? Es ist zunächst mal eine prinzipielle Frage, damit symbolisch klar ist, dass die Politik von Frauen und Männern gemacht wird. Und nun, 100 Jahre nach der Einführung des Frauenwahlrechts, muss festgestellt werden, dass sich die Frauen und der Parlamentarismus nicht gut miteinander verstehen. Es gibt eine gegenseitige Antipathie.
In den 20er Jahren als das Frauenwahlrecht noch ganz neu war und Geschlechterrollen noch sehr starr, ist anzunehmen, dass viele Frauen damals noch von sozialen Gewohnheiten aus der Politik zurückgehalten wurden. Frauen waren nicht gewohnt, öffentlich zu reden, waren nicht so gut ausgebildet, sie waren nicht gewöhnt Männern ins Wort zu fallen und sie hatten keine Erfahrung darin, ihre Interessen in der Öffentlichkeit zu vertreten. All diese Sachen waren neu in den 20er Jahren.
Aber heute können wir nicht mehr sagen, dass diese Dinge für Frauen neu sind. Viele der Frauen, die heute Mitte 50 sind, haben sich auch schon als Schülerin nicht mehr benachteiligt gefühlt. Natürlich lassen sich noch strukturelle Ungerechtigkeiten feststellen. Aber durch Sitten und Gebräuche lassen sich Frauen kaum noch aufhalten. In anderen öffentlichen Bereichen engagieren sich Frauen genauso stark wie Männer. Sie sind nur in bestimmten Institutionen nicht so stark vertreten. Das liegt heute nicht mehr nur an althergebrachten Geschlechterstereotypen. Es steckt viel mehr dahinter, und damit steht die Frage im Raum, wie dies prinzipiell geändert werden kann.
Der Parlamentarismus als politisches System ist offenbar mit Frauen nicht in gleicher Weise kompatibel wie mit Männern. Diese Differenzen werden von einer Quote nur verschleiert, aber nicht gelöst. Eine Frauenquote ist sozusagen wie Cortison: Man stirbt davon zwar nicht gleich, aber eine Heilung wird auch nicht bewerkstelligt, es werden nur die Symptome ein wenig gelindert, aber mit schweren Nebenwirkungen. Die schlimmer werden, je länger man das Medikament nimmt.
Momentan steht der Vorschlag der Parität im Raum, also einer gesetzlich vorgeschriebenen paritätischen Aufstellung. So liegt es nicht mehr in der Hand der Parteien, Quoten herzustellen, sondern mit der Parität wird festgeschrieben, dass die Gremien fifty-fifty besetzt werden müssen. Das ist vor allem deshalb ein interessanter Gedanke, weil so die Verantwortung von den Frauen weggenommen wird. Sie mussten sich ja bislang immer anpassen, die Institutionen haben sich kaum verändert. Das hatte absurde Auswirkungen, zum Beispiel lassen sich manche Frauen aufgrund der Quote darauf ein, zu kandidieren, während sie gleichzeitig hoffen, nicht gewählt zu werden. Vor allem im kommunalen Bereich wird dieses Problem deutlich. In den Kommunalwahlen ist die Frauenbeteiligung noch deutlich geringer als bei Bundestagswahlen. Die 30 Prozent weiblichen Abgeordneten im Bundestag sind im Vergleich zu vielen Kommunalparlamenten oder Landtagen viel. Je kommunaler oder dezentraler es wird, desto schlimmer ist die Männerdominanz. Und da kommt es eben vor, dass Frauen nur deshalb aufgestellt werden, um die Quoten zu erfüllen. Aber das ist weibliche Energieverschwendung. Die Energie, die Frauen hätte, um etwas zu bewegen oder zu tun, was sie selbst möchten und woran ihnen gelegen ist, wird stattdessen dafür verschwendet, dass sie pro forma auf einer Liste kandidieren, obwohl sie gar nicht gewählt werden wollen.
Eine solche Quotenregelung ist nicht sinnvoll ist. Gleichzeitig dürfen Parlamentarismus und die Parteien aber auch nicht wieder vermännlichen. Und das würde sicher geschehen, wenn man nicht gegensteuert.
