Ein Plus, kein Minus: neue Bilder von alten Frauen
Chancen des Demografischen Wandels
Ich bin vierzig Jahre alt, und als ich anfing, diesen Vortrag zu schreiben, dachte ich, das ist eigentlich ziemlich jung, um schon kluge Sachen über das Altwerden zu sagen. Aber dann las ich folgenden Abschnitt in einem Buch der US-amerikanischen Feministin Charlotte Gilman Perkins, die der Auffassung ist, man könne nicht früh genug damit anfangen, über das Altwerden nachzudenken. Im Jahr 1914 schrieb sie eine Art »Macchiavelli für Frauen«. Am Beispiel einer fiktiven Benigna Macchiavelli zeigt sie darin, wie Frauen ihr Leben selbst in die Hand nehmen und in Freiheit gestalten können. Dabei spielt das Altwerden eine wichtige Rolle. Uns zwar lässt sie ihre Benigna Macchiavelli als junge Frau folgendermaßen über ihr Altwerden nachdenken:
Ich werde mein Leben vom Ende her rückwärts planen, das heißt vom Alter: Was will ich um mich und hinter mir haben, wenn ich alt bin? Ich lehnte mich im Schaukelstuhl zurück, blickte hinaus auf die hohen Bäume, auf die weichen, wechselnden Schatten im Grase und grübelte über das Altwerden nach, sehr eingehend und tiefschürfend. Es gab im Städtchen viele alte Leute, über die man nachdenken konnte; ich kannte eine ganze Anzahl, meist Omas und Opas. Gesundheit war die Hauptsache. Immer fit blieben, damit man mit siebzig noch rosig und rüstig und munter ist – bestimmt ein vernünftiger Vorsatz. Und außer Gesundheit braucht jeder alte Mensch Geld. Wenn er keins hat, ist er nur der arme Verwandte und wird nicht für voll genommen. Ich werde mein eigenes Geld haben, beschloss ich, und zwar genügend, ganz gleich, ob ich verheiratet bin oder nicht. Und ein Heim, ein eigenes Zuhause, nicht nur als Wirtschafterin in anderer Leute Haus… Gesundheit, Geld, ein Zuhause – was noch? Freunde. Die sind beinahe das Allerwichtigste. Ich habe erlebt, wie alte Leute darüber jammern, dass sie keine Freunde mehr haben, dass die meisten ihrer alten Freunde nicht mehr da sind. Wenn man das hört, könnte man denken, Freunde bekäme man, wie Geschwister, nur einmal im Leben. Aber das wäre so, als könnte man auf einem Acker nur einmal säen und ernten. Ich habe vor, mir immer wieder neue Freunde zu pflanzen, wie Erbsen und Mais, so dass immer wieder welche nachwachsen. Gesundheit, Geld, Zuhause, Freunde. Eine eigene Familie? Da würde ich keine Pläne machen. Wenn sie kommt, dann kommt sie – ich plane zur Sicherheit mein Leben ohne sie. Es gibt immer einen bestimmten Prozentsatz unverheirateter Frauen – komisch, dass Mädchen das nie einkalkulieren.
Was weiter? Was für ein Typ einer alten Frau will ich werden? Vor allem wollte ich eine Frau von einer gewissen Bedeutung werden. Ein Plus, kein Minus. Nicht ständig nach irgend etwas jammern, mich nicht an andere Menschen hängen und über ihr Verhalten weder erfreut noch gekränkt oder enttäuscht sein. Eine Art »weise Frau« wollte ich werden – klug und praktisch. Eine Frau, zu der die Leute kommen, wenn sie Hilfe brauchen, und nicht enttäuscht werden. »Ach, da fragen wir einfach Benigna Machiavelli, die weiß schon, was da zu machen ist« – so ungefähr müssten die Leute von mir sprechen. Ich kannte natürlich manche liebenswürdige alte Damen, sogar sehr nette, aber die wussten nur Rezepte und Strickmuster und hatten ganz spezielle Ansichten über Säuglingspflege, doch vom wirklichen Leben hatten sie wenig Ahnung. Ich dagegen nahm mir vor, den Kreis meiner Erfahrungen so weit wie möglich zu ziehen und ihn immer mehr zu erweitern.
Dieser Abschnitt gefällt mir aus zweierlei Gründen gut. Erstens: Er ist ein Appell, realistisch zu sein. Da ist eine Frau, die ohne Schönfärberei, aber auch ohne Resignation oder Fatalismus darüber nachdenkt, wie sie einmal Altwerden will. Sie redet sich nicht ein, dass sie jung bleiben kann, und sie verlässt sich nicht darauf, dass später einmal andere, die eigenen Kinder oder der Staat oder sonst wer, schon für sie sorgen. Sie stellt sich der Realität und überlegt, wie sie sich zu ihr verhalten will.
Der zweite Grund, warum ich diesen Text wegweisend für unser Thema finde ist, dass darin auch genau die Stelle benannt wird, an der sich entscheidet, ob wir es im Alter gut oder schlecht haben: Es entscheidet sich nämlich an den Beziehungen, die wir haben, und auf die wiederum haben wir selbst einen großen Einfluss.
Das Thema Altwerden hat ja immer zwei Aspekte. Es hat einmal den subjektiven, persönlichen Aspekt, weil das Altwerden nämlich eine Erfahrung ist, die jeder Mensch macht. Auf der anderen Seite hat das Altwerden einen gesellschaftlichen Aspekt. Denn die Menschen leben in Form von Generationen zusammen. Wie Eltern und Kinder miteinander leben, welche Rechten und Pflichten ältere Menschen haben, all das sind zentrale gesellschaftliche Fragen. Davon, wie die Beziehungen der Generationen untereinander gestaltet sind, hängt ganz entscheidend die Art und Weise ab, in der eine Gesellschaft organisiert ist.
Aufgrund der demographischen Entwicklung, also der Tatsache, dass das Durchschnittsalter der Bevölkerung wächst, was natürlich sozialpolitische Veränderungen nach sich ziehen muss, ist derzeit viel von Alter und vom Verhältnis der Generationen die Rede. Allerdings werden in der öffentlichen Diskussion diese beiden Aspekte, der persönliche und der gesellschaftliche Aspekt des Altwerdens, meistens getrennt.
