Arbeit – Predigt in Stuttgart
Als Bibeltext habe ich eine recht bekannte Stelle aus dem Römerbrief ausgesucht, Kapitel 12, Verse 1 bis 8. Ich lese sie in einer Übersetzung, die sich im Wesentlichen auf die Einheitsübersetzung stützt, ergänzt durch die »Bibel in gerechter Sprache« und die Lutherübersetzung.
Paulus schreibt dort etwas über die Haltung, die Prinzipien, die Art und Weise wie Menschen füreinander tätig sind oder sein sollen. Ich zitiere:
»Angesichts des Erbarmen Gottes ermahne ich euch, meine Geschwister, euch selbst als lebendiges und heiliges Opfer darzubringen, das Gott gefällt. Das ist für euch der wahre und angemessene Gottesdienst. Gleicht euch nicht dieser Welt an, sondern wandelt euch und erneuert euer Denken, damit ihr prüfen und erkennen könnt, was der Wille Gottes ist: was Gott gefällt, was gut und vollkommen ist. Aufgrund der Gnade, die Gott mir geschenkt hat, sage ich jedem und jeder von euch: Überfordert euch nicht bei dem, wofür ihr euch einsetzt, achtet die Grenzen bei dem, was ihr vorhabt. Denn Gott hat jedem und jeder ein bestimmtes Maß an Kraft und Glauben zugeteilt. Denn wie wir an dem einen Leib viele Glieder haben, aber nicht alle Glieder denselben Dienst leisten, so sind wir, die vielen, ein Leib in Christus. Einzeln betrachtet sind wir Glieder, die für einander arbeiten. Wir haben jeweils unterschiedliche Gaben, die uns von Gott geschenkt wurden. Hat eine die Gabe prophetischer Rede, dann rede sie in Übereinstimmung mit dem Glauben. Hat einer die Gabe, für andere zu sorgen, dann sorge er für andere. Hat einer die Gabe zu lehren, dann lehre er. Hat eine die Gabe zum Trösten und Ermahnen, dann tröste und ermahne sie. Wer gibt, gebe ohne Hintergedanken, wer eine Leitungsaufgabe übernimmt, fülle sie mit Begeisterung aus, wer Barmherzigkeit übt, tue es freudig.«
Dieser Text wird normalerweise als Beschreibung der christlichen Gemeinde verstanden – das Bild von dem einen Leib und den vielen Gliedern ist ja sehr bekannt. Aber es ging Paulus hier nicht darum, die Grundlage für eine Kirchenstruktur zu definieren. Ausdrücklich schreibt er ja, dass es darum geht, bei dem, was man tut, sich an dem »Willen Gottes« zu orientieren, und der der Wille Gottes gilt ja für alle Menschen. Paulus beschäftigt hier die Frage nach einem Maßstab, nach einer Orientierung bei dem, was wir tun, in unserem alltäglichen Leben.
Die christlichen Gemeinden lebten in einer Umwelt, in der es soziale Ungerechtigkeiten gab, Herrschaft, Eigennutz, Missachtung der menschlichen Würde. In dieser Situation wollten sie eine Gemeinschaft bilden, die nach anderen Kriterien miteinander umging. Nach Gottgefälligeren Kriterien. Und dafür gibt Paulus hier Anregungen.
Daher auch seine Mahnung, sich nicht dieser Welt anzugleichen. Eine sehr aktuelle Mahnung ist das. Denn auch wir stehen schließlich alle oft unter dem Druck, uns anzugleichen, und die Maßstäbe dieser Welt für unser Handeln zu übernehmen. Gerade im Arbeitsleben. Da müssen Sachzwänge befolgt, da muss strategisch gedacht werden. Da kommt es nicht auf das an, was Gottes Wille ist, wenn man so will, sondern auf die Zahlen, die unten rauskommen.
