Corona, Klopapier und Kapitalismus
in: Bref, Nr. 10, August 2020
Im Jahr 1807 verbot Thomas Jefferson den Handel zwischen den USA und Europa. Der dritte Präsident der Vereinigten Staaten war der Ansicht, Amerika sei sich selbst genug: «Jede Familie ist eine eigene Manufaktur und im Grossen und Ganzen in der Lage, alles Notwendige für den persönlichen Gebrauch selbst herzustellen». Für genug hielt er ein Schaf pro Familienmitglied – zusammen mit der Baumwolle, dem Hanf und dem Flachs, den die Familie anbaue, sollte dies ausreichen, um Eltern und Kinder einzukleiden.
Dieser Tage denke ich öfter an Jeffersons Bekenntnis zum Genug zurück. Die Vorstellung einer Wirtschaft, die sich an tatsächlichen Bedürfnissen orientiert, ist längst aus der Mode gekommen. Stattdessen leben wir heute in einem System, das nur bei permanentem Wachstum halbwegs funktioniert. Die Corona-Krise macht das überdeutlich: Die Pandemie ist nicht nur eine gesundheitliche Bedrohung, sie ist vor allem auch eine Wirtschaftskrise. Schon wenige Monate reduzierter Produktion und reduzierten Konsums haben die Ökonomien weltweit an den Rand des Abgrunds gebracht. Rund um den Globus konnten viele Staaten lebensrettende Massnahmen nicht ergreifen, weil das ökonomisch bedrohliche Folgen gehabt hätte. Jefferson dachte noch, die Wirtschaft wäre für den Menschen da. Heute zeigt sich, dass das Gegenteil der Fall ist: Menschen müssen den Kreislauf von Produktion und Konsum am Laufen halten – und koste es auch ihr Leben.
Dabei ist der Einsatz nicht für alle Menschen gleich hoch. Diejenigen, die massgeblich produzieren, sterben, hungern, sind von Armut bedroht, während bei denjenigen, die es gewohnt sind zu konsumieren, eben nur mal das Klopapier knapp wird.
Zu Beginn der Pandemie wurde viel über angeblich irrationale Hamsterkäufe gelästert. Klopapier auf Vorrat zu kaufen galt als Übersprunghandlung, als Verhalten ziemlich dummer Leute. So einfach ist es aber nicht, denn seit dem einzigen Pauschalurlaub meines Lebens weiss ich: Wenn morgens alle ihr Handtuch auf die Strandliege legen, ist mittags keine freie Liege mehr zu kriegen. Ja, theoretisch und eigentlich gibt es genügend Plätze. Aber praktisch und faktisch spielt diese Wahrheit leider keine Rolle. Wenn alle für den Notfall vorsorgen, gibt es keinen Normalfall mehr. Deshalb blieb auch mir dieses Frühjahr nichts anderes übrig, als entweder den Run auf die Hygieneware mitzumachen – oder ohne Klopapier dazusitzen. So habe ich ebenfalls ein Jumbopack nachhause geschleppt, statt mich auf das Versprechen «Es gibt genug für alle» zu verlasse.
Was ich damit sagen will: Auch wenn ich das Unsinnige eines Systems erkenne, so kann ich daran als Einzelne doch kaum etwas ändern. Auch ich muss das Handtuchspiel mitmachen und den Klopapier-Marathon absolvieren.
Sich am Genug zu orientieren ist heute schlichtweg nicht möglich, ja es fügt dem gesellschaftlichen Wohlstand sogar regelrechten Schaden zu. Auf den Punkt brachte das unlängst Ludwig Veltmann, der Hauptgeschäftsführer des deutschen Mittelstandsverbundes. Er sprach das aus seiner Sicht Ungeheuerliche der Corona-Krise aus: «Mit der Maske kaufen die Verbraucher nur noch, was sie müssen» . Für den Einzelhandel ist das tatsächlich eine Katastrophe, denn Impuls- und Erlebniskäufe – also der Erwerb von Dingen, die die Leute in Wirklichkeit gar nicht brauchen – machen im stationären Einzelhandel mehr als 50 Prozent der Umsätze aus. Wenn die Menschen sich mit dem zufriedengeben, was sie tatsächlich benötigen, liegt das Geschäft am Boden. Im Kapitalismus gibt es also immer ein Zuwenig oder ein Zuviel. Und das ist keine Folge individueller Gier, sondern systemisch bedingt.
Doch zurück zu Jefferson. Nur zwei Jahre lang liess der amerikanische Kongress sich auf das Experiment des Genug ein. Danach hob es das Embargo wieder auf. Wohl, weil Jefferson einen Denkfehler gemacht hatte. In seiner heimeligen «Meine kleine Farm»-Vision hatte er die Dynamik des Geldes übersehen: Anders als von Milch und Wolle hat man von Geld nie genug, nicht mal in der Prärie. Geld ist ein Speichermedium für Überschüsse, und weil es nicht schlecht wird, kann man es anhäufen. Das ist umso lohnender, wenn man damit nicht nur die Früchte der eigenen Arbeit ansammelt, sondern auch, und vor allem: die Arbeit anderer Menschen.