Auf der einen Seite gibt es Ratgeber, Hilfsangebote, Freizeiteinrichtungen und so weiter für alte Menschen. Diese Seite beschäftigt sich der Frage, wie die Einzelnen mit der Tatsache, dass sie älter werden, umgehen, wie sie diesen Lebensabschnitt individuell bewältigen. Und auf der anderen Seite gibt es eine sozialpolitische Debatte über das abstrakte Phänomen einer alternden Gesellschaft, die die alten wie die jungen Menschen als eine Masse mit statistischem Wert betrachtet und Zukunftsszenarien entwirft, bei denen man dann leicht den Eindruck hat, der »Entwicklung« ganz ausgeliefert zu sein.
Ich möchte diese beiden Aspekte gerne zusammenbinden. Denn das, was alte Menschen tun, wie sie leben und welche Werte sie vertreten, das hat Auswirkungen darauf, wie die Gesellschaft ist. Und gleiches gilt für die Art und Weise, wie Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit älteren Menschen umgehen. Wie also die Zugehörigen verschiedener Generationen ihre Beziehungen untereinander gestalten. Die Frage nach dem Altwerden ist nichts anderes, als eine Frage nach den Beziehungen zwischen Menschen unterschiedlichen Alters.
Was ist überhaupt ein alter Mensch? In der Soziologie werden verschiedene Modelle des Alters unterschieden: Da ist das kalendarische Alter, also die Anzahl der Lebensjahre – dies bestimmt zum Beispiel, wann wir den Führerschein machen dürfen oder in Rente gehen können. Dann das biologische Alter – es bestimmt, ob wir noch Kinder kriegen können, welche unserer Körperteile noch funktionieren und so weiter. Dann ist da das psychische Alter – es stellt die subjektive Seite dar: wie alt fühle ich mich, wie schätze ich selbst mich ein. Und schließlich das soziale Alter – das sich auf die sozialen Rollen bezieht: Gehöre ich schon zum »Alten Eisen« oder spiele ich noch eine aktive Rolle in meinem Umfeld?
Hinter all diesen Einteilungen und Definitionen des Alters steht die Ansicht eines geradlinigen Verlaufs von hier nach da. Die Jahre nehmen zu, der Körper funktioniert immer schlechter, ich fühle mich immer älter, ich habe in der Gesellschaft immer weniger zu sagen. Auch wenn die Phasen in den verschiedenen Altersmodellen zeitverschoben ablaufen, so laufen sie doch alle auf dasselbe hinaus: Nämlich auf den Tod. In unserem herkömmlichen Interpretationsschema – und erst recht im Alltagsbewusstsein – hat man oft den Eindruck, Alt werden heißt, vor allem, dem Tod näher zu kommen.
Ich halte das für eine problematische Sichtweise, denn sie misst das menschliche Leben an einer Norm, also dem »Durchschnittsleben«. Wenn Frauen heute durchschnittlich 80 Jahre leben, dann habe ich, Antje Schrupp, jetzt durchschnittlich noch die Hälfte meines Lebens vor mir. Das ist aber ziemlich egal. Kein konkretes, reales Leben orientiert sich an irgend einer Norm oder Wahrscheinlichkeit. Faktisch kann ich dem Tod viel näher sein, als meine 64-jährige Mutter. Ich weiß nicht, ob ich morgen unters Auto laufe oder nächstes Jahr ein Tumor bei mir diagnostiziert wird. Statistische Durchschnittswerte im Bezug auf die Lebenserwartung sind für das konkrete Leben einer Person ganz unerheblich. So manche 95-Jährige hat aufgrund dieser falschen Sichtweise, Alt sein bedeute, dem Tode nahe zu sein, die letzten 15 Jahre mit dem Warten aufs Sterben verbracht, ständig von der Idee begleitet, dieses Weihnachten oder jener Geburtstag könnten ihr letzter sein. Denn: Ist nicht 80 Jahre schon alt? Sicher ist es das. Aber der Tod kann trotzdem noch weit weg sein.
Was das Alter definiert, das ist nicht die Nähe zum Tod, sondern der Abstand zu den Neugeborenen. Je größer der Abstand ist zwischen mir und denen, die neu auf diese Welt kommen, desto älter bin ich. Und zwar ganz egal, wie alt oder jung ich mich fühle. Ganz egal, wie gesund oder krank ich bin. Und ganz egal, welche sozialen Rollenerwartungen ich erfülle oder nicht erfülle. Mein Alter ist für mich nicht verfügbar. Es ist unmöglich, »Jung« zu bleiben. Denn es sind die Neugeborenen, die uns alt machen – weil sie nämlich neu auf der Welt sind, während wir hier nicht mehr neu sind. Wir haben schon eine Geschichte hinter uns, wir sind schon geprägt von vielen Erlebnissen, wir können daran rückwirkend auch nichts mehr ändern. Alt werden macht sich nicht am Nachlassen der Kräfte fest, am nicht-mehr-Funktionieren des Körpers (das alles kann nämlich genauso jungen Menschen geschehen), sondern an der Tatsache, dass Altes nicht mehr Neu ist. Oder anders gesagt: Es sind die Jungen, die uns »alt« machen.
Mir wurde das klar vor etwa zehn Jahren, damals war ich also dreißig, und ich fühlte mich noch ausgesprochen jung. Ich lag in Brasilien am Strand, als ein junger Mann, er war vielleicht 17 oder 18, zu mir kam und mich fragte, ob ich Feuer hätte. Und die Anrede, die er dabei gebrauchte, war »Tante«. Dies ist ein Wort, das im Portugiesischen verwendet wird, wenn man eine Frau aus einer älteren Generation respektvoll anspricht. Ich war also eine Tante. Dieser junge Mann hatte mich in eine andere Generation verwiesen, obwohl ich mich doch ganz und gar noch jugendlich fühlte. Aber ich war keine Jugendliche mehr, sondern eine Tante. Und wie uns die Neffen zu Tanten machen, so machen uns die Kinder zu Müttern und später, wenn sie selbst Kinder haben, zu Omas – egal ob wir zustimmen oder nicht.