Vor allem auf Frauen ist dieser Druck zur Anpassung groß, denn wir sind ja erst relativ kurze Zeit im Erwerbsarbeitsmarkt gleichgestellt. Es gibt eine regelrechte Flut von Ratgeberbüchern und Karrierekursen, bei denen wir lernen können, die Regeln, die dort gelten, einzuüben. Sonst, so sagt man uns, sind wir selbst daran schuld, wenn wir weniger verdienen und in den Führungsebenen so wenig vertreten sind.
Mir gefällt das nicht, und vielen anderen Frauen, mit denen ich spreche, auch nicht. und auch manche Männer sind unzufrieden. »Gleicht euch nicht dieser Welt an«, sagt Paulus, »sondern wandelt euch und erneuert euer Denken, damit ihr prüfen könnt, was Gottes Wille ist: was Gott gefällt, was gut und vollkommen ist.«
Was ist also gut und vollkommen? Paulus gibt in diesem Text einige sehr weitblickende Anregungen im Bezug auf das Arbeitsleben. Wenn ich das so sage, dann ist das natürlich in gewisser Weise anachronistisch. Denn das, was wir heute unter Arbeit verstehen, gab es zu Paulus’ Zeiten noch gar nicht.
Bei uns ist ja Arbeit so ziemlich das Wichtigste, der Dreh- und Angelpunkt unseres sozialen Systems. Arbeit, Arbeit, Arbeit tönt es in Wahlkämpfen, egal ob von rechts oder von links. »Arbeit« meint dabei Erwerbsarbeit, also formal geregelte, sozialversicherungs- oder Umsatzsteuerpflichtige Arbeit mit dem Zweck, Geld zu verdienen. »Gute Arbeit« wird das heute auch manchmal genannt, in Abgrenzung offenbar zur »schlechten« Arbeit, der ungesicherten, gering oder gar nicht bezahlten Arbeit. Um diese »gute Arbeit« herum haben wir alles organisiert, die Kranken- und Altenversorgung, die Position eines Menschen in der Gesellschaft, Status und Ansehen, materiellen Wohlstand.
Das war zu Paulus’ Zeiten ganz anders. In der Antike war »Arbeit« etwas, das man Sklavinnen und Sklaven überließ. Die Handwerker und Handwerkerinnen, die Dinge herstellten und verkauften, hießen in der griechischen Antike »Banausen«, es waren also Leute, die vor lauter Arbeit nicht zu dem kamen, was man für das eigentlich wichtige hielt, damals: zum Philosophieren und Politik treiben. Arbeit verschaffte Menschen weder Status, noch Ruhm, noch materiellen Wohlstand. Die sozialen Hierarchien verliefen vielmehr entlang von Erbe, Herkunft, Staatsbürgerschaft, aber nicht entlang von Arbeit und Leistung.
Die frühen christlichen Gemeinden, an die Paulus sich in seinen Briefen wandte, unternahmen in dieser Situation das merkwürdige Projekt, Menschen aus den verschiedenen Hierarchiestufen und sozialen Segmenten gemeinsam als eine Gemeinschaft zu verstehen – hier ist nicht Grieche noch Heide, nicht Sklave noch Herr, nicht Mann noch Frau, wie im Galaterbrief heißt.
In diesem Kontext muss man übrigens auch den heute oft verdreht zitierten Paulussatz: »Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen« verstehen. Er wird ja öfter einmal angeführt als Argument gegen sozialpolitische Vorschläge wie etwa ein bedingungsloses Grundeinkommen: Alle müssen arbeiten und Leistung erbringen. Aber Paulus richtet diesen Satz nicht an die »Faulen«, sondern an die Reichen, diejenigen, die damals gewohnt waren, andere für sich arbeiten zu lassen. In der christlichen Gemeinschaft, so Paulus, sollten dieser Hierarchien ja nicht gelten. Niemand kann sich hier also einfach bedienen lassen. Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen.