Im 19. Jahrhundert blühte in den Südstaaten der USA der internationale Baumwollhandel und mit ihm die Sklaverei. In den Nordstaaten verbreitete sich die Industrialisierung, ermöglicht durch billige Arbeitskräfte, die aus Europa und China einwanderten. Dabei war ziemlich rasch absehbar, dass dieses System nicht nur ungerecht war gegenüber denen, die sich für den Reichtum anderer krummarbeiten mussten, sondern aufgrund seiner Wachstumsdynamik auf die Dauer für niemanden gutgehen konnte. Kapitalismuskritische Analysen stapelten sich schon bald so hoch wie der Geldspeicher von Onkel Dagobert. Doch der Kapitalismus blieb davon unbeeindruckt und die Dynamik liess sich nicht mehr aufhalten.
Trotzdem tauchte nach dem Ersten Weltkrieg noch einmal kurz die Utopie eines «Genug» auf. Die industrielle Massenproduktion hatte nicht nur Ausbeutung mit sich gebracht, sondern auch Güter in sehr grossen Mengen, die nun mit einem Bruchteil des früheren Aufwandes hergestellt werden konnten. Viele Menschen waren zuversichtlich, dass die Zeit der Armut nur eine Übergangsphase wäre – und dass sich der Wohlstand früher oder später in der ganzen Bevölkerung ausbreiten würde. Sie hofften darauf, dass eine Gesellschaft entstünde, in der alle genug haben.
Doch was für Sozialisten und Philantropinnen eine positive Utopie darstellte, war für die Fabrikbesitzer und Unternehmer der blanke Horror. Was würden sie denn noch verkaufen können, wenn die Menschen erst einmal mit allem ausgestattet wären: Bett, Schrank, Töpfe und Kleidung für den Rest ihres Lebens? Eine rettende Idee hatte Anfang der 1920er Jahre Edward Bernays, ein junger Unternehmensberater und Neffe von Sigmund Freud. Angeregt von den Theorien seines Onkels über das Unbewusste entwickelte er eine Strategie, wie man Menschen auch solche Dinge verkaufen könnte, die sie nicht brauchen: Indem man Güter nicht als Befriedigung für reale Bedürfnisse anpreist, «Kaufen Sie diesen Anzug, denn er ist robust, warm und leicht zu waschen!», sondern mit unbewussten Wünschen und Hoffnungen verknüpft: «Kaufen Sie diesen Anzug, denn er macht Sie erfolgreich und selbstsicher!».
Auf diese Weise, so Bernays Überlegung, würde keine Sättigung des Marktes mehr drohen, denn die Konsumwünsche wären prinzipiell – wie das Wunschdenken des Unbewussten – unendlich. Und er hatte recht. Bernays führte der Tabakindustrie Millionen neuer Kundinnen zu, indem er Zigaretten als Symbol der Frauenemanzipation anpries. Er verknüpfte Autos mit männlicher Potenz, Convenience-Food mit hausfraulichen Qualitäten und Urlaubsreisen mit dem Sinn des Lebens. Der Trick funktioniert eigentlich bei allem, bis heute.
Die Macht des Wunsches: Das ist vermutlich auch der Grund dafür, warum bisher alle gut gemeinten Versuche, den Wahnsinn des «immer Mehr» zu beenden, gescheitert sind. Immer wieder hat es zwar Bewegungen gegeben, die im Stil von Jefferson versucht haben, subsistenzorientierte Ökonomien zu etablieren – doch immer stand das unersättliche menschliche Verlangen dem im Wege. Sicher, antikapitalistische Bewegungen scheiterten auch an Machtverhältnissen, Strukturen und ideologischen Streitereien. Aber ein wesentlicher Faktor dabei war auch, dass sie keine Antworten auf den Wunsch nach Unbegrenztheit, nach Unendlichkeit gaben, der zum Menschsein dazugehört. Darum ist es so simpel wie schwierig: Wenn es uns nicht gelingt, unsere endlichen Bedürfnisse wieder von unserem unendlichen Begehren zu trennen, können wir keine neuen Massstäbe der Ökonomie finden.
Es dauerte Jahre, bis ich meinem eigenen Wunsch nach «mehr» – und seinen materiellen Folgen – auf die Schliche kam. So verknüpfte ich als junge Frau den Besitz von Büchern mit dem Streben nach Wissen und Verstehen. Ich stellte immer mehr Regale in meiner Wohnung auf und füllte sie mit Büchern. Stolz betrachtete ich, wie mein Wissen – vermeintlich – immer und immer grösser wurde. Bis ich eines Tages feststellte, dass ich viel zu viele Bücher hatte – und dass ein Buch zu besitzen noch nicht bedeutete, es erfasst zu haben. Ich musste erkennen, dass mein Bücherbesitz übergangslos von «zu wenig» in «zu viel» umgeschlagen war, so ähnlich wie eine zu früh gepflückte Avocado, die im einen Moment noch hart und im nächsten dann schon faul ist. Ich habe also den Moment, in dem es «Genug» war, verpasst, weil ich mein unendliches Streben danach, immer klüger zu werden und immer mehr zu wissen, in den endlichen Besitz von vielen Büchern übersetzt hatte. Seither suche ich nach Wegen, wie ich die Bücher wieder loswerden kann.