Und wenn ich mich aber doch noch jung fühle?
Wichtig ist dabei Folgendes: Zwar steht die Tatsache des Altwerdens fest. Es ist ein Unterschied, ob sich jemand noch an den Zweiten Weltkrieg erinnern kann oder an die DDR. Es ist ein Unterschied, ob ich mich zum ersten Mal verliebe oder zum zehnten Mal.
Was aber nicht feststeht ist, was das bedeutet: Darf eine Fünfzigjährige noch im Bikini am Strand liegen? Oder 80-jährige sich bunte Strähnen ins Haar flechten? Dürfen alte Leute HipHop hören? Natürlich! Wir sind in jedem Alter frei zu tun, was wir für richtig halten. Das Alter ist keine vorgegebene Rolle, in die man sich gegen den eigenen Willen fügen muss. Zwar gibt es zu jeder Zeit Rollenbilder, die gesellschaftlich für alte und junge Menschen vorgegeben werden, und diese Rollenbilder beeinflussen das, was die Einzelnen tun. Aber diese Rollenbilder sind ja kulturell ausgehandelt, sie hängen nicht automatisch von der Anzahl der Lebensjahre ab. Sie können sich ändern, und sie ändern sich ja auch jederzeit. Mit dem, was wir tun, tragen wir selbst laufend dazu bei, dass sie sich verändern und wie sie sich verändern. Und – der Frauenbewegung sei Dank – haben sich vor allem die Rollenbilder von älteren Frauen in den letzten dreißig Jahren ganz stark verändert.
Aber: Wenn zum Beispiel alte Menschen heute ganz andere Dinge tun, als alte Menschen vor fünfzig Jahren, wenn sie zum Beispiel bis ins hohe Alter Sport treiben, um fit zu bleiben, wenn sie nicht mehr bereit sind, in gleichem Umfang wie früher kostenlose Babysitter für ihre Enkel abzugeben, wenn sie Jeans tragen und keinen Dutt, wenn sie Hormone nehmen, die die Faltenbildung hinauszögern, wenn sie sich mit 70 noch mal neu verlieben oder ihr ganzes Leben umkrempeln – dann heißt das nicht etwa, dass sie jung bleiben. Es heißt bloß, dass sie eine neue Art und Weise erfinden, alt zu sein. Sie verändern das Altsein. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass sie alt sind.
Was in einer Gesellschaft jeweils für »alt« gilt, welche Bedeutung das Altsein hat, welche Rollenvorbilder es gibt, das ist nicht von der Natur oder vom lieben Gott oder sonst einer Instanz festgelegt. Sondern es wird von den Menschen aktiv gestaltet, die jeweils in einer Gesellschaft leben. Es verändert sich dauernd. So war zum Beispiel im 19. Jahrhundert das Alter etwas sehr Positives. Alt sein wurde gleichgesetzt mit erfahren sein, weise sein. Schon ganz junge Menschen, vor allem Männer, ließen sich Bärte wachsen und setzten sich Brillen auf und trugen »Alte-Leute-Kleidung«, um sich auf diese Weise Respekt zu verschaffen. Es gab sehr harte Regeln, die die Unterwerfung der jungen Menschen unter die Anweisung der Alten erzwangen, was überhaupt nicht gut war. Anfang des 20. Jahrhunderts dann erfolgte die Revolution der Jungen. So ist der Faschismus, vor allem in Italien, dezidiert als Jugendbewegung angetreten, Mussolini war einer der ersten Politiker, die ohne Bart und mit der Gestus der Jugendlichkeit regierte. Nun war die Parole andersrum: Alte Leute waren verknöchert, galten als rückwärtsgewandt und altmodisch. Von beidem haben sich Traditionen erhalten. »Alt« heißt oft »überholt, nicht mehr funktionstüchtig, zu nichts mehr nütze«. Es heißt aber auch »wertvoll, gut gereift, mit Tradition«.
Auch die Frage, wie viele Generationen es eigentlich gibt, ist eine, die nicht von selbst feststeht, sondern je nach Gesellschaft unterschiedlich geregelt werden kann. Bei uns gehen wir normalerweise von drei Generationen aus: Kindheit und Jugend, Erwachsen sein, und Alter – eine Aufteilung, die um die Erwerbsarbeit herum geregelt ist: Bevor ich in den Beruf eintrete (oder Frauen früher: heirateten), während der so genannten »aktiven« Phase, und danach im Ruhestand. Andere Gesellschaften, darunter viele matriarchale, kennen hingegen vier Lebensphasen, was mir auch viel plausibler erscheint: Erst die Kindheit, dann das junge Erwachsensein, in dem körperlich anstrengende Tätigkeiten ausgeübt werden, also zum Beispiel Kinder gebären oder Jagen, das spätere Erwachsensein nach den Wechseljahren, wo es um politische Führung, Bildung, Ratgeber sein, medizinische Versorgung geht, also Tätigkeiten, die mehr Klugheit und Erfahrung erfordern als körperliche Fitness, und schließlich das Ruhestands-Alter, wo die Kräfte für eine so aktive Rolle nicht mehr ausreichen.
Je nachdem, wie eine Gesellschaft die verschiedenen Generationen definiert und welche Rollen und Aufgaben sie mit dem Altsein verbinden, gestalten sich auch die Pflichten und Rechte der Menschen in der jeweiligen Lebensphase. Dafür gibt es einerseits Gesetze und feste Regeln, aber es gibt natürlich auch ungeschriebenen Erwartungsmuster, die die Beziehungen der Generationen zueinander prägen. Sie sind ständig im Fluss, müssen sich neuen Entwicklungen anpassen und verhandelt werden. Mit der Art und Weise, wie jeder einzelne Mensch konkret diese Beziehungen zu anderen Generationen lebt, beeinflussen wir alle das, was die jeweiligen Lebensphasen kulturell bedeuten. Sie gut gestalten zu können, erfordert Mühe und Aufmerksamkeit dafür, das ist nichts, was wir den Politikern überlassen können.