Der Schwung, den die Gleichstellungsbewegung in den 80er Jahren hatte, ist inzwischen erlahmt. In den 80er Jahren gab es überall „die erste Frau“, besonders wurden auch die ersten Bürgermeisterinnen gefeiert. Das war toll, und viele Frauen habe geschaut, wer könnte kandidieren, um die erste hier, die erste da zu werden, um Kandidatinnen zu finden und zu unterstützen und da hinzubringen und das zu feiern, wenn sie es wurde. Aber während die erste Bürgermeisterin noch etwas Tolles ist, lockt die Fünfte keinen Hund hinterm Ofen mehr vor. Und dann tritt die Frage in den Vordergrund: Warum will ich denn überhaupt Bürgermeisterin sein? Viele Frauen fragen sich, was sie davon hätten, die fünfte Bürgermeisterin zu sein.
Es wird deutlich, dass wir in unserer Kultur keine wirklichen Anreize für Frauen haben, solche Ämter bekleiden zu wollen. Und der Grund ist, dass diese politischen Positionen mit symbolischer Männlichkeit verknüpft sind. Ein Mann, der Bürgermeister ist, ist ein besonders toller Mann. Er kann mit dem Amt zugleich seine Männlichkeit erhöhen. Es handelt sich um einen Supermann, der zudem Bürgermeister ist. Aber eine Frau, die Bürgermeisterin ist, erhöht damit nicht ihre Weiblichkeit. Ganz im Gegenteil setzt sie ihre Weiblichkeit womöglich aufs Spiel. Denn das Amt als solches ist männlich konnotiert.
Eine Frau ist Bürgermeister, obwohl sie eine Frau ist, und ein Mann ist Bürgermeister, weil er ein toller Mann ist. Solange diese Differenz besteht und politische Ämter mit symbolischer und imaginärer Männlichkeit verknüpft werden, sind sie logischerweise für Frauen weniger attraktiv als für Männer. Natürlich sind diese Ämter teilweise durchaus für Frauen attraktiv. In Ämtern können Frauen entscheiden, haben einen Etat, können Dinge unterschreiben und etwas tun, das sind alles positive Aspekte eines politischen Amtes auch für Frauen. Alles andere jedoch – dass man als Amtsinhaber der große Zampano ist, dass man dauernd auf Empfänge eingeladen wird, dass man allen Leuten die Hand schütteln darf und von allen bewundert wird und so weiter – das sind erfahrungsgemäß keine Sachen, die Frauen als Vorteil empfinden, sondern eher als lästige Begleitumstände, die man hinnehmen muss, wenn man ein solches Amt bekleidet. Politische Ämter haben, so wie sie momentan strukturiert sind, vieles von dem, was Männer haben wollen: Männer wollen oft nicht nur entscheiden, sie wollen das Bürgermeisteramt, um Bürgermeister zu sein. Frauen hingegen müssen immer ausbalancieren zwischen den Vor- und Nachteilen, die ein solches Amt hat.
Natürlich hat Angela Merkel in diesem Bereich viel bewegt. Sie ist ein Rollenmodell von einer Frau, die ein politisches Amt ohne männlichen Habitus ausfüllt. Sie ist ein sehr großes Vorbild und gleichzeitig auch nur eine einzige und sie hat die Latte hoch gehängt. Sie hat bekräftigt, dass eine Frau deutlich besser sein muss als jeder Mann, der einen solchen Posten innehat. Der Appell an die Frauen darf aber nicht lauten, dass wir jetzt alle so fleißig und cool und ausdauernd wie Angela Merkel zu werden. Es ist toll, dass es solche Frauen gibt, und jede, die das ist, sollten wir unterstützen. Aber es ist kein allgemeines Maß. Wir brauchen vielmehr Wege, wie auch mittelmäßige Frauen in politische Ämter kommen können, genau wie so viele mittelmäßige Männer in diesen Ämtern sind. Das funktioniert aber nur, wenn die Ämter, die Strukturen und auch die verknüpfte symbolische Bedeutung verändert werden.
Beispielhaft dafür ist der Umgang mit Müttern. Im Sommer 2018 ist eine Abgeordnete der Grünen aus dem Landtag geworfen worden, weil sie ihr Baby dabeihatte. Das Baby war ganz klein und der Babysitter war abgesprungen. Die Abgeordnete musste eine Rede im Landtag halten und hat ihr Baby mitgenommen. Das Baby hat nicht gestört, aber die Ordnung des Landtages sieht vor, dass keine anderen Personen anwesend sein dürfen, als die Abgeordneten. Und wenn man es ganz genau nimmt, ist ein Baby eben auch eine Person und verboten. Deswegen wurde die Abgeordnete aus dem Landtag geworfen, was einen großen Skandal auslöste. Das Gesetz wird nun geändert, es ist ja auch offensichtlich absurd. Es bleibt allerdings die Frage, warum dieses Problem eigentlich erst jetzt aufgetreten ist, obwohl das Frauenwahlrecht doch schon 100 Jahre alt ist? Warum hat es 100 Jahre gedauert bis es aufgefallen ist, dass es auch Babys gibt und dass die irgendwo hinmüssen, wenn der Babysitter krank ist?
