Antje Schrupp im Netz

Autorität statt Solidarität

Bei irgend einer Gelegenheit zitierte ein Freund kürzlich den Spruch irgendeines Denkers oder Dichters (er wusste nicht, von wem er war), der heißt: »Zwerge auf den Schultern von Riesen sehen mehr als Riesen«. Dabei fiel mir spontan das Thema ein, zu dem ich heute hier sprechen soll, das Motto Ihrer Veranstaltungsreihe nämlich: »Nur weil wir auf den Schultern unserer Ahninnen stehen, sind wir groß«.

Als ich über diese beiden Bilder nachdachte – ich, ein Zwerg, auf den Schultern eines Riesen oder ich, eine Frau, auf den Schultern meiner Ahninnen – beschlich mich ein gewisses Unbehagen. Ich merkte nämlich, dass mir das erste Bild eigentlich besser gefiel, als das zweite. Oder anders gesagt: Es ist mir vertraut, damit kenne ich mich aus: Ich, ein Zwerg, stehe auf den Schultern eines Riesen, und kann deshalb weit sehen. Mir fällt zum Beispiel ein, wie mich früher auf Konzerten mein Freund auf die Schulter nahm, damit ich die Band sehen konnte – normalerweise sehe ich bei Konzerten nämlich nur die Rücken derjenigen, die vor mir stehen. Oder ich erinnerte mich auch daran, wie ich Hoppe Reiter auf den Schultern meines Vaters spielte.

Natürlich meinte dieser Denker oder Dichter seinen Satz in übertragenem Sinne, aber auch dazu fällt mir spontan etwas ein: Zum Beispiel, was ich alles in der Schule und an der Universität gelernt habe, all die Theorien und wissenschaftlichen Erkenntnisse der Riesen, die da auf dem Lehrplan standen, und ich bilde mir in der Tat ein, wenn ich mich mit ihnen beschäftige, dann sehe ich mehr als sie, obwohl ich vielleicht nur ein kleines Licht bin und keineswegs ein Genie.

Wenn ich mir dagegen vorstelle, ich stehe auf den Schultern meiner Ahninnen, dann fällt mir dazu, ehrlich gesagt, ganz spontan wenig ein. Außerdem erscheint mir die Situation ziemlich wackelig. Auf den Schultern meiner Mutter zum Beispiel habe ich nie gesessen. Welche Ahninnen sind das also, auf deren Schultern ich stehen soll? Die sogenannten »Frauengestalten aus der Geschichte«, von denen wir in den letzten zwanzig, dreißig Jahren so viel gehört haben? Die Hexen, die berühmten Schriftstellerinnen, die vergessenen Mystikerinnen? Es wäre ja schön. Aber dennoch: auf ihren Schultern kann ich es mir nicht so recht einrichten. Das Bild ist kein spontanes, sondern eines, das ich herbeizwingen muss.

Woher kommt das? Das erste Bild, das Bild von mir als Zwerg auf den Schultern von Riesen, könnte ein Sinnbild sein für das Patriarchat (so ist es von dem Dichter oder Denker sicher nicht gemeint gewesen, aber ich verstehe es so, denn es ist wohl kein Zufall, dass mir für die Riesen nur Männer eingefallen sind). Das Bild entspricht der Realität, meiner Erfahrung, dem Weltbild, in dem ich aufgewachsen bin. Ich kenne es, kann es nachempfinden.

Das andere Bild, das mit den Schultern meiner Ahninnen, ist dagegen eher ein Wunschbild. Es ist nicht Realität. Ich höre daraus auch eine moralische Aufforderung heraus: Ich soll doch bitte auf meinen Ahninnen hören. Oder auch: Ich soll mich, als gute Feministin, nicht mehr auf Männer beziehen, sondern auf Frauen.

Sicher, ich möchte gerne auf den Schultern meiner Ahninnen stehen, weil mir die Riesen irgendwie unheimlich sind. Sie könnten mich ja jederzeit runter schmeissen von ihren Schultern, und im Prinzip würde ich auch lieber auf ganz andere Konzerte gehen würde, als die, zu denen sie mich hintragen. Der Wunsch der Frauen, von den Schultern der Riesen herunterzuklettern, ist schon sehr alt. Solange wir auf den Schultern der Riesen sitzen, gibt es keine weibliche Freiheit, denn wir sind immer abhängig von den Bewegungen der Riesen, von ihrer Bereitschaft, uns da oben sitzen zu lassen. Und es ist natürlich auch keine Lösung, einfach runterzuspringen und zwischen den Riesen herumzuwuseln, denn dann kann man wirklich nicht mehr weit sehen und wird außerdem wahrscheinlich tot getrampelt. Aber es ist eben auch nicht so einfach, andere, weibliche Schultern zu finden, auf die ich klettern kann und auf denen ich mich auch wirklich sicher fühle. Was können wir also tun? Wir könnten auch fragen: Wie entsteht weibliche Freiheit?