Auch heute gibt es wieder eine wachsende Gruppe von Menschen, die es für völlig normal halten, dass andere für sie arbeiten. Dass das Essen auf den Tisch kommt, das Büro geputzt ist, dass sie bei Krankheit gepflegt werden – ohne dass sie selbst eine entsprechende Gegenleistung bringen. Freilich haben sie von sich selbst durchaus die Ansicht, dass sie arbeiten. Aber welche Arbeit rechtfertigt ein Jahreseinkommen von mehreren Millionen Euro? Und auch prominent sein ist noch keine Arbeit, auch wenn sich damit heute viel Geld machen lässt.
Diese ungerechte Verteilung zwischen denen, die ungeheuer viel Geld haben, auch ohne etwas für die Gemeinschaft Sinnvolles zu arbeiten, und den anderen, die wichtige Arbeiten erledigen wie Putzen, Pflegen, Kochen, Erziehen, und die dafür kein oder nur sehr wenig Geld bekommen, wird ja längst von vielen kritisiert.
Aber es geht hier nicht um eine Frage des Geldes – wie gesagt, zu Paulus’ Zeiten hatte ja das Geld noch längst keine solche Bedeutung wie heute. Es geht um Arbeit, um die Frage, wie wir das, was für ein gutes Leben zu tun ist, sinnvoll untereinander aufteilen. Und da weist uns Paulus in diesem Text auf einen sehr wichtigen Punkt hin: Dass wir Menschen unterschiedlich sind. Ich lese diese Passage noch einmal vor:
»Überfordert euch nicht bei dem, wofür ihr euch einsetzt, achtet die Grenzen bei dem, was ihr vorhabt. Denn Gott hat jedem und jeder ein bestimmtes Maß an Kraft und Glauben zugeteilt. Wie wir an dem einen Leib viele Glieder haben, aber nicht alle Glieder denselben Dienst leisten, so sind wir, die vielen, ein Leib in Christus. Einzeln betrachtet sind wir Glieder, die für einander arbeiten. Wir haben jeweils unterschiedliche Gaben, die uns von Gott geschenkt wurden. Hat eine die Gabe prophetischer Rede, dann rede sie in Übereinstimmung mit dem Glauben. Hat einer die Gabe, für andere zu sorgen, dann sorge er für andere. Hat einer die Gabe zu lehren, dann lehre er. Hat eine die Gabe zum Trösten und Ermahnen, dann tröste und ermahne sie. Wer gibt, gebe ohne Hintergedanken, wer eine Leitungsaufgabe übernimmt, fülle sie mit Begeisterung aus, wer Barmherzigkeit übt, tue es freudig.«
Ich bin auf diese Bibelstelle hingewiesen worden von Antje Hinze, Pfarrerin für Frauenarbeit in Dresden. Sie schickte mir eine Predigt von Franz Wilhelm Dibelius, dem Dresdener Vizepräsident des lutherischen Landeskonsistoriums, der im Jahr 1912 diesen Bibelvers als Motto über einen Vortrag gestellt hat, in dem er die evangelischen Frauen zum »christlichen Frauendienst« aufrief.
Ich fand seine Predigt zwei Gründen sehr interessant. Und zwar erstens, weil auch Dibelius damals diese Paulusstelle nicht als Beschreibung der christlichen Gemeindestruktur verstand, sondern als Beschreibung, wie und aus welcher Grundhaltung heraus Menschen arbeiten sollen. Und zweitens, weil er diesen Text speziell als an Frauen gerichtet interpretierte. Damals, am Anfang des 20. Jahrhunderts also, war die Aufspaltung von Lebensbereichen und von Arbeiten in eine »weibliche« und eine »männliche« Sphäre noch weit verbreitet. Man stellte spezielle Kriterien auf für die eine, und andere für die andere Sphäre, es gab klare Männer- und klare Frauenarbeiten, die jeweils einer anderen Logik folgten.