Konkrete Beziehungen zwischen Menschen verschiedener Generationen sind aber in unserer Gesellschaft leider ein ziemlich unbeackertes Feld. Wir sind alle sehr geprägt vom Ideal der Gleichheit, wonach es eigentlich nur Erwachsene oder aber demnächst Erwachsene gibt, die alle als gleich gelten, so als seien die Unterschiede der Generationen nur zufällige Nebensächlichkeiten. In Beziehungen ist es oft Tabu, Altersunterschiede zu thematisieren. Es soll keine Rolle spielen, zu welcher Generation jemand gehört, wir wollen alle gleich behandeln – manche ziehen sogar schon die Kinder in dieses Gleichheitsideal ein.
Das ist vermutlich eine Reaktion auf die schlechten Erfahrungen, die die westlichen Gesellschaften in den letzten zwei Jahrhunderten mit ihren starren Generationsvorstellungen gemacht haben: Weder das patriarchale 19. Jahrhundert, wo die Alten über die Jungen herrschten, noch das 20. Jahrhundert, das dem Jugendwahn frönte, sind sonderlich attraktiv.
Das Thema Liebe und Beziehung ist in unserer Kultur vollständig von der Paarbeziehung, von der heterosexuellen Beziehung zwischen Mann und Frau dominiert – in letzter Zeit sind da auch die homosexuellen Beziehungen zwischen Mann und Mann und zwischen Frau und Frau eingeschlossen, soweit sie sich ebenfalls an diesem Beziehungsmodell orientieren. Die »Beziehungsarbeit« der Frauen, die aus den alten, patriarchalen Rollenmustern in der Familie ausbrachen, hat weitreichende Veränderungen in der Gesellschaft bewirkt. Und der Weg, über den diese Veränderungen vonstatten gegangen sind, war es, dass Frauen Beziehungen gelöst haben, verändert haben, neue Beziehungen eingegangen sind. Das Verhältnis von Mann und Frau in der Ehe, in der sexuellen Begegnung, in der gemeinsamen Elternschaft wird heute nicht mehr als naturgegeben verstanden. Es gibt keine festen gesellschaftlichen Rollenmuster mehr, die festlegen, was jeweils in dieser Beziehung zu tun ist, wer für was zuständig ist und wer in welchen Dingen das Sagen hat. Sondern es ist klar geworden, dass die Beteiligten an einer Paarbeziehung darüber miteinander verhandeln, dass sie ihre Beziehung aktiv gestalten, und dass es an ihnen liegt, wie sie miteinander leben.
Ich glaube, wir brauchen eine ähnliche Aufmerksamkeit für die Beziehungsarbeit der Generationen, wir brauchen Beratungsstellen, Romane, Spielfilme, Seifenopern zu dem Thema. Wir brauchen Leute, die das erforschen, ganz besonders aber brauchen wir Menschen, die anfangen, dieses Thema ernst nehmen und damit experimetieren. Leider scheint aber im Bezug auf die Beziehungen der Generationen scheint dagegen immer noch die Vorstellung vorzuherrschen, als seien die Rollen und Verpflichtungen festgelegt. Als läge es nicht konkret an den Beteiligten selbst, wie sie ihre Beziehung zueinander gestalten, sondern als gäbe es dafür bestimmte Vorgaben und Richtlinien. Noch zu wenig ist im Bewusstsein, dass auch Beziehungen zwischen den Generationen aktiv gestaltet werden müssen, genau wie die Beziehung eines Paares.
Das Thema »Frauen setzen sich mit dem Altwerden« auseinander, bedeutet für mich deshalb, Beziehungen zu Menschen anderer Generationen zu führen, zu lösen, zu verändern, neu zu knüpfen. Dies ist die einzige Möglichkeit, das »Problem« der älter werdenden Gesellschaft zu lösen – das ich übrigens für kein Problem halte, problematisch ist lediglich die Unfähigkeit der offiziellen Politik, auf diese Herausforderung Antworten zu finden. Aber genau auf diese Weise wird dieses so genannte »Problem« auch gelöst werden: Die Menschen, die alten und die jungen, werden ihre Beziehungen untereinander neu regen, sie sind auch schon dabei, das zu tun. Und das wird die Gesellschaft ebenso verändern, wie die neuen Beziehungen zwischen Frauen und Männern die Gesellschaft verändert haben.
An dieser Stelle möchte ich noch einmal auf den Text von Charlotte Perkins Gilman zurückkommen, den ich ihnen am Anfang vorgelesen habe. Was ich daran so interessant finde, ist die Verantwortung, mit der diese fiktive junge Frau ihr Leben plant. Sie plant schon ein, dass sie einmal alt wird. Und sie übernimmt dabei die Verantwortung dafür, wir ihr Leben als alte Frau einmal aussehen wird. Besonders gut gefällt mir ihre Formulierung: »Ein Plus und kein Minus«. Dieses »Plus« beschreibt nämlich genau das, was eine Beziehung interessant macht: Eine Beziehung ist dann interessant, wenn sie zwei Menschen durch ein Begehren miteinander verbindet. Was zieht mich zu der anderen Person hin? Was macht sie reizvoll für mich? Was macht mich reizvoll für sie? Jede Beziehung, die nicht leere Pflichterfüllung sein will, muss für beide Seiten ein solches »Plus« beinhalten.
Dieses »Plus« ist aber nicht einfach so da. Menschen werden mit dem Alter nicht automatisch weise. Manche Leute werden mit dem Alter auch starrsinnig und besserwisserisch. Man ist nicht als junger Mensch automatisch innovativ und kreativ. Manche Jungen sind auch einfach nur dumm und besserwisserisch. Das Plus muss entdeckt werden. Und wir werden feststellen, dass nicht jede Beziehung so ein Plus für uns hat.