Ich möchte heute Ihnen heute Abend das philosophische Konzept vorstellen, das italienische Feministinnen aus Mailand und Verona in den letzten 10, 15 Jahren entwickelt haben, und das sich genau mit dieser Frage beschäftigt.Hier in Deutschland ist es unter dem Stichwort »Affidamento« bekannt geworden. Affidamento heißt »sich anvertrauen«. Dieses Wort ist eigentlich ein bisschen irreführend, vor allem weil es im Deutschen so harmlos klingt. Eine Frau, die sich einer anderen anvertraut, was macht die? Die erzählt ihre neuesten Liebesgeheimnisse oder beklagt sich über Mobbing am Arbeitsplatz oder so. Sie erzählt eine Geschichte, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt ist. Affidamento im Italienischen ist viel existenzieller gemeint, darauf komme ich später noch. Aber eigentlich spielt das Wort in den Texten der Italienerinnen kaum eine Rolle. Worum es vielmehr geht, das ist weibliche Autorität. Es geht darum, die Beziehungen unter Frauen vor allem als Autoritätsbeziehungen zu verstehen.

Dass die Italienerinnen angefangen haben, sich mit dem Thema Autorität zu beschäftigen, kommt nicht von ungefähr. Sie standen in der Tradition der westlichen Frauenbewegung seit den siebziger Jahren, und bauten auf deren Praxis auf. Die Frauenbewegung, die Älteren unter Ihnen erinnern sich vielleicht besser als ich, weil ich damals noch zu jung war, erfand die Praxis der sogenannten Selbstfindungs-Gruppen, oder auf englisch »Consciousness-raising«. Das Bemühen war, ein weibliches Selbstbewusstsein zu entwickeln, das nicht vom männlichen Denken geprägt ist. Die Praxis war das Gespräch unter Frauen, in eigenen Frauengruppen, in denen Männer nicht dazwischen reden und das Gespräch an sich reißen konnten. Diese Praxis war sehr wertvoll und wichtig, und wir verdanken ihr viel. Allerdings stieß sie bald auch an ihre Grenzen.

Ein Fehler dabei war, dass bald der Anschein entstand, dass alle Frauen irgendwie gleich wären, gleichermaßen unterdrückt, mit gleichen Interessen und so weiter. Es war das Bild der Solidarität, ausgedrückt in dem Motto: »Frauen gemeinsam sind stark«. Es ging darum, sich zusammenzuschließen, gegen die Übermacht des Patriarchats anzutreten. Das heißt, diese Praxis der Frauenbewegung tendierte dazu, die Unterschiede zwischen Frauen zu ignorieren, die Frauen auf eine Opferrolle festzuschreiben und eine Art sozialer Kontrolle zu etablieren, die jede Frau, die sich anders verhielt oder anderer Meinung war, dem Verdacht aussetzte, unsolidarisch zu sein.

Dass sich die Frauenbewegung erst einmal in Richtung Gleichheit und Solidarität entwickelt hat, ist verständlich, denn dies ist die Tradition der westlichen sozialen Bewegungen: Auch die Arbeiterbewegung hat sich unter dem Banner der Solidarität zusammengeschlossen. Und in der Tat ist die Frauenbewegung ja auch aus der Studentenbewegung heraus entstanden. Auch die anfängliche Fixierung auf den vermeintlichen Gegner – die Männer, das Patriarchat – ist verständlich, denn aus der Euphorie der sechziger Jahre heraus war die Bewusstwerdung, wie tief verankert die Frauendiskriminierung auch in der angeblich befreiten Gesellschaft immer noch war, schon ein Schock. Ich halte daher nichts davon, wie das so ein bisschen Mode geworden ist, auf der Frauenbewegung rumzuhacken. Natürlich sind wir inzwischen weiter, aber die Verdienste dieser Pionierinnen können wir durchaus würdigen, auch wenn wir an ihren Fehlern nicht festhalten und heute woanders sind.

Inzwischen haben sich die Gruppen ausdifferenziert, so dass man langsam den Überblick verlieren kann über das, was alles »Frauenbewegung« ist. Wir haben Frauenpolitikerinnen in den Parteien, Gleichstellungsbeauftragte in Turnvereinen, auf der anderen Seite Matriarchatsforscherinnen und andere Frauengruppen, die sich bemühen, etwas spezifisch »Weibliches« ausfindig zu machen, wir haben eine breite, universitäre Frauenforschung, die eine Fülle von Literatur etwa über Frauen in der Geschichte hervorgebracht hat, wir haben philosophische Theorien kennen gelernt, wonach das Geschlecht überhaupt ein Konstrukt sein soll, das wir »dekonstruieren« müssen, wir haben eine Girlie-Bewegung, die zwar selbstbewusst auftritt und sich als emanzipiert versteht, aber nichts mit den klassischen Forderungen der Frauenbewegung zu tun haben will, und so weiter. Es gibt nicht mehr »die Frauenbewegung«, sondern eine Fülle von unterschiedlichen Ansätzen und Projekten, die sich teilweise krass widersprechen.