Das ist ja bekannt und von der Frauenbewegung kritisiert worden. Heute sind sich im Prinzip alle einig, dass auch die Frauen Zugang zu den Arbeiten haben sollten, die damals noch den Männern vorbehalten waren. Aber interessant ist doch, dass damals ein Mann wie Dibelius, also ein konservativer Mann, der Auffassung war, dass die Mahnung von Paulus aus dem Römerbrief besonders gut die damals als »weiblich« geltende Art des Arbeitens beschreibt – und nicht die »männliche«. Ich glaube tatsächlich, es war ein Fehler, dass wir die Gleichberechtigung immer so verstanden haben, dass Frauen Zugang zu männlichen Bereichen bekommen und sich den Männern angleichen sollen. Ausgehend von Paulus und Dibelius würde ich sagen, es ist anders: Wenn, dann müssten wir überlegen, was wir von dem, wie Frauen früher, in patriarchalen, vorfeministischen Zeiten gearbeitet haben, lernen können.
Ich möchte mich dabei thematisch an Dibelius’ Auslegung dieser Paulusstelle orientieren. »Diene mit Barmherzigkeit, und tue es mit Lust«, hat er übersetzt, und ich fange mit dem dritten Punkt an, der Lust.
Dass die Freude an der Arbeit wichtig ist, ist ja wohl unmittelbar nachvollziehbar. Eine Arbeit, die mir Spaß macht, die mir Freude bereitet, die mache ich besser, als eine Arbeit, die mich langweilt, die mich über- oder unterfordert, zu der ich mich quälen und aufraffen muss. Da stehe ich gerne frühmorgens auf oder arbeite bis spät in die Nacht, für die bilde ich mich fort, für die engagiere ich mich auch über das vereinbarte Maß hinaus. Arbeit, die mir Freude macht, ist echte Lebenszeit, auch dann, wenn sie anstrengend ist oder schmutzig oder gefährlich oder in den Augen anderer nicht viel wert.
Dies alles ist so offensichtlich, dass es wirklich merkwürdig ist, wie selten die Freude, die Menschen an ihrer Arbeit haben, Gegenstand der Diskussionen ist. Dabei wird heute, in Zeiten zunehmender Arbeitslosigkeit, der Zusammenhang zwischen Arbeit und Freude immer offensichtlicher. Viele Menschen, die ihre Arbeit verlieren, verlieren damit oft auch ihre Lebensfreude.
Frauen ist dieser Zusammenhang bewusster als Männer. Jedenfalls legen deutlich mehr Frauen als Männer Wert darauf, dass ihre Arbeit ihnen sinnvoll erscheint, dass sie ihnen Spaß macht, dass sie sie mit Begeisterung ausfüllen. Sicher, nicht alle Frauen. Aber mehr Frauen als Männer sind skeptisch gegenüber Tätigkeiten, bei denen sie nur funktionieren, bei denen sie vielleicht Entscheidungen mittragen müssen, von denen sie nicht überzeugt sind oder die sie gar für falsch halten, bei denen sie viel Zeit in Sitzungen verbringen müssen, anstatt konkret etwas zu tun. Bislang bezahlen sie dafür einen hohen Preis – sie verdienen weniger und machen seltener Karriere. Trotzdem bin ich fest davon überzeugt, es wäre gut für uns alle und für die Welt (es wäre Gottes Wille, sozusagen), wenn auch Männer mehr Wert auf die Freude an der Arbeit legten – und nicht nur auf Geld und Status.