Welches »Plus« könnten denn ältere Frauen für jüngere Frauen haben? Charlotte Perkins Gilman hat schon gesagt: Erfahrung und Weisheit – wie gesagt, das kommt nicht automatisch, aber es kann sein. Noch einen anderen interessanten Hinweis habe ich bei der US-amerikanischen Literaturwissenschaftlerin und Schriftstellerin Carolyn Heilbrun gefunden:
Für die meisten Frauen bedeutet das Alter, meist mit Hilfe anderer Frauen, die Ankunft jener Freiheit, die die Männer schon immer hatten, die Frauen dagegen nie, und zwar vor allem die Freiheit, nicht länger die Bedürfnisse der anderen erfüllen zu müssen und nicht länger das Frausein repräsentieren zu müssen. Ich habe den Verdacht, dass, wenn wir alt werden, gerade die Privilegierteren von uns, diejenigen, die eine Rente haben und materiell abgesichert sind, Gefahr laufen, bewegungslos auf dem Punkt zu verharren, den wir mit der Rente erreicht haben. Dass wir uns mit der Rente von unseren täglichen Aufgaben verabschieden und zu viel Aufmerksamkeit den verkalkenden Arterien widmen. Ich glaube nicht, dass der Tod die Chance haben sollte, uns zu erwischen, wie wir es uns auf unseren Sofas bequem gemacht haben. Wir müssen vielmehr die Sicherheit und die Vorteile, die wir aufgrund unserer Position erreicht haben, nutzen, um Risiken einzugehen, um Krach zu schlagen, um mutig zu sein, um unbequem zu werden. Die alte Frau muss erst noch entdeckt werden hinter all den Masken, die ihr nach herkömmlicher Meinung das Recht vorenthalten, noch eine Frau genannt zu werden. Vielleicht ist sie dann zum ersten Mal wirklich eine Frau.
Gerade für die Befreiung der Frauen von herkömmlichen Rollenbildern sind die alten Frauen eine Chance, weil sie niemandem mehr beweisen müssen, dass sie eine »richtige Frau« sind – ein Problem, mit dem sich junge Frauen zu jeder Zeit herumgeschlagen haben und auch heute noch herum schlagen. Und genau deshalb können sie wirklich eine Frau sein, nämlich eine freie Frau.
Leider vermisse ich es, dass heute nach solchen Alten Ausschau gehalten wird. Dagegen habe ich manchmal den Eindruck, es ist im Bezug auf die Beziehung zwischen den Generationen geradezu verpönt, nach so einem Plus zu suchen. Da herrscht vielmehr so eine Art moralischer Imperativ vor, nach dem Motto: Die Jungen müssen sich um die Alten kümmern, ihnen zuhören, mit ihnen Zeit verbringen, ganz egal ob sie etwas davon haben, ob sie das wollen oder nicht. Das ist natürlich für beide Seiten eine unbefriedigende Situation. Viel dazu beigetragen hat auch das jüdisch-christliche Gebot: »Du sollst Vater und Mutter ehren«. Du sollst. Ob du willst, oder nicht. Ob diese konkrete Beziehung für dich ein Plus beinhaltet, oder nicht.
Diese moralische Auffassung der Generationenbeziehung hat schädliche Auswirkungen. Denn sie führt dazu, dass Beziehungen lustlos geführt werden, aus Pflichtbewusstsein, weil man glaubt, nicht anders zu können. Für die Gestaltung der konkreten Beziehung bringt man dann kaum noch Energie auf. Die Älteren pochen auf ihr moralisches Recht, weil sie glauben, sie haben einen Anspruch darauf, dass sich die Kinder um sie kümmern. Die Kinder haben ein schlechtes Gewissen und machen zähneknirschend das Nötigste. Aber die dahinter liegenden Konflikte werden nicht ausgetragen, die Differenz zwischen Jung und Alt nicht als bereichernd und interessant empfunden, nicht als ein Plus, sondern als ein Minus.
Ich würde das vierte Gebot anders interpretieren: »Du sollst Vater und Mutter ehren« das bedeutet für mich: Du sollst zu deiner Herkunft stehen, du sollst dir klar machen, dass du in ein Generationengefüge eingebunden bist, dass du eine Vorgeschichte hast, dass du nicht vom Himmel gefallen, sondern von einer Frau »zur Welt gebracht« wurdest und dass du dieser Herkunft etwas verdankst, was sich nicht verleugnen lässt. Oder anders gesagt: Ich muss meine Eltern nicht toll finden, um sie zu ehren. Ich muss nicht mit allem einverstanden sein, was sie tun oder getan haben, aber ich kann trotzdem anerkennen, dass sie meine Eltern sind und dass ich mein Leben ihnen verdanke. Ich kann sie ehren und lieben und trotzdem Konflikte mit ihnen austragen – mit offenem Ausgang.
Denn wie in jeder anderen Beziehung auch, gestalten sich auch die Beziehungen zwischen den Generationen erst in einem konkreten Fall. Jede Beziehung, in denen moralische Ansprüche oder aber Rollenvorstellungen die Überhand gewinnen, sodass für konkrete Verhandlungen kein Platz mehr ist, ist beengend. Die Jüngeren erwarten von den Älteren Verständnis, Hilfe und Rat, die Älteren von den Jüngeren Dankbarkeit und Beistand, wenn die Kräfte nachlassen. Diese Ansprüche sind auch völlig legitim. Aber was daraus konkret folgt, das steht nicht von vornherein fest, sondern es muss miteinander besprochen, ausgehandelt werden. Es lässt sich nicht erzwingen und auch nicht nach Plan herstellen.
Dabei geht es nicht um ein buntes Trallala, sondern unter Umständen um richtige Konflikte. Die dürfen nicht unter den Teppich gekehrt werden, wie das allzu oft geschieht, sondern sie müssen zugelassen, zur Sprache gebracht werden. Natürlich ist so etwas immer riskant, denn einen Konflikt auszusprechen und zu thematisieren, dahinter steht immer auch die Gefahr, dass dieser Konflikt sich vielleicht nicht lösen lässt. Was, wenn mein Sohn mich dann gar nicht mehr besuchen kommt? Möglich wäre das. Aber es gibt auch die Möglichkeit, einen solchen Konflikt zumindest mit sich selbst zu thematisieren, sich die Situation realistisch auszumalen und dann vielleicht die bewusste Entscheidung zu treffen, ein bestimmtes heikles Thema nicht anzusprechen.