Es besteht eine gewisse Unklarheit darüber, wie wir mit dieser Vielfalt, dieser Unterschiedlichkeit umgehen, wie wir sie verstehen sollen. Oder anders gesagt: Jede dieser Gruppen für sich tut oft so, als würde sie für »die Frauen« sprechen, was aber objektiv gesehen einfach nicht stimmt. Es ist weniger Überheblichkeit, was hinter solchen Allgemeinvertretungsansprüchen steckt, als vielmehr die schlechte Gewohnheit, die wir noch aus den siebziger Jahren übernommen haben: Frauen alle gleich zu machen. Sätze wie »Frauen gemeinsam sind stark« entstammen diesem Denken.

Dies ist falsch. Frauen haben keine gemeinsamen Interessen. Es ist nicht möglich, inhaltlich festzulegen, was eine Frau ist, was sie wollen soll, was »normal« ist, was weiblich ist. Es ist genauso weiblich, zur Bundeswehr zu gehen, wie Frisöse zu werden. Ich weiß nicht, was weiblich ist. Heißt das aber, wir könnten nicht mehr von Frauen, von Feminismus reden? Keineswegs. Eines weiß ich nämlich sicher: Dass ich eine Frau bin. Und dass das nicht unerheblich ist, dass es nicht egal ist, dass ich eine Frau bin, sondern dass dies etwas ganz Wesentliches ist. Aber wenn ich es inhaltlich festlege, dann spreche ich von mir, Antje Schrupp, die eine Frau ist. Ich spreche nicht von »den Frauen«. Es hat keinen Sinn, von den Frauen zu sprechen. Es hat aber Sinn, beim Sprechen immer deutlich zu machen, wer hier spricht: Ich, eine Frau. »Ich bin eine Frau« – diesen Satz sollten wir möglichst oft üben. Verzichten sollten wir dagegen darauf, den Ausdruck »die Frauen« zu gebrauchen.

Das ist nicht immer so einfach, aber man kann es lernen und einüben. Im Bezug auf die unterschiedlichen Frauenbewegungs-Gruppen und die Unübersichtlichkeit, die sich daraus ergibt, heißt das: Die Lösung besteht nicht darin, dass eine Position sich durchsetzt, sondern darin, zu verstehen, welche Bedeutung die Unterschiedlichkeit der Frauen hat. Zu verstehen, dass die Unterschiedlichkeit der Frauen kein Defizit ist, sondern die Fülle, auf die wir uns stützen können.

Die Italienerinnen – wie ich sie hier einmal vereinfachend nennen will, denn es handelt sich natürlich nicht um alle Italienerinnen, sondern nur um eine bestimmte Gruppe im italienischen Feminismus, wenngleich auch um eine einflussreiche – haben nun diese Ungleichheit zum Ausgangspunkt einer neuen Philosophie gemacht. Deshalb sprechen sie auch von Differenzfeminismus. Dies ist hier in Deutschland oft missverstanden worden: Es geht nicht um die Differenz zwischen Frauen und Männern, sondern um die Differenz der Frauen untereinander.

Wie erleben wir die Ungleichheit unter Frauen? Wir stellen manchmal fest, dass eine andere Frau ein »Mehr« besitzt als wir. Sie ist zum Beispiel klüger, kann besser argumentieren, sie hat mehr Erfahrung. Sie kann vielleicht auch besser kochen, sie ist selbstsicher und authentisch, hat einen festen Glauben, kommt mit dem Leben zurecht. Das führt häufig entweder zu Neid oder zu Bewunderung. Beides ist schlecht.

Wenn das »Mehr« einer Frau bei den anderen zu Neid führt, dann entsteht schnell das Bemühen, die andere »klein« zu machen, ihr »Mehr« abzuschneiden. Vielleicht haben Sie es auch schon erlebt, dass in einer Gruppe einige mehr redeten als andere, und dass das dann kritisiert wurde. Oft wurde es als Ideal gesetzt, dass sich doch möglichst alle beteiligen sollen. Es liegt auf der Hand, dass dies eine Schwächung im Denken ist. Neid führt dazu, dass wir die Stärken und Fähigkeiten einer Frau nicht nutzen, sondern sie dazu bringen wollen, sich klein zu machen, sich auf unser Niveau herunter zu begeben. Mit der Folge, dass das Niveau insgesamt sinkt.

Wenn das »Mehr« einer Frau bei den anderen zu Bewunderung führt, dann ist das aber auch nicht besser. Ich denke zum Beispiel an das Phänomen der »Gurugruppen«, die in der Frauenbewegung entstanden sind: Also sozusagen Fangemeinden, die sich um eine besonders tolle Frau und Anführerin herum scharen, massenweise ihre Kurse belegen oder Bücher lesen, und die ihr Wertesystem aus der kaum hinterfragten Führungspersönlichkeit herleiten, was bedeutet: Entweder man schließt sich der Bewunderung für diese Führungsfrau an, dann kann man zu der Gruppe dazu gehören, oder man schließt sich ihr nicht an und muss draußen bleiben. Auch hier wird das Niveau sinken, denn es gibt keine Kritik, keine fruchtbare Diskussion.

Neid und Bewunderung führen zu zwei falschen Strategien im politischen Handeln: Neid führt dazu, jede Überlegenheit und Ungleichheit kategorisch abzulehnen und zu bekämpfen, Bewunderung führt dazu, Frauen in Machtpositionen zu hieven. Weder das Bild von Solidarität und Gleichheit, noch das von Macht und Gurutum führen uns also weiter. Eine Alternative wäre jedoch, so die These der Italienerinnen, die Anerkennung weiblicher Autorität.