Das zu begreifen verdanke ich der Lektüre von Simone Weil. Die französische Anarchistin und Mystikerin hat für diese Gleichzeitigkeit von Endlichem und Unendlichem ein anschauliches Bild gefunden. Sie schrieb in den 1940er Jahren: «Ein und dasselbe kann zugleich begrenzt und unbegrenzt sein, wie die Länge eines Rechtecks sich unendlich verlängern lässt, ohne dass es aufhörte, in seiner Breite begrenzt zu sein.» Sie bezog das damals auf den politischen Umgang mit Meinungs- und Pressefreiheit. Einerseits sei «die völlige, unbegrenzte Freiheit, jede beliebige Meinung ohne Einschränkung oder Vorbehalt zu äussern, ein unabweisbares Bedürfnis der menschlichen Vernunft». Andererseits müsse aber die Pressefreiheit bestimmten Einschränkungen unterliegen, da Gesellschaften nicht funktionieren, wenn Lügen und Falschmeldungen unkontrolliert massenhaft verbreitet werden.
Das Bild des einerseits begrenzten, andererseits unendlichen Rechtecks lässt uns verstehen, dass es sich bei der Gegenüberstellung von «Genug» und «Immer Mehr» nicht um gegensätzliche Konzepte handelt, sondern um zwei Aspekte des menschlichen Strebens; die Kunst besteht in der Fähigkeit der rechten Unterscheidung. Die Frage ist daher nicht, ob wir uns begnügen sollen, sondern vielmehr wann– und wann aber auch nicht. So gibt es in Bezug auf Freiheit, Liebe und Gerechtigkeit keine Grenze, ab der es «nun aber mal genug ist.» Der Feminismus etwa hat sich richtigerweise nicht mit dem Wahlrecht zufriedengegeben und die Arbeiterbewegung nicht mit dem Zehnstundentag. Es gibt für das gute Leben keine Obergrenze, so wie es eine Obergrenze für die Menge an Schokoladenpudding gibt, die wir auf einmal essen können – oder sollten.
Vor einigen Jahren, kurz nach meinem 50. Geburtstag, schrieb ich eine Kolumne mit dem Titel «Ich bin fünfzig und habe genug.» Denn ich hatte festgestellt, dass mir viele meiner beruflichen Ambitionen, die ich als junge Frau noch hatte, abhandengekommen waren. Statt Chefredakteurin eines grossen Magazins und gefragter Talkshowgast werden zu wollen, gefiel es mir inzwischen recht gut, eine mittelmässig erfolgreiche Journalistin mit mittelmässigem Einkommen und mittelmässiger Prominenz zu sein. In der Kolumne verkündete ich dementsprechend, dass ich von nun an, statt mich weiter abzustrampeln, das Erreichte lieber entspannt geniessen wolle. Ich bekam auf den Text sehr viele Reaktionen, ganz überwiegend zustimmende. Doch selbst jene Altersgenossinnen, die sich darin wiedererkannten, hatten Einwände gegen das Wort «Genug». «Schreib doch lieber: Ich will so bleiben wie ich bin!» schlug mir eine Freundin vor, «ansonsten hört es sich ja so an, als würdest du mit dem Leben abschliessen.»
Wir sind es offenbar gewohnt, «genug» mit einem Abschluss, einem Ende oder einem Aufgeben zu assoziieren. Dabei ist es heute für mich eigentlich nur die Bedingung des Aufbruchs in eine Welt der Fülle. In eine Welt, in der ich nicht streben und mich mühen muss, sondern geniessen kann, weil genug da ist. Das zu verstehen ist kein individueller Heilsplan, sondern eine Kulturtechnik, die wir, so glaube ich, einüben müssen. Im Prinzip ist das ähnlich wie bei dem Vexierbild, in dem man entweder die junge oder die alte Frau sehen kann.
Je nachdem, ob man das Genug als Einschränkung und Verlust empfindet, oder ob man es als eine Bedingung für unbegrenzte Fülle sieht, nehmen alle möglichen Phänomene und Fragestellungen eine andere Bedeutung und Relevanz an. Die Umstellung muss ein paralleler Prozess auf allen möglichen Ebenen sein, und es geht sicher nicht von heute auf morgen.
Aber wir könnten hier und jetzt anfangen, zum Beispiel mit so etwas Einfachem wie Schulnoten. Heute lernen die Kleinsten ja bereits in der Schule, dass «genügend» eben nicht «gut» und – eben – genug ist. Wie wäre es, wenn wir ihnen stattdessen beibringen würden, dass «genügend» das Allerbeste ist, was man haben kann? Denn es ist doch so: Wenn alle wirklich genug an Materiellem haben, dann ist das das Paradies auf Erden. Weil die Welt dann reicher an Freiheit, Gerechtigkeit und Fürsorge wäre. Und es immer Klopapier hätte – für alle.