Während wir inzwischen, der Frauenbewegung sei Dank, viel Erfahrung und Übung darin haben, die Differenzen der Geschlechter miteinander zu verhandeln und es bei Paarbeziehungen inzwischen als selbstverständlich gilt, dass beide geben und nehmen müssen, dass auch streiten dazu gehört, dass manche Beziehungen vielleicht auch nicht funktionieren und man sich trennen muss, so steht uns dieser Lernprozess im Bezug auf die Generationen erst noch bevor. Hier gibt es sehr häufig noch Erwartungshaltungen und Rollenbilder, die als selbstverständlich eingeklagt werden, statt dass man offen über das verhandelt, was man miteinander teilen möchte – und was vielleicht auch nicht. Verhandlungen, die man nicht nur mit der oder dem jeweils anderen führen muss, sondern auch mit sich selbst: Warum ist mir diese Beziehung wichtig und was bin ich bereit, dafür zu geben? Wo ist für mich der Punkt erreicht, dass ich mich trennen muss? Wo bin ich bereit, nachzugeben, damit die Beziehung nicht auseinander bricht?
Dass diese Konflikte, die in einer Differenzbeziehung unweigerlich auftauchen, im Verhältnis der Generationen noch zu selten offen ausgetragen werden, verursacht viel Leid. Ich kenne viele Menschen, die im Verhältnis zu ihren erwachsenen Kindern oder zu ihren alt werdenden Eltern nur noch oberflächlichen Kontakt haben, und keine wirkliche Beziehung führen können. Manche zerstreiten sich, lösen den Kontakt, leiden aber sehr darunter. Andere spiegeln eine Fassade vor, die gar nicht der Realität entspricht.
Ich glaube, hinter diesem moralischen Zeigefinger, mit dem die Beziehungen zwischen verschiedenen Generationen oft diskutiert werden, steht ein falsches Menschenbild. Denn als Begründung für diese moralische Pflicht der jungen gegen die Alten wird ja häufig deren Bedürftigkeit angeführt: Irgendjemand muss sich ja um sie kümmern, wenn sie sich nicht mehr selbst versorgen können.
Dabei wird aber so getan, als sei dies – die Bedürftigkeit am Anfang und am Ende unseres Lebens – ein Ausnahmefall, während der »Normalfall« das dazwischen liegende Erwachsensein ist, in dem autonome, unabhängige, voll funktionstüchtige Menschen völlig selbstständig für sich selbst sorgen. Die »normale« Beziehung zwischen Menschen ist nach diesem Modell die von gleichberechtigten, unabhängigen Partnern, die sich sozusagen auf gleicher Augenhöhe begegnen und miteinander in Beziehung treten, die für beide Seiten vorteilhaft ist.
Aber das stimmt ja nicht. Alle Menschen sind bedürftig, keiner, egal welchen Alters, kann auf sich allein gestellt überleben. Zu jedem Zeitpunkt unseres Lebens sind wir auf die Beziehungen zu anderen Menschen angewiesen. Es gehört zum Menschsein dazu, in ein »Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten« eingebunden zu sein. Menschen sind niemals unabhängig, sie sind immer und unweigerlich abhängig. Diese Abhängigkeit kann entweder über konkrete, persönliche Beziehungen organisiert sein, oder über abstrakte, unpersönliche Beziehungen, zum Beispiel, wenn ich meine Arbeitskraft oder meine Produkte auf einem »Markt« anbiete oder wenn ich gesetzlich zugesicherte Sozialleistungen in Anspruch nehme. Letzteres, die unpersönlichen Beziehungen, werden häufig als Unabhängigkeit interpretiert, sie sind es aber nicht. Sie sind nur eine andere Art von Abhängigkeit.
Dass Kinder oder sehr alte Menschen von anderen abhängig sind, weil sie sich nicht selbst versorgen können, ist daher kein Ausnahmefall, sondern ganz normal. Es trifft für alle Menschen zu. Diese Abhängigkeit bedeutet aber gerade nicht, dass man in eine Beziehung nichts an »Plus« einbringen kann. Die Tatsache meiner Abhängigkeit entbindet mich nicht von der Notwendigkeit, mir zu überlegen, was ich meinem Gegenüber, meinen Kindern, meinen Freundinnen, meinen Nachbarn als »Plus« anbieten könnte, sodass sie an einer Beziehung mit mir interessiert sind.
Das hat nichts mit Leistungsfähigkeit zu tun. Manche alte Menschen trauen sich selbst kaum noch etwas zu, weil sie merken, dass sie an vielen Punkten mit Jüngeren nicht mehr »mithalten« können. Und das stimmt natürlich. Ältere sind tendenziell langsamer, schaffen nicht mehr so viel, haben vielleicht Schwierigkeiten, bei neuen technischen Entwicklungen mitzuhalten. Andererseits machen sie manche Fehler vielleicht nicht mehr, weil sie sie früher schon hinter sich gebracht haben, sie sind nicht mehr so ehrgeizig und abhängig von Hierarchien, sie haben mehr Zeit und mehr Freiheit.
Eine solche Suche nach dem Plus hat auch nichts mit Nachgiebigkeit und Zurückstellen der eigenen Interessen, Anpassung an die Wünsche der anderen zu tun. Dem anderen keinen Anlass zu geben, dass er sich über mich ärgert, das allein ist bestimmt noch kein Plus.
Es kommt darauf an, ob wir eine Kultur haben, die die Unterschiede zwischen jungen und alten Menschen schätzt. Dazu müsste man sie überhaupt erst einmal sichtbar machen und aussprechen – vielleicht könnten wir neben einem allgemeinen Parlament, in das Menschen unabhängig von ihrem Alter hinein gewählt werden, die Politik begleitet, indem wir einen »Rat der Alten« berufen, die ihre jeweilige Sicht zu aktuellen politischen Themen formulieren und einbringen, nicht mit Entscheidungsbefugnis, aber als Ratgeber gewissermaßen? Es wäre ein öffentliches Zeichen dafür, dass die Erfahrungen von alten Menschen gebraucht werden, nicht nur von ihren Familien, sondern von der ganzen Gesellschaft! Ein unmittelbarer Vorteil wäre ja zum Beispiel der, dass Alte nicht mehr in den Institutionen und Strukturen eingebunden sind: Sie wollen »nichts mehr werden«, müssen nicht auf ihre Chefs oder Wähler oder Umsatzzahlen Rücksicht nehmen, sondern könnten viel freier auf die politischen Themen schauen. Und ein anderer Punkt ist natürlich, dass sie viel freie Zeit haben, weil sie nicht mehr im Erwerbsleben stehen.