SIe gehen dabei aus vom Bild der Beziehung zwischen Tochter und Mutter, um zu versuchen, die Bedeutung der Tatsache zu verstehen, dass Menschen unterschiedlich sind. Wir alle werden von einer Frau zur Welt gebracht, das heißt, wir plumpsen nicht von irgendwoher als Einzelne hier auf diese Erde, stellen plötzlich fest, dass es auch noch andere Leute gibt und müssen uns dann mühsam Regeln erfinden, zum Beispiel Gesetze und Verträge, damit wir uns nicht gegenseitig die Köpfe einschlagen – so das Szenario der männlich-westlichen Philosophie. In Wirklichkeit kommen wir anders zur Welt: Wie brauchen – und haben – von Anfang an eine Vermittlung zwischen uns und der Welt, zwischen uns und den anderen Menschen. Diese Vermittlung war zuerst unsere Mutter (oder eine andere Person an ihrer Stelle), und das sind später Lehrerinnen, Freundinnen, Vorbilder. Oder kurz gesagt: Frauen – unter Umständen auch Männer – die ein »Mehr« haben.

Was ist es, das wir als Tochter unserer Mutter gegenüber empfunden haben? Vielleicht Vertrauen, Liebe und Dankbarkeit, vielleicht auch Wut, Trauer und Angst, wenn die Vermittlung nicht gut gelang. Jedenfalls nicht Neid oder Bewunderung. Weibliche Autorität ruft ähnliche Gefühle hervor, wie die, die wir als Töchter unserer Mutter gegenüber hatten: Liebe, Dankbarkeit, Vertrauen. Und wir erkennen das schmerzliche Fehlen von Autorität an den Gefühlen, die wir ebenfalls unserer Mutter gegenüber hatten: Angst, Wut, Trauer.

Die Italienerinnen sprechen davon, eine neue »symbolische Ordnung der Mutter« zu etablieren. Das wird manchmal missverstanden, so als sollte hier das Ideal der Mutterschaft festgeschrieben werden, Frauen also wieder auf eine angeblich natürliche Rolle festgelegt werden. So ist es aber nicht gemeint. Es geht nicht darum, die Rolle der Mutter einzunehmen, sondern vielmehr die der Tochter. Wir alle sind als Tochter in diese Welt gekommen, die erste Beziehung, die wir hatten, war die zu derjenigen, die uns zur Welt gebracht hat, unsere Mutter.

Wir wissen also – in der Regel aus eigener Erfahrung – , dass nicht alle Beziehungen, die auf Ungleichheit gründen, Macht- und Herrschaftsbeziehungen sind. Die erste Beziehung in unserem Leben war in der Regel eine zu einer Frau, die uns ungleich war, und die uns aber dennoch nicht beherrschte, sondern liebte – bei allen Fehlern, die sie dabei möglicherweise gemacht hat.Damit will ich natürlich nicht leugnen, dass es in der Mutter-Kind-Beziehung oft auch Macht und Gewalt gibt. Worauf es mir ankommt ist, in Erinnerung zu rufen, dass Macht und Gewalt nicht das Wesentliche dieser Beziehung ausmacht. Normalerweise, im Allgemeinen oder zumindest häufig genug gibt das Verhalten einer Mutter – also das Verhalten, das wir alle in der einen oder anderen Weise am eigenen Leib gespürt haben – ein Modell ab für mütterliche, für weibliche Autorität. Ein Modell, das eben zum Ausgangspunkt werden kann für philosophisches Nachdenken und die Arbeit an einer neuen symbolischen Ordnung. Das »Mehr« unserer Mutter besteht darin, dass sie uns »zur Welt gebracht« hat – nicht nur im Augenblick der Geburt, sondern auch später, als sie uns die Welt erklärt hat, die Sprache gegeben hat, uns das Laufen beibrachte, uns sagte, was gefährlich ist und was nicht, was wir dürfen und was nicht.

Autorität, weibliche Autorität, ist nichts, was wir erst erfinden müssen, machen müssen, einfordern müssen, sondern sie ist geradezu das erste, was wir vorfinden, wenn wir das Licht der Welt erblicken.

Etwas zweites kann man noch von diesem Modell lernen: Dass nämlich die Kinder selbst bei dieser Vermittlungsarbeit aktiv sind. Sie sind keineswegs passive Objekte der mütterlichen Erziehungsarbeit, sondern sie fordern die mütterliche Vermittlung heraus: Sie wollen etwas, sie begehren. Sie krabbeln herum, probieren aus, plappern unverständliches Zeugs, fragen Löcher in den Bauch. Dies ist die andere Seite der Autorität: Hier eine, die ein »Mehr« hat, da eine, die begehrt, die etwas will in der Welt, die Großes vorhat. Weibliche Autorität hat eine Aufgabe, nämlich zu vermitteln zwischen dem Begehren einer Frau und der Realität, der gegebenen Welt, die sie um sich herum vorfindet. Beides ist gleichermaßen wichtig: Dass da eine ist, die begehrt, und dass da eine andere ist, die sich von ihr unterscheidet, die ein »Mehr« hat (Fähigkeiten, Kenntnisse, Lebenserfahrung, was auch immer), so dass sie vermitteln kann zwischen diesem Begehren einer Frau und der Welt, so wie sie nun einmal ist.