Ähnlich beim zweiten Punkt von Dibelius’ Predigt, der Barmherzigkeit. Dass Arbeit immer etwas mit der Sorge für andere zu tun hat, ist ja eigentlich evident. Menschen sind soziale Wesen, sie sind niemals autonom und unabhängig, sie können nur gemeinsam diese Welt bewohnen und bearbeiten. Dibelius sagt dazu folgendes: »Erbarmen heißt ‚auf den Schoß nehmen’. Ist das nicht herrlicher Frauendienst, weil unzweifelhaft köstliche Frauengabe? Tritt nicht das Bild deiner Mutter vor deine Seele, wie sie so oft und so lieb dich auf den Schoß genommen und dir damit allerschönste Stunden deiner Kindheit bereitet hat?«
Diese Herleitung der Barmherzigkeit aus dem mütterlichen Tun ist sehr treffend. Wohl kaum eine Tätigkeit kann so sinnvoll für die barmherzige Zuwendung zu den Bedürftigen stehen, wie die von Müttern zu ihren Kindern. Das Beispiel zeigt auch unmittelbar, dass wir alle auf diese Barmherzigkeit angewiesen sind. Nicht nur die Arbeitslosen, die Kinder, die Alten und Kranken. Wir alle sind Geborene, Töchter und Söhne von Müttern, und das heißt: ausgestattet mit dem Wissen, dass für uns gesorgt werden muss, und mit der Erfahrung, dass für uns gesorgt wird.
Doch auch hier hat die männliche Denktradition aus dieser grundlegenden menschlichen Tatsache eine quasi rein weibliche Angelegenheit gemacht, so als wären für diesen Aspekt der Sorge für andere allein die Frauen zuständig. Heute wird das zwar nicht mehr so gesagt, wir sind ja gleichberechtigt, und statt Mütter sprechen wir von Eltern und statt von Krankenschwestern von Pflegekräften. Aber faktisch wählen eben immer noch häufiger Frauen soziale Berufe, und sie übernehmen auch fast die ganze unbezahlte Arbeit, die direkt mit der Sorge für andere zu tun hat.
Ein Hauptpunkt frauenpolitische Forderungen ist hier, zu versuchen, auch Männer zu diesen Arbeiten zu motivieren, etwa mit den »Vätermonaten« beim Erziehungsgeld. Aber es geht hier nicht nur um die Frage, wer die Windeln wechselt, sondern darum, dass diese Aufteilung fatal ist.
Die Gegenüberstellung von »barmherziger« Fürsorgearbeit und »unbarmherziger«, also am Eigeninteresse ausgerichteter Erwerbsarbeit ist ein symbolischer Irrtum. Denn auch die Erwerbsarbeit ist wesentlich Arbeit für andere. Wenn Produkte und Dienstleistungen hergestellt werden, dann ja schließlich nur deshalb, weil man sie hinterher anderen verkaufen will. Der Unterschied zur direkten Fürsorgearbeit besteht lediglich darin, dass zwischen denen, die arbeiten, und die anderen, für die sie arbeiten, der Markt und das Gesetz geschaltet sind. Die Beziehung ist also nicht mehr eine direkte zwischen Menschen, sondern durch eine abstrakte Regelung vermittelt. Das ist natürlich bis zu einem gewissen Grad sinnvoll und erleichtert den Austausch. Allerdings besteht dabei auch die Gefahr, dass man die eigene Bedürftigkeit nicht mehr sieht und sich deshalb einreden kann, man wäre unabhängig. Wer »am Markt« eine einflussreiche Position hat, bildet sich leicht ein, als Person autonom, unabhängig und nicht auf andere angewiesen zu sein – eine Argumentationsfigur, die teilweise auch die Frauenbewegung übernommen hat, wenn sie Frauen ermutigt hat, »eigenes« Geld zu verdienen, um »unabhängig« zu werden.