Um in einer Beziehung ein »Plus« anbieten zu können, muss man nicht in eine allgemeine Konkurrenz um Leistung eintreten. Das »Plus« ist nämlich nichts, was sich objektiv messen lässt. In der Mailingliste Frauenkirche diskutierten wir kürzlich über das Thema Alter, und eine jüngere Frau schrieb da über ihre Großmutter: »Für mich ist sie eine weise Alte, für meine Mutter ein gewalttätiger Horror«. Ich weiß nicht, welche Geschichte diese drei Frauen miteinander haben, aber es brachte die Situation gut auf den Punkt. Es kommt auf die Beziehung an. Erst zwischen zwei Menschen entscheidet sich, wer wir jeweils sind – die eine für die andere.
Das heißt: Es kommt darauf an, ein Plus zu haben für die konkrete Person, mit der wir eine Beziehung wünschen: Was begehrt sie, was wünscht sie sich? Wo hat sie Fragen, auf die ich eine Antwort weiß? Wo ein Begehren, für das ich einen Weg ebnen kann? Was für die eine Tochter ein Plus ist (zum Beispiel die leckeren Kochrezepte von früher), kann der anderen Tochter völlig egal sein oder sogar ein Ärgernis (weil sie sich aus herkömmlichen Rollenmustern emanzipieren will). Die Frage ist also immer: Was ist mein Plus für die Person, mit der ich es gerade zu tun habe? Es ist wichtig, sich solche Fragen zu stellen, gerade auch als Ältere in einer Beziehung mit Jüngeren, anstatt sich zurückzulehnen und zu sagen: Weil ich alt bin, ist sie verpflichtet, sich um mich zu kümmern.
Wichtig in der Auseinandersetzung mit dem Altwerden – sowohl dem persönlichen, als auch dem gesellschaftlichen, was eben beides zusammen gehört – ist, die Entwicklungen und Umstände realistisch zu sehen, sich nicht von falscher Propaganda und Idealbildern blenden lassen. Selber zu denken, sich ein realistisches Urteil zu bilden. Wird wirklich mein Sohn oder meine Tochter später einmal zu mir ins Haus ziehen? Gibt es andere Wohnformen, über die ich mich informieren kann? Ist es vielleicht sinnvoll, mich mit Mitte sechzig schon mal auf die Suche nach einem Altenpflegeheim zu machen, das meinen Vorstellungen entspricht? Ist die Rente wirklich sicher? Welche finanziellen Möglichkeiten habe ich und wie plane ich realistisch meine Zukunft mit ihnen? Welche Interessen habe ich, denen ich einmal nachgehen werde, wenn ich nicht mehr berufstätig bin? Habe ich ein Netz von Freundinnen und Freunden, das mich wirklich trägt, wenn mein Ehemann oder meine Ehefrau vielleicht vor mir stirbt?
Auch das Alter ist eine Phase, die wir aktiv planen müssen. Das wird uns heute erst langsam klar. In früheren Generationen reichte die Lebensplanung meistens nur bis zur Rente. Wichtig war, zu entscheiden, welchen Beruf man ergreift und welche Karriere man macht und wie viele Kinder man hat und ob es gelingt, sie zu guten Menschen zu erziehen. Ist das geschafft, so eine der Versprechungen, die sich heute als falsch herausstellt, ist für die Zeit danach schon automatisch mitgesorgt. Nach der Rente und wenn die Kinder groß sind, ist nur noch ausruhen angesagt, die Ernte sozusagen, aber keine aktive Beteiligung mehr nötig. Das war früher schon nicht besonders klug gedacht, heute aber ist die Generationen übergreifende Großfamilie endgültig passé und die Erwerbsarbeit bzw. das Kinder aufziehen ist nicht mehr das Zentrum, um das das menschliche Leben kreist, sondern ein Mosaikstein neben anderen. Es ist also sinnlos, das Alter nur auf diese beiden Pfeiler stützen zu wollen.
Wie gesagt: Beim Planen des Alters kommt es vor allem darauf an, realistisch zu sein, und zum anderen darauf, die vorhandenen Chancen und Möglichkeiten zu nutzen. Natürlich ist das Alter eine schwierige Lebensphase. Denn es ist ja ein Fakt, dass die Kräfte nachlassen, dass alte Freunde sterben, dass die Dinge nicht mehr so leicht von der Hand gehen, das man nicht mehr so neugierig und begeisterungsfähig ist, wie früher. Es ist eine Tatsache, dass Altwerden viele negative Seiten hat.
Das Alter ist eine Lebensphase, die vermutlich sogar noch schwerer planbar ist, als andere. Aber das heißt nicht, dass man den Geschehnissen hilflos ausgeliefert ist und dass man alles hinnehmen muss, wie es kommt. Es gibt immer eine andere Möglichkeit, ich kann immer etwas tun. Und vor allem kann ich mich selbst jederzeit ändern. Ich muss meine Tochter nicht dauernd mit den Geschichten von früher nerven. Sie mögen mir wichtig sein, aber ich muss es akzeptieren, wenn sie das langweilt. Vielleicht findet sich ja eine Nachbarin in meinem Alter, mit der ich sie austauschen kann. Übrigens ein Tipp: Was Jüngere gerne von Älteren hören, insbesondere von ihren Eltern, ist Anerkennung. Vielen liegt etwas daran, ob ihre Eltern gut finden, was sie tun. Als der Regisseur Fatih Akin in diesem Jahr bei der Berlinale für seinen Film »Gegen die Wand« den goldenen Bären gewann, sagte er: »Der Preis ist toll. Noch besser ist: Meinen Eltern hat der Film gefallen«. Ich glaube, das ist keine Floskel. Auch wenn es die erwachsenen Kinder nicht immer sagen: Es ist ihnen wichtig, was die Eltern von dem halten, was sie tun.