Das heißt auch: Autorität ist nicht nur auf eine bestimmte Person bezogen, sondern auch auf einen bestimmten Kontext, auf einen bestimmten Inhalt. Nämlich auf das Begehren, das ja diesen oder jenen Inhalt hat. Dies zum Beispiel ist ein wichtiger Unterschied zwischen Macht und Autorität. Autorität »hat« man nicht als Person, sondern sie wird immer wieder ausgehandelt. Kinder etwa sind sehr gut im Verhandeln. Autorität kann man nicht einfordern oder sich auf sie berufen, sondern man kann nur feststellen, dass Autorität da oder nicht. Wenn man – auch zum Beispiel als Mutter – zu Machtmitteln greifen muss, ist das ein Zeichen dafür, dass die Autorität weg ist, dass sie von der anderen Seite aufgekündigt wurde: Entweder, weil kein Begehren mehr da ist, oder weil nicht mehr anerkannt wird, dass da ein »Mehr« ist, also die Fähigkeit, zwischen dem Begehren und der Welt zu vermitteln.

Autorität kann also nicht in Titeln oder sonstigen äußerlichen Zeichen festgefroren werden. Man könnte auch sagen, Autorität ist keine Sache, kein Objekt, sondern eine Beziehungsqualität, also eher ein Adjektiv als ein Hauptwort.

In der neuen, symbolischen Ordnung der Mutter, an der wir arbeiten und in die wir uns hineinstellen können, sehen wir also uns, den Menschen, nicht als unabhängig und autonom, sondern schlechterdings abhängig, so abhängig, wie die Tochter von der Mutter. Der Mensch, wir also, ist abhängig, weil wir uns ohne Vermittlung in der Welt nicht zurechtfinden können. Abhängig, weil wir etwas begehren, weil wir etwas wollen, weil wir einen Mangel spüren, ein Desiderat – desiderio ist das italienische Wort an dieser Stelle, in dem viel mehr Bedeutung mitschwingt, als im deutschen Wort Begehren. Je größer unser Begehren, desto mehr nehmen wir unsere Abhängigkeit wahr, desto mehr sind wir auf die Vermittlung einer angewiesen, die ein »Mehr« hat.

Wo weibliche Autorität anwesend ist, können Machtverhältnisse ausgehebelt werden und verlieren an Bedeutung. Ein Beispiel aus meiner Erfahrung: Für mich ist im Bezug auf philosophisches Denken Luisa Muraro eine Autorität, oder auch Andrea Günter und ein paar andere. Das heißt nicht, dass ich mit ihren Thesen an jedem Punkt einverstanden bin, bei manchen Fragen bin ich sogar dezidiert anderer Auffassung. Es bedeutet aber, dass ich ihr eine Bedeutung zuspreche. Diana Sartori hat einmal vorgeschlagen, dem kategorischen Imperativ von Kant – handle stets so, dass die Maxime deines Handelns jederzeit eine allgemeingültige Maxime sein könnte – einen mütterlichen Imperativ entgegenzusetzen: Handle stets so, wie du handeln würdest, wenn ich (deine Mutter) dabei wäre. Das heißt, das Wichtige an weiblicher Autorität ist, dass man die Werte und Meinungen der anderen Frau berücksichtigt und mit in die eigenen Überlegungen einbezieht, nicht, dass man sich danach richtet.

Wenn ich nun also einen Aufsatz schreibe, dann schreibe ich ihn – um mit Diana Sartori zu sprechen – so, als würden ihn Luisa und Andrea lesen. Diese Frage habe ich im Hinterkopf. Und wenn ich ihnen darin widerspreche, dann nach reiflicher Überlegung und einer Auseinandersetzung mit ihren Einwänden. Diese freiwillig eingegangene Autoritätsbeziehung, was mein philosophisches Denken angeht, macht mich gleichzeitig frei: Ich überlege mir nämlich nicht mehr, wie ich mich bei meinen Thesen gegen Einwände von Marx oder Hegel oder den wissenschaftlichen Kapazitäten verteidigen könnte. Sie haben für mich diese Autorität eingebüßt, sie sind mir kein Maßstab mehr, aber ich konnte mich davon nur befreien, indem ich einen anderen Maßstab, eine andere Abhängigkeit sozusagen, dagegen eintauschte. Deshalb steht weibliche Autorität auch meiner Freiheit nicht entgegen, sondern sie ermöglicht sie geradezu.

Um noch einmal auf den Begriff »affidamento« zurückzukommen. Das Verb »affidare« heißt auf deutsch »anvertrauen«. Was mache ich, wenn ich jemandem anderen etwas anvertraue? Etwa meine Tochter für den Nachmittag oder meine Blumen, während ich in Urlaub fahre? Ich gebe selbst die Kontrolle über diese Dinge ab, ich übertrage der anderen Person für eine begrenzte Situation die Verantwortung für diese Angelegenheit. Und diese Person ist willens und fähig, diese Verantwortung zu übernehmen. Im Anvertrauen liegt eine große Verbindlichkeit von beiden Seiten.