Die anderen Menschen geraten umso leichter in Vergessenheit, je formaler und abstrakter der Markt und das Gesetz werden, die zwischen unseren Bedürfnissen und Arbeitsleistungen vermitteln. Dass dieser Abstraktionsgrad in Form unkontrollierter Finanzmärkte lebensbedrohliche Formen angenommen hat, dass er ineffizient und in höchstem Maße gefährlich für die Welt ist, ist inzwischen evident. Diejenigen, die Entscheidungen treffen, haben in diesem System keine direkte Beziehung mehr zu denen, die von diesen Entscheidungen betroffen sind. Das führt zu einer Mentalität, in der Einzelne sich auf Kosten anderer bereichern, und das ganz ohne schlechtes Gewissen, weil es sich innerhalb der Legalität abspielt und durch den »Erfolg«, als persönlichen Reichtum, gerechtfertigt ist. Doch wenn an der Börse riesige Geldsummen per Internet oder kurzes Telefonat verschoben werden, dann sind konkrete Menschen aus Fleisch und Blut betroffen: Sie verlieren ihre Arbeitsplätze, ihre Lebensgrundlagen oder ihre Gesundheit. Doch man kennt diese Menschen nicht, der Zusammenhang wird daher als nur theoretisch empfunden. Die Trennung zwischen Arbeit und Barmherzigkeit, also der Sorge für andere, ist hier geradezu perfekt: Die anderen sind keine realen Menschen, mit denen ich verhandeln, streiten, diskutieren und mich einigen muss, sondern sie begegnen nur in Form von Bilanzen und statistischen Zahlen, zu denen keine emotionale Bindung besteht.
Wenn wir heute über die Zukunft der Arbeitsgesellschaft und der Wirtschaft nachdenken, dann liegt deshalb eine der wichtigsten Herausforderungen darin, den Gedanken der Barmherzigkeit wieder darin zu integrieren, und zwar in allen Bereichen, auch dort, wo wir uns gewöhnt haben, nur noch in Zahlen und Statistiken zu denken.
Damit komme ich zum dritten Punkt, dem »Dienen«. Es bezeichnet gewissermaßen das Verhältnis, das eine Person zu ihrer eigenen Arbeit und dem Umfeld hat, in dem sie arbeitet. Welches ist meine Funktion und meine Aufgabe in meinem Beruf, in meinem Engagement? Wie sehe ich mich selbst?
Normalerweise wird diese Funktion in Form von Status bemessen: Die einen sind Chefs, die anderen sind Untergebene. Es gibt bestimmte Hierarchien, deren Bedeutung und Wichtigkeit bemessen wird am Einkommen, an Statussymbolen wie der Größe des Büros oder des Dienstwagens, an Entscheidungsbefugnissen, an der Frage, wie viele Leute jemand »unter sich hat«. Auf den ersten Blick reiht sich das Wort »dienen« nahtlos hier ein – es bezeichnet scheinbar einen untergeordneten Standpunkt in der Hierarchie.
Aber bedeutet das biblische »Diakonat« – wovon das Wort »dienen« abstammt – wirklich dies? Ich habe diese Stelle nach der »Bibel in gerechter Sprache« zitiert: »Wer eine Leitungsaufgabe übernimmt, fülle sie mit Begeisterung aus«. »Dienen« ist in Wahrheit »Leiten«. Das Diakonat war in den frühen christlichen Gemeinden eine Amtsbezeichnung: Diakoninnen und Diakone hatten offizielle Funktionen inne. Und der Sinn dieses Pauluswortes war, dass diejenigen, die ein solches Gemeindeamt übernahmen, dieses mit Begeisterung und Lust ausfüllen sollten.
Bei der Arbeit eine »dienende« Funktion zu haben, bedeutet also nicht eine untergeordnete Funktion innerhalb der Organisationshierarchie, sondern dass ich meine Person, meine Kräfte, meine Fähigkeiten und Möglichkeiten dem Anliegen der Arbeit, ihrem Sinn unterordne – und eben gerade nicht einfach irgendeinem Chef. Ich arbeite nicht, um etwas für mich selbst zu gewinnen, sei es nun Macht oder Status oder viel Geld, sondern ich arbeite, weil diese Arbeit getan werden muss, weil ich ihre Notwendigkeit und ihren Nutzen einsehe, weil da jemand ist, dessen Bedürfnisse befriedigt werden müssen, weil die Wohnung nun einmal schmutzig ist, weil es notwendig ist, dass jemand die Straße kehrt, das Brot backt, Zeitungsartikel schreibt oder die Geschichte erforscht.