Für das, was jemand im Alter tun kann, will, soll, gibt es keine allgemeinen Handlungsanweisungen. Es gibt kein richtig oder falsch, sondern gefragt ist die persönliche Verantwortung, die eigene Entscheidung. Was will ich tun? Wo liegt mein Begehren? Welche Möglichkeiten habe ich? Was bin ich bereit, zu verändern? Wo liegt meine Grenze?
Vor einem Jahr schockierte mich die Nachricht, dass Carolyn Heilbrun, von der ich vorhin sprach, Selbstmord begangen hat. Und zwar hat mich das deshalb schockiert, weil sie eine meiner Lieblingsautorinnen, ist, vor allem wegen ihrer wundervolle Krimis, die sie unter dem Pseudonym Amanda Cross geschrieben hat und von denen es nun keine neuen mehr geben wird. Carolyn Heilbrun war 77 Jahre alt, bei voller körperlicher und geistiger Gesundheit. Sie war nicht depressiv, sie war nicht einsam, sie war sehr aktiv, eine bewunderte und gefragte Intellektuelle. Aber sie hat sich entschieden, nicht mehr leben zu wollen. Dabei hat sie sich übrigens auf den Psalm (90.10) berufen, indem es heißt: Das Leben der Menschen dauert 70 Jahre, wenn es hoch kommt, 80. Es war die Entscheidung einer freien Frau, die selbst bestimmen wollte, wann ihr Leben zu Ende ist.
Auf der anderen Seite kenne ich eine alte Frau aus unserem Dorf, die sich lange gegen ihren Tod gewehrt hat. Sie war schon sehr alt, sehr krank, hatte seit über zehn Jahren ihr Zimmer nicht mehr verlassen können. Trotzdem war sie nicht bereit, zu sterben.
Das sind natürlich sehr extreme Beispiele dafür, aber sie zeigen: Was auch immer geschieht, wir selbst spielen eine aktive Rolle dabei. Wir können nicht alles tun, was wir wollen – das können wir nie, die Jungen vergessen das manchmal – aber irgend etwas können wir immer tun. In jeder Situation gibt es Handlungsspielraum.
Die italienische Philosophinnengemeinschaft Diotima hat sich vor einiger Zeit mit einem Thema beschäftigt, dass sie »Umgang mit dem Negativen« nannte. Und ihre Ideen finde ich auch sehr hilfreich im Umgang mit dem Alter, das eben in vielerlei Hinsicht etwas Negatives ist. Sie haben ein Modell entwickelt, in einer negativen Situation zu handeln, auch wenn ich nicht die Kontrolle über die Dinge habe und ihren Gang nicht instrumentell so lenken kann, wie er mir passt.
Sie sagen, der Umgang mit dem Negativen ist wie ein Spiel, bei dem man immer nur den nächsten Zug überschauen kann. Ich weiß nicht, wie es am Ende ausgeht, aber ich kann immer auf den aktuellen Zug meines Gegners reagieren. Ich kann nicht dagegen angehen, ich kann das Alter nicht verleugnen, nicht verdrängen und auch nicht besiegen. Aber das heißt nicht, dass ich untätig sein muss. Irgendetwas passiert, ich werde krank, mein Ehepartner stirbt, ich verliere die Lust an Dingen, die mir früher Spaß gemacht werden, mein Gedächtnis lässt nach. Wenn mein Gegner – also das Alter, die Krankheit – einen solchen Zug macht, dann kann ich mir überlegen, was ich nun tun möchte. Welches mein Spielzug sein wird: Ich finde eine Möglichkeit, mit der neuen Situation zu leben. Ich beginne eine neue Therapie, ich versuche, neue Freunde zu finden, ich überlege mir ein System von Spickzetteln, was auch immer. Ich gehe nicht direkt gegen das Negative an, denn der Gegner ist stärker als mich. Ich versuche nicht, meine Vergesslichkeit zu vertuschen oder so zu tun, als könnte ich mich siebzig körperlich noch genauso fit sein, wie ich es mit fünfzig war. Ich hadere nicht mit meinem Schicksal an Punkten, die sich nun einmal nicht ändern lassen. Ich male mir nicht aus, wie schrecklich bestimmt die nächsten 20 Spielzüge meines Gegners sein werden, sondern ich konzentriere mich auf den, der mich jetzt heruasfordert. Statt mit dem Kopf gegen die Wand zu rennen, dem Unvermeidlichen Widerstand entgegen zu setzen, trete ich einen Schritt zur Seite. Vielleicht auch einen Schritt zurück.
Ein Schritt zur Seite, ein Schritt zurück eröffnet mir neue Möglichkeiten für neue Spielzüge. Vielleicht für solche, auf die ich ohne die Bedrängnis durch meinen Gegner, in diesem Fall das Alter, gar nicht gekommen wäre. Ich mache meinen Zug, und dann warte ich ab, was die Gegenseite tun wird. So spielen wir Zug um Zug das Spiel des Lebens. Und irgendwann sind wir vielleicht sogar neugierig darauf, was dem Gegner nun wieder einfallen wird. Wichtig ist nicht, dass wir gewinnen. Sondern dass wir im Spiel bleiben. Dass wir unsere Handlungsspielräume, die wir immer haben, realistisch einschätzen, die Möglichkeiten abwägen, und dann unseren nächsten Schritt tun. Dieser unser nächster Schritt ist niemals festgelegt. Wir sind niemals gezwungen, etwas Bestimmtes zu tun. Es gibt immer auch eine andere Möglichkeit. Was die Zukunft bringt, das weiß nur Gott. Uns Menschen ist die Zukunft nicht verfügbar, niemand weiß, wohin der nächste Spielzug uns führt. Das haben alle Generationen gemeinsam, und das macht das Spiel des Lebens ja so interessant. Und deshalb sollte uns nichts davon abhalten, uns weiterhin daran zu beteiligen. Egal, wie alt wir sind.
- Vortrag am 7.11.2004 im Ev. Kirchenkreis Ottweiler/Saarland - beim Frauenforum Herford am 31.5.2007 - bei den Labyrinthwochen in Wetzlar am 1.7.2007