Es entsteht also der Eindruck, dass sich Frauen immer zweimal emanzipieren müssen. Einmal müssen sie sich emanzipieren, damit sie überhaupt gleichgestellt sind. Und dann müssen sie sich nochmal in einer zweiten Etappe emanzipieren, damit sie auch im Fall, dass sie Kinder haben, immer noch gleichgestellt sind. Denn genau genommen war die Gleichstellung bisher tatsächlich an die Bedingung geknüpft, keine Kinder zu haben. Bis in die 50er/60er Jahre war das explizit so: Das Beamtinnengesetz in Deutschland hat damals festgehalten, dass Beamtinnen in dem Moment, indem sie heiraten, automatisch aus dem Dienst ausscheiden – denn dann könnten sie vielleicht schwanger werden. Das wurde zwar irgendwann geändert, aber es ist immer noch unausgesprochen so, dass Gleichstellung nur geht, wenn keine Kinder da sind oder diese irgendwie wegorganisiert werden. Dass man die Kinder hat und das auch noch toll vor sich her trägt, geht nur, wenn man Siegmar Gabriel ist und ein Mann. Dann wird man dafür gefeiert. Aber wenn man eine Frau ist und dann sagt, ich kann heute nicht, mein Kind ist da, dann geht das nicht.
Hier zeigt sich wie groß die Bereitschaft der Frauen ist, sich anzupassen. Wie lange haben sie erzählt bekommen, dass sie sich den Spielregeln anpassen müssen, wenn sie mitspielen wollen. Und das haben sie gemacht. Allerdings müssen wir aufpassen, dass wir das Problem nicht nur auf die „Kinderfrage“ schieben, denn das kann auch eine Ablenkung sein. Es ist nämlich auffällig, dass in letzter Zeit immer, wenn an unseren Strukturen Kritik geäußert wird, das Argument kommt, das läge an der „Vereinbarkeit“. Frauen könnten nicht, weil sie mit Kindern und Haushalt zu beschäftigt seien. Eine Verschleierung ist das deshalb, weil es im Umkehrschluss bedeutet, dass wenn das „Auf-die-Kinder-aufpassen-Problem“ erst einmal gelöst ist, auch die gegenseitige Abneigung von Frauen und Institutionen aufhören würde. Aber die Abwesenheit von Frauen aus Institutionen betrifft nicht nur Frauen, die Kinder haben. Es betrifft auch Frauen, die keine Kinder haben oder deren Kinder schon erwachsen sind.
Diese gegenseitige Abneigung zwischen Institution und Frauen ist tiefergehend als nur ein „Vereinbarkeitsproblem“. Sondern sie geht an die Substanz unserer Vorstellung von Demokratie. Sie führt zurück zur Aufklärung und der französischen Revolution. Zu der Behauptung, dass alle Menschen gleich seien.
Das Problem an diesem Satz ist nämlich nicht nur, dass er damals nur die Männer meint. Ein anderes Problem ist, dass er einfach gar nicht stimmt. Es stimmt nicht, dass alle Menschen gleich sind. Sie sind unterschiedlich, sie sind Frauen und Männer, sie sind Alt und Jung, sie haben vielleicht Kinder oder keine, sie können gehen oder brauchen einen Rollstuhl, sie leben schon ewig in Deutschland oder sind erst vor zwei Jahren aus Syrien geflohen. Menschen sind unterschiedlich, und deshalb brauchen wir demokratische Strukturen und ein Konzept von Demokratie, das nicht nur dann funktioniert, wenn sich ausschließlich „Gleiche“ beteiligen. Sie sind in Wirklichkeit unterschiedlich. Frauen haben bis jetzt immer so getan, als wären sie gleich, damit nicht auffällt, dass sie unterschiedlich sind. Das war der Preis, den sie zahlen mussten, um an der Politik partizipieren zu können. Heute stehen wir jedoch an einem Übergang zu einem neuen Level. Jetzt werden demokratische Strukturen gebraucht, die wissen, dass Menschen ungleich sind. In die politische Entscheidungsfindung muss jeder einbezogen werden, auch wenn nicht jeder gleich ist. Einzig durch Abstimmungen oder gleiche Rechte kann dies nicht funktionieren.