Autorität hat etwas mit Anvertrauen zu tun, mit affidamento also, nur dass es nicht um irgend etwas Drittes geht, sondern um mich selbst. Ich vertraue mich, meine Person, einer anderen an. Affidarsi, sich anvertrauen, heißt nicht, wie im Deutschen, ich erzähle einer anderen mal ein bisschen von meinen Wehwehchen und Problemchen, ich vertraue ihr meine Geheimnisse, Sehnsüchte, Liebeskummer und so weiter an – nein, affidarsi heißt, ich gebe mich in ihre Hände, wenigstens in einem bestimmten Zeitraum, in einem bestimmten Kontext. Ich bin es, die dabei auf dem Spiel steht, wenn es um Autorität geht, und entsprechend groß ist das Vertrauen, und die Verantwortung, die für eine solche Beziehung notwendig sind. Autorität gibt es nur dann, wenn diese Verbindlichkeit da ist, und oft sind wir nicht bereit, diese Verbindlichkeit einzugehen.

Ein Beispiel: Voriges Jahr stand eine meiner WG-Mitbewohnerinnen vor einer schwierigen beruflichen Entscheidung, sie überlegte nämlich, zu kündigen und woanders anzufangen. Im Vorfeld dieser Entscheidung fragte sie alle möglichen Menschen um Rat, unter anderem auch mich. Ich setzte mich mit dem Problem auseinander, brachte Kriterien und Maßstäbe an, und gab ihr dann einen Rat. Bald aber stellte ich fest, dass sie diesen Rat gar nicht suchte. Sie sprach nämlich wirklich mit Hinz und Kunz über dieses Problem, zum Beispiel mit Leuten, die zufällig in unsere Wohnung kamen und die sie überhaupt nicht kannte, zu denen sie also gar keine Beziehung hatte. Sie sammelte unterschiedlos Meinungen von allen möglichen Leuten und setzte sich mit keiner wirklich auseinander. Sie war nicht in der Lage oder nicht bereit, eine Autoritätsbeziehung aufzubauen. Sie suchte nur Spiegelung und Bestätigung. Das kann man natürlich machen und vielleicht ist ein solches Vorgehen manchmal auch sinnvoll, aber es ist dann eben keine Autorität im Spiel. Meine Reaktion darauf ist, dass ich als Ratgeberin auf diese Weise nicht gerne missbraucht werde und mir, wenn ich in eine solche Situation komme, auch keine große Mühe mehr gebe, weil mir die Zeit dafür zu schade ist.

Die Gegenseite dieser Geschichte sind natürlich Menschen, die sich weigern, einen Rat zu geben. Man fragt sie, und sie sagen auch ihre Meinung, aber mit der Anmerkung: Das ist nur meine Meinung, was du letztlich machst, musst du selbst entscheiden. Das bedeutet im Klartext: Ich bin nicht willens, Verantwortung für meinen Rat und für unsere Beziehung zu übernehmen, ich will mit den Folgen meines Rates nichts zu tun haben, ich bin nicht bereit, Autorität auszuüben. Wie eine Mutter, die sagen würde, Kind, es ist so warm draußen, zieh lieber nicht die dicke Winterjacke an. Aber es ist natürlich deine Entscheidung, wenn es nachher doch kalt wird und du eine Grippe hast, brauchst du dich bei mir nicht zu beschweren.

Autorität ausüben kann eine Frau nicht allein schon deshalb, weil sie klug ist, viel Sachwissen hat, oder eine bestimmte Fertigkeit oder Fähigkeit. Andrea Günter formuliert es so: »Autorität ausüben heißt, von sich selbst ausgehend zu sprechen, dabei persönlich Position zu beziehen, nämlich zu urteilen«1 – also weder einfach nur Fachwissen weitergeben, aber auch nicht einfach nur die eigene Meinung zu sagen, sondern aufgrund des Wissens und der Fähigkeiten, die eine hat, ein Urteil zu fällen, für das sie mit ihrer Person auch einsteht. Autoritätsbeziehungen setzen also Verbindlichkeit voraus – von beiden Seiten. Die eine muss bereit sein, zu urteilen, die andere, sich an dieses Urteil zu binden.

Ich möchte noch über ein paar weitere Missverständnisse und Vorbehalte sprechen, die häufig von Frauen gegenüber der Autorität vorgebracht werden. Oft besteht der Wunsch, aus der Autorität eine Sache von Gegenseitigkeit zu machen. Nach dem Motto: Die eine ist Autorität in dieser Hinsicht, die andere in jener, also sind wir Autoritäten füreinander gegenseitig. Eine solche Beziehung ist durchaus vorstellbar, zwischen Freundinnen vielleicht, aber sie ist selten, zufällig, und eine solche Gegenseitigkeit ist auch kein Idealzustand, den wir anstreben sollten. Autorität ist eine Beziehungsform, die ihre Stärke ja gerade aus der Ungleichheit bezieht. Was würde es schließlich nützen, wenn die Mutter genauso wenig wüsste, wie das Kind.