Wenn ich arbeite, dann diene ich einer Sache – das heißt, es geht eben nicht darum, dass ich einfach nur Spaß habe, denn Arbeit ist nicht dasselbe, wie ein Hobby pflegen oder auf Bergen in Nepal herumzukraxeln (dies ist eine Versuchung, der mehr Männer als Frauen erliegen). Aber es geht auch nicht darum, einfach alle möglichen Ansprüche anderer Leute zu erfüllen, also um eine selbstaufopfernde Hingabe, die den Sinn des Ganzen nämlich ebenfalls aus den Augen verliert (dies ist eine Versuchung, der mehr Frauen als Männer erliegen).
Bei der Arbeit dienen heißt, Verantwortung für das Ganze zu übernehmen. In diesem Sinne »dienen« kann eine Sekretärin ebenso gut wie eine Managerin, eine Hausfrau ebenso gut wie eine Ingenieurin, eine Studentin ebenso gut wie eine Bankangestellte. Das Dienen als wesentlichen Aspekt von Arbeit zu sehen heißt, dass es keine Berufe ohne solche Verantwortung gibt. Jede und jeder muss in gewisser Weise »Leitungsfunktionen« übernehmen, und jeder Chef und jede Chefin, sei ihre Position auch noch so hoch und führend, muss sich den Notwendigkeiten und dem Ganzen »dienend« unterordnen, damit die Arbeit gut gelingt.
Zum Schluss möchte ich noch auf einen weiteren Punkt zu sprechen kommen, den weder Paulus noch Dibelius erwähnen, der aber dennoch für dieses Thema unverzichtbar ist: Das Geld. Unbedingt muss im Zusammenhang mit Arbeit auch über Geld nachgedacht werden.
In der alten dualistischen Zweiteilung des Patriarchats stand das Geld ganz klar auf Seiten der Männer. Die barmherzig-dienend-freudige Arbeit der Frauen war fast immer unbezahlt, heute ist sie, wenn überhaupt, dann schlecht bezahlt. Frauen neigen im Bezug auf die Arbeit häufiger als Männer dazu, das Geld für unwichtig zu halten. Das ist natürlich auch richtig, denn im Bezug auf den Sinn und die Wichtigkeit dessen, was ich tue, ist das Geld vollkommen zweitrangig. Ich bin deshalb auch dafür, dass wir Arbeit und Einkommen immer mehr voneinander trennen, etwa durch ein bedingungsloses Grundeinkommen. Wir arbeiten nicht, um Geld zu verdienen, sondern um etwas Wichtiges und notwendiges zu tun. Und auch diejenigen, die nicht arbeiten, brauchen Geld, um zu Überleben.
Aber was wir nicht übersehen dürfen, das ist, dass Geld als eine wichtige Form der Anerkennung heute ganz unmittelbare Auswirkungen auf die drei Pfeiler der Arbeit, die Liebe, die Barmherzigkeit, und das Dienen hat. Einer Kollegin von mir wurde zum Beispiel eine Leitungsstelle angeboten. Mit viel Freude und Engagement hat sie sich in die Arbeit gestürzt, Konzepte entwickelt, Ideen ausgebrütet. Sie hatte Lust auf diese Tätigkeit, glaubte, damit etwas Sinnvolles tun zu können. Doch dann stellte sich heraus, dass die Organisation in finanziellen Schwierigkeiten war und man ihr deshalb die zugesagte Gehaltserhöhung nicht geben könne. Und plötzlich war jede Lust und Freude weggewischt. Was war passiert? Es ist keineswegs so, dass meine Kollegin auf das Geld versessen oder angewiesen war. Aber sie fühlte sich – und zwar zu Recht – in ihrem Engagement nicht gewürdigt.