Beispielhaft steht dafür die Diskussion um die Herabsetzung des Wahlalters bei Jugendlichen, damit diese eine Chance bekommen, sich aktiver an der Demokratie zu beteiligen. Die Frage, wie Jugendliche dazu animiert werden können sich an der Politik zu beteiligen, ist wichtig. Das Wahlalter jedoch herabzusetzen und damit nur ein paar ehemals „Ungleiche“ nun zu „Gleichen“ zu erklären, wird nicht funktionieren. Man kann das Alter auf 17 oder auf 16 vielleicht sogar auf 14 Jahre herabsetzen, aber auf 3 Jahre kann man es definitiv nicht runtersetzen. Denn irgendwann schlägt der quantitative Unterschied in eine Qualität um. Hier wird deutlich, dass Verfahrensweisen gefunden werden müssen, die allen trotz Ungleichheit eine Beteiligung ermöglichen, denn 10-oder auch 3-jährige Kinder können durchaus artikulieren, was sie möchten. Die Frage, wie politische Partizipation auch unter Anerkennung von Ungleichheiten möglich ist, stellt sich auch bei Menschen, die schon immer hier leben oder vor kurzem erst zugezogen sind. Jemand der aus Afghanistan geflohen ist, kein Deutsch kann und sich zunächst einmal in der neuen Umgebung zurechtfinden muss, sollte vielleicht tatsächlich nicht gleich den Bundestag wählen. Das wäre eine falsche Herangehensweise. Jegliche politische Partizipation aber an die deutsche Staatsbürgerschaft zu knüpfen, ist ebenso falsch.
Bei der Frage, wie politische Entscheidungsfindungen trotz der Ungleichheit aller Beteiligten stattfinden können, könnten gerade Frauen eine Vorreiterinnenrolle ausüben, denn sie sind Expertinnen in diesem Gebiet, ungleich und gleich zu sein. Jedoch nicht, indem sie sich immer weiter anpassen, sondern indem sie die Konflikte, auf die die Veränderung der Partizipation stößt, austragen, aussprechen und aushalten. Indem sie sich nicht an die Spielregeln anpassen, sondern indem sie die Spielregeln hinterfragen und sie verändern.
Nicht nur die Inhalte müssen verändert werden, auch die Art, wie wir Politik verstehen, um diese Konflikte zu lösen. Die alte These, „Frauen interessieren sich halt nicht so viel für Politik“ stimmt nicht. Wenn man die fehlende Partizipation von Frauen anspricht, wird oft gesagt, „Wenn ihr wollt, dann kandidiert doch“, „Wenn ihr wollt, macht doch mit“, „Wir können doch nichts dafür, wenn die Frauen sich nicht aufstellen lassen“.
Aber das Problem haben ja nicht nur die Frauen, sondern die Gesellschaft insgesamt. Dass die bestehenden Institutionen ihre Legitimation verlieren, liegt auch daran, dass sie nicht die gesamte Gesellschaft repräsentieren.
Frauen interessieren sich ja sehr wohl für Politik. In außerparlamentarischen Bewegungen oder in Ehrenamtsfunktionen sind viele Frauen vertreten. Der Hambacher Forst ist voller Frauen, die Anti-AKW-Bewegung war voller Frauen, die gesamte Hilfe für Flüchtlinge war voller Frauen, alle Umweltinitiativen und noch viele mehr, leben durch das Engagement der weiblichen Bevölkerung. Frauen interessieren sich sehr wohl für Politik und sie engagieren sich auch dafür.
Es ist vielmehr die Parteipolitik, die Probleme hat. Daher ist es auch die Verantwortung der jetzt schon seit 100 Jahren gleichberechtigten Frauen, zu überlegen, wohin sie die Demokratie weiterentwickeln wollen. Gerade angesichts der Tatsache, dass sich die Demokratie weltweit in einer tiefen Krise befindet. Frauen mit ihrer Erfahrung darüber, Unterschiede in der Politik auszuhalten, können dabei eine führende Rolle. Dies wäre mein Wunsch für die nächsten 100 Jahre.