Das hat aber zur Folge, dass Autorität notwendig Konflikte in sich birgt. Ich glaube, dass hinter dem Wunsch nach Gegenseitigkeit in Autoritätsbeziehungen eigentlich der Wunsch steckt, Konflikte zu vermeiden. Doch es wird unweigerlich zu Konflikten kommen, eben deshalb, weil eine Frau, die mich nur spiegelt und bestätigt, für mich keine Autorität sein, bzw. das würde nichts bringen. Autorität ist nur vorhanden, wenn die eine der anderen in gewisser Weise »gehorcht«, also von dem, was sie selber will, absieht. Dies ist für unser Denken ungewohnt, weil wir eben Hierarchien eben schnell mit Macht und Unterdrückung in Verbindung bringen. Aber hier geht es darum, dass ich herausgefordert werde, mich selbst zu verändern, also nicht meinen Willen zum Maßstab zumachen, sondern das Urteil der Frau, deren Autorität ich anerkenne. Auch wenn das ohne Konflikte nicht geht.

Manchmal kommt von Müttern älterer Töchter bei diesem Thema der Einwand, es sei doch eine gewisse Gegenseitigkeit in ihrem Verhältnis, da sie als Mutter von ihrer Tochter als gute Mutter anerkannt werde. Doch in einem Autoritätsverhältnis von Anerkennung einer bestimmten Leistung zu sprechen, ist unsinnig. Ich zum Beispiel kann Luisa Muraros Leistung als Philosophin nicht anerkennen, denn das würde bedeuten, dass ich eine genauso gute Philosophin bin wie sie, mir also darüber ein Urteil erlauben kann. Das ist aber Unsinn, denn nur deshalb, weil sie mir in dieser Hinsicht etwas voraus hat, ein »Mehr« hat, erkenne ich sie ja überhaupt nur als Autorität an. Ich vertraue mich ihrem Urteil an, sie ist es, die in dieser Beziehung urteilt, nicht ich. Genauso wenig kann eine Tochter die Erziehungsleistung der Mutter anerkennen, denn sie ist gar nicht qualifiziert, diese zu beurteilen – jedenfalls nicht in der unmittelbaren Situation, höchstens später, wenn sie selbst Mutter ist und eine entsprechende Erfahrung hat. Die angemessene Würdigung von Autorität von Seiten derjenigen, die Autorität sucht, ist daher nicht Anerkennung und Lob, sondern Dankbarkeit. Ich bin derjenigen, die mir die Welt vermittelt, dankbar dafür, dass sie mich weiterbringt.

Der Wunsch, aus weiblicher Autorität eine Sache von gegenseitiger Anerkennung zu machen, anstatt eine des Urteilens und des Sich-Anvertrauens, führt dazu, dass weibliche Autorität real geschwächt wird. Etwa von den Müttern, die (anders als zum Beispiel meine, die mir lange zu recht Undankbarkeit vorgeworfen hat) von ihren Töchtern nicht Dankbarkeit, sondern Anerkennung erwarten. Ein anderes Beispiel, wo Autorität dementsprechend ebenfalls gerade nicht vorhanden ist, obwohl so getan wird, als würde man sie suchen, ist meiner Ansicht nach der wahre Boom von Büchern über große Frauen in der Geschichte, Frauen in den Naturwissenschaften, Frauen in der Politik, Frauen in der Bibel, die Suche nach weiblichen Gottheiten, all das, die in den letzten Jahrzehnten geschrieben wurden. Meistens sind das Bücher über Frauen, die als erste ihres Geschlecht eine klassische Männerposition erreicht haben. Wichtig war den Autorinnen meist, zu zeigen, dass die Frauen auch damals schon, als das Frauen noch verboten war oder schwer gemacht wurde, dasselbe getan haben, wie Männer. Dass sie stark waren, ehrgeizig, unabhängig, berühmt usw. Das heißt aber: Diese Beschäftigung blieb für unsere eigenes Leben meist folgenlos. Was uns freute, war lediglich, dass auch damals schon Frauen Sachen machten, die wir heute machen. Die Suche nach den sogenannten großen Frauen in der Geschichte geriet über weite Strecken zur Selbstbestätigung der Frauen heute. Wir nahmen ihre Ideen und Vorstellungen nicht als Herausforderung für uns selbst, sondern lediglich als Spiegel, in dem wir uns sonnen konnten. Es war keine Bereitschaft zum Konflikt vorhanden.

Wenn ich eine Autoritätsbeziehung aufbauen möchte (und das geht auch mit Frauen in der Geschichte, zu denen man über ihre Schriften in Beziehung treten kann), darf ich mich nicht auf die Suche nach Frauen machen, die dieselbe Meinung haben, wie ich. Nicht auf die Suche nach Frauen, die ich Klasse finde, und der ich an den Lippen hänge. Nicht eine, zu der ich eine Seelenverwandtschaft fühle oder die mich bestätigt und fördert und mir sagt, wie toll ich doch bin und dass ich ruhig Mut haben soll, mich selbst zu verwirklichen. Ich muss eine suchen, über die ich mich ärgere, die mich dazu bringt, meine eigenen Meinungen über den Haufen zu schmeißen, die mich in Frage stellt oder vielleicht auch mich gar nicht weiter beachtet. Die mir, wenn ich mich als Künstlerin verwirklichen will, aber nur mittelmäßige Tontöpfe zustande kriege, sagt, dass ich auf dem Holzweg bin. Die mir, wenn ich mich beschwere, dass ihre Bücher so kompliziert zu lesen sind, sagt, weibliche Philosophie eigne sich eben nicht als Gutenachtlektüre.

Das sind natürlich nur Beispiele. All diese Sätze könnten auch in Machtbeziehungen gesprochen werden, und dann wären sie schrecklich. Nur ich selbst kann entscheiden, ob eine solche Frau in der Lage ist, zwischen meinem Begehren und der Welt zu vermitteln. Und das führt unweigerlich zum Konflikt, weil sie nämlich Dinge tut, auf die ich selbst nicht gekommen wäre, die nicht meinem eigenen Willen entsprechen, einfach deshalb, weil sie anders ist, als ich. Oder, wie Andrea Günter schreibt: »Ob es volle weibliche Autorität gibt, wird erst in Konfliktsituationen offenkundig. Autorität gibt es dann, wenn wir mit einer Person hadern und wir dennoch nicht darum herumkommen, sie für das anzuerkennen, was sie tut oder für uns ist und zu sein vermag. Es gibt Autorität dann, wenn wir dem, was eine Person tun will, nicht zustimmen, und dennoch anerkennen, dass sie genau dies tut bzw. unser Verständnis der freien weiblichen Existenz in Frage stellt und somit für uns den menschlichen Horizont weiblicher Freiheit eingrenzt bzw. neu umreißt.«

Damit hat Andrea auch angesprochen, worum es bei weiblicher Autorität geht – um weibliche Freiheit nämlich, und damit kommen wir zum Ausgangspunkt des Abends zurück. Die Fragestellung war ja: Wenn weibliche Freiheit die Beziehungen zwischen Frauen zur Grundlage hat, wie müssen diese Beziehungen aussehen, damit sie Freiheit ermöglichen?

Antwort: Es müssen Autoritätsbeziehungen sein, Beziehungen im Rahmen einer symbolischen Ordnung der Mutter, in denen es nicht um Neid oder Bewunderung, nicht um Gleichheit oder Macht geht. Die Freiheit der Frauen bedeutet mehr als die Wahl zwischen verschiedenen Möglichkeiten und auch mehr als die Abwesenheit männlicher Dominanz und Unterdrückung. Es geht um das Begehren einer Frau, in der Welt zu sein und dort etwas zu vollbringen, einer Frau mit großen Wünschen, einer Frau, die einen Mangel spürt und ihn beheben will, die die Welt verändern will – dafür steht die Tochter. Und diese Frau trifft auf eine andere, die ein »Mehr« hat, die schon weiß, wie die Welt funktioniert, die die Erfahrung der Niederlage schon gemacht hat, die realistisch ist, die Kenntnisse hat – dafür steht die Mutter.

Eine Frau hat für mich Autorität, wenn sie mir eine Vermittlung bietet zwischen mir und der Welt, die über das hinaus geht, was ich sowieso schon wusste oder aus eigenem Vermögen schon gemacht habe. Autorität bestätigt mich nicht, sondern fordert mich heraus. Sie eröffnet mir neue Räume und Horizonte, zu denen ich alleine nicht vorstoßen kann.

Um auf das Bild von den Ahninnen und den Riesen zurückzukommen: Auf den Schultern der Ahninnen zu stehen, nur weil sie Frauen sind, das hilft aber auch nicht weiter – es kommt darauf an, ob wir bei unseren Ahninnen ein Mehr finden, das uns die Welt vermittelt. Und das hängt einerseits von diesen Ahninnen ab, von ihren Fähigkeiten, von ihrem Wissen, von ihren Ideen, also davon, ob sie uns gegenüber ein »Mehr« haben. Vor allem aber hängt es davon ab, ob wir etwas begehren, ob wir Wünsche haben, ob wir etwas vorhaben in dieser Welt.

Nur wer etwas begehrt, das sie nicht aus eigenen Kräften erreichen kann, ist bereit, die Autorität einer anderen anzuerkennen und sich ihr anzuvertrauen. Nehmen wir uns ein Beispiel an den Kindern, die in dieser Hinsicht grandios sind. Nur wenn ich etwas begehre, bin ich bereit, mich auch selbst aufs Spiel zu setzen. Dann aber lässt mich weibliche Autorität über mich selbst hinauswachsen, öffnet mir ein Schlupfloch, das mich über die Grenzen der Welt, so wie ich sie bisher kannte, hinausführt.


Vortrag am 27.9.01 im Frauenzentrum »Hexenbleiche« in Alzey und (leicht verändert) am 22.4.04 im Frauenkultur e.V. Leipzig


  1. Andrea Günter,Die weibliche Seite der Politik, Königstein 2001, S. 24f.