Genauso problematisch ist es, wenn Frauen, die innerhalb von Organisationen Ämter und Funktionen inne haben, ihre Fähigkeit zur »Sparsamkeit« einsetzen und sich und anderen eine angemessene Bezahlung vorenthalten, damit auch in Zeiten von finanziellen Kürzungen gute und notwendige Arbeit weiter gewährleistet ist. So wird es zuweilen gerade als Erfolg angesehen, wenn Referentinnen, Grafikerinnen oder andere Dienstleisterinnen »um der Sache willen« in ein niedrigeres Honorar einwilligen, weil die Veranstaltung oder die Broschüre sonst nicht oder nicht in optimaler Qualität realisiert werden könnte. Auf diese Weise fließt weiterhin viel weibliche Gratisarbeit in den Aufbau und Erhalt etablierter Institutionen, und zwar ohne dass sie als solche sichtbar ist.
Wir sollten uns hüten, aus dieser Sache eine moralische Angelegenheit zu machen. Denn auch, wenn Frauen bereit sind, auf Geld und angemessene Bezahlung zu verzichten, wird damit der vermeintliche Gegensatz von »nicht mit Geld aufzuwiegender« Arbeit und »rein profitorientierter« Arbeit aufrechterhalten. Nein, wir arbeiten nicht wegen des Geldes. Wir arbeiten auch nicht für den Status oder das Firmenauto oder das Gefühl der Macht. Sondern wir arbeiten, weil es uns Freude macht und weil die Arbeit sinnvoll und notwendig ist. Dazu gehört aber gleichzeitig , dass diese Arbeit auch gesellschaftlich gewürdigt wird. Auf den Punkt gebracht heißt das: Das Geld, das wir für die Arbeit bekommen, ist kein Schmerzensgeld. Aber wir wollen es trotzdem haben.
Welche konkreten politischen Maßnahmen aus all dem zu ziehen sind, ist politische Verhandlungssache. Man kann aus solchen alten Texten keine Argumentationen für oder gegen dieses oder jenes ableiten. Aber ich bin der Meinung, dass es doch ein sehr konkreter und nützlicher Denkhorizont ist, den Paulus uns hier vorgibt, und den Dibelius sehr gut verstanden hat. Beide mahnen uns – Paulus uns alle, Dibelius nur die Frauen, aber ich denke, wir wissen häute, dass die Männer eigentlich mitgemeint sind – dass wir unser alltägliches und unser politisches Handeln in einen größeren Horizont stellen.
Nicht Gewinne, nicht hohes Einkommen, nicht Status, nicht Wahlerfolge, nicht positive Medienresonanz sollen Maßstab für uns sein. »Wandelt euch und erneuert euer Denken, damit ihr prüfen und erkennen könnt, was der Wille Gottes ist: was Gott gefällt, was gut und vollkommen ist«, mahnt Paulus. Wobei der Ausdruck »Wille Gottes« heute von vielen Leuten nicht mehr verstanden wir, weil wir Religion ja nur noch für eine Privatsache halten.
Das heißt aber nicht, dass wir Christinnen und Christen nicht das, was damit gemeint ist, missionarisch in die Welt tragen können. Wenn ich mit Menschen diskutieren, die nicht religiös sind, spreche ich nicht vom »Willen Gottes«, womit sie ja nichts anfangen könnten, sondern ich suche andere Umschreibungen. Ein Leben in Fülle, ein gutes Leben für alle, das was richtig und gut wäre für die Welt.
Daran sollen wir Menschen unser Handeln ausrichten, wenn wir in all unserer Unterschiedlichkeit darüber nachdenken und diskutieren, wie wir die gegenseitige Abhängigkeit aller Menschen voneinander, also die Arbeit organisieren: Wir sollen, schreibt Paulus, Freude bei der Arbeit haben. Wir sollen niemals vergessen, dass wir alle bedürftig sind und daher auch anderen Menschen mit Barmherzigkeit begegnen. Wir sind unterschiedlich und können nicht einen gemeinsamen Maßstab an alle anlegen. Aber: Wir tragen allesamt, egal in welchem Beruf und in welcher Position Verantwortung für das Ganze.
Predigt in der Reihe Gotteskünderinnen, Stuttgart, Leonhardskirche, 9.